Käse aus dem Off

Käseforschung ist kein Spaziergang, kein Kinderspiel, all die Testreihen, Nächte und Wochenenden, die man im Labor verbringt, brütend über Chromatografie-Resultaten, Protease-Sequenzen, Peptid-Formationen, Kefir-Kulturen; aber nach drei Jahren hatten sie ein Ergebnis, und sie veröffentlichten es im „Oxford Journal of Archaeology“, was für einen Biochemiker fast schon ein bisschen unter seiner Würde ist.

Dann kam die Mail, der Triumph.

Die Redaktion der Zeitschrift „Nature“ teilte mit, die Resultate aus Dresden seien als „Highlight“ für die nächste Nummer vorgesehen; mehr Anerkennung war kaum denkbar. Sie hatten einen Käse erforscht. Ein Sturm von Anfragen brach über sie herein.

„Also – am Ende steht Sieg“, sagt Andrej Shevchenko. Er sitzt in seinem Büro, Max-Planck-Institut, Dresden, Zimmer 139/Nord, er kratzt sich den Bizeps, wackelt mit den Zehen. Seine Straßenschuhe stehen unter dem Tisch, während der Arbeit trägt er Birkenstock-Sandalen, ein formloses T-Shirt, Dreitagebart. Geboren ist er im damaligen Leningrad, seit 1996 lebt er in Deutschland. In einem staubigen Regal eine Urkunde: Preis der „Deutschen Gesellschaft für Massenspektrometrie“.

Auf dem Weg zu ihm geht man vorbei an lichtdurchfluteten Labors, die mit piependen, rauschenden, tuckernden, summenden Geräten ausgestattet sind, wo seine Leute an Proben von Fruchtfliegen, Spulwürmern, Maden arbeiten; Shevchenko holt einen Stuhl für seine Frau Anna, sie arbeitet auch hier. Er ist bärig-brummig, sie klein, schmal, lebhaft.

Die beiden kennen sich aus Russland, vor 26 Jahren haben sie sich in einem Labor ineinander verliebt, wo sonst. Sie haben zwei Kinder, außerdem die Angewohnheit, sich gegenseitig ins Wort zu fallen, vor allem aber haben sie eine Leidenschaft – die Proteinanalyse. Was immer das sein mag.

„Was ist Proteinanalyse? Wichtige Frage! Proteine werden untersucht mittels Massenspektrometrie“, sagt er.

„Du erklärst nicht gut“, sagt sie.

„Bitte, dann du“, er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Man kann sagen, Proteinanalyse ist Abenteuer“, sagt sie und lächelt.

Das Abenteuer begann, als sich 2011 ein chinesischer Archäologe namens Dr. Yang Yimin meldete. Ob sie den Halsschmuck der „Schönen von Xiaohe“ entschlüsseln könnten?

Bei der „Schönen“ handelt es sich um eine 4000 Jahre alte, mumifizierte Frau aus der Wüstenregion im Westen Chinas. Um ihren Hals fanden die Archäologen kleine, braune Bröckchen. Eine Kette? Ein magisches Irgendwas? Menschenfleisch? Wie lebten diese Leute? Woran glaubten sie? Yang hatte viele Fragen, große Fragen.

Die Shevchenkos hingegen bewegen sich in der Welt der sehr kleinen Zusammenhänge. Sie finden: Gott ist in den Details.

Wäre eine Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, so groß wie ein Passagierflugzeug, wäre ein durchschnittliches Bakterium im Vergleich dazu ein Tennisball. Dieses tennisballgroße Bakterium bestünde auch aus Proteinen, Eiweiß-Bausteinen. Würde man sich nun ein Bakterium von der Größe eines Hochhauses denken, dann wäre ein mittleres Protein so groß wie ein Streichholzkopf. Das sind die Größenverhältnisse, in denen die Shevchenkos unterwegs sind.

Mit Massenspektrometrie bestimmt man die Masse eines Moleküls. Allerdings nicht, indem man es wiegt. Sondern indem man das Molekül spaltet, es in Bewegung versetzt, zum „Fliegen“ bringt. Das geschieht, indem man die Molekülteile ionisiert, elektrisch lädt. Vom „Flugverhalten“ lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Beschaffenheit der Substanz, Kohlenstoff oder Eiweiß, Salz oder Fett.

Zunächst reinigten die Shevchenkos die Bröckchen, indem sie Fette und Salze auskämmten. Dann spalteten und ionisierten sie die Proteine, verglichen sie in einer Datenbank von 35 Millionen anderer Substanzen. Bis sie sicher waren: Bei den Bröckchen handelt es sich um Käse. Aber was für Käse? Immer neue Vergleichsmessungen. Immer neue Labordaten.

Die Geschichte der erforschten Käseklümpchen müsste eigentlich in Schulbüchern nachgedruckt werden – als Beispiel, wie Naturwissenschaft funktioniert, als Lehrstück, wie Neugier, Intelligenz, Sturheit und Akribie zu einem Resultat führen können. Einerseits sinnlos, andererseits großartig.

Am Ende wussten sie, dass die Bröckchen vor 4000 Jahren eine Art Kefir-Käse gewesen waren, wahrscheinlich eine Grabbeigabe, Wegzehrung für die letzte Reise. Die Archäologen, Yang und seine Kollegen, waren sehr aufgeregt. Was bedeutet es, wenn man Käse als Grabbeigabe verwendet? Waren diese Menschen womöglich die Ahnen der heutigen Chinesen? Waren sie eine frühe Hochkultur?

Die Shevchenkos beteiligten sich nicht an diesen Spekulationen. Ihr Job war es gewesen, ein Rätsel zu lösen, eine präzise Antwort zu geben. Erledigt. Sie arbeiten am nächsten Projekt: 4000 Jahre altes Lampenöl. Woraus es gewonnen wurde. In ein paar Jahren wissen sie mehr.

Oder gefressen werden

Am 24. August dieses Jahres, gegen halb zehn Uhr morgens, ging Kamla Devi zu ihrem bevorzugten Waschplatz am Koti-Fluss. Sie wollte später noch auf dem Feld arbeiten; also trug sie neben ihrem Wäschekorb eine Tasche, in der sie Schaufel und Sichel verstaut hatte.

Sie hatte den Sari und die Hemden gerade eingeweicht, als sie links hinter sich eine Bewegung wahrnahm, ein tiefes Knurren hörte. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte.

Kamla Devi wurde hier geboren, wuchs hier auf – im Bergdorf Kiroda im Bezirk Rudraprayag, Nordindien, am südlichen Saum des Himalaja. Etwa 200 Familien wohnen im Dorf, die meisten leben von dem, was ihre Felder hergeben. Die Wildnis beginnt dahinter, der Wald, Heimat des Schwarzbären, der Wolfsschlange, des Rhesusaffen – und Jagdrevier des Guldar, des Getüpfelten, wie die Leute ihn hier nennen, Panthera pardus, den Leoparden. Körperlänge: bis zu 195 Zentimetern. Länge der Krallen: etwa 6 Zentimeter.

 

Kamla Devi fuhr herum. Der Leopard war etwa drei Meter von ihr entfernt, er presste sich an die Erde, fixierte sie. Der Schweif zuckte, schlug, daran erinnert sie sich. Das Tier kroch näher, noch näher, kroch ganz langsam auf sie zu, bereit, sofort zu springen, seine geballte Kraft zu entladen. Kamla Devi ließ das Tier nicht aus den Augen, tastete vorsichtig nach ihrer Umhängetasche, die am Ufer lag.

In ihrer Jugend, erzählen Nachbarn, sei Kamla ein lustiges Mädchen gewesen, das gern lachte, sogar Vogelstimmen nachmachen konnte. Sie heiratete früh, ihr Mann war wesentlich älter als sie, er starb vor beinahe 30 Jahren; sie war damals erst Mitte zwanzig. Sie hatten nur ein Kind, einen Sohn, Dinesh Singh, der inzwischen in der Stadt lebt.

Kamla durfte weiterhin in dem Haus, das ihrem Mann und seinen sechs Brüdern gehört hatte, wohnen, sie konnte dort Dinesh aufziehen. Nur ihren Unterhalt musste sie selbst verdienen. Sie bekam als Erbe drei Gunta Land, etwa 300 Quadratmeter, darauf baut sie Kartoffeln, Bohnen, Weizen an; und sie hat zwei Milchkühe, deren Milch sie verkauft oder zu Joghurt und Käse verarbeitet. Die Kühe brauchen viel Futter: Kamla Devi verlässt darum nie ihr Haus ohne ihre Sichel, ohne ein Seil – überall schneidet sie Gras und Grünzeug und trägt es, zu Büscheln gebunden, heim.

Leoparden lauern entweder ihrer Beute auf, von einem Versteck aus; oder sie pirschen sich von hinten an. Im Vergleich zu einem Reh oder Hirsch, einem relativ häufigen Beutetier, sind Leoparden zwar auf den ersten zwei, drei Metern sehr schnell, aber schon auf mittlere Distanz unterlegen. Sie müssen vor ihrem Angriff also so nah wie möglich kommen – falls das Beutetier davonsprintet. Was der Leopard nicht zu wissen schien: dass Kamla Devi nur ein Mensch war, eine kleine, abgearbeitete Frau von 54 Jahren, und dass Kamla Devi gar nicht hätte davonspringen können, beim besten Willen nicht. Dass sie gezwungen war zu kämpfen.

Inzwischen hielt sie Sichel und Schaufel gepackt. Keine Sekunde zu früh. Der Leopard sprang.

Er sprang, er flog auf sie zu, die vorderen Tatzen gestreckt, die Krallen ausgefahren. Kamla Devi schlug zu, mit beiden Händen, das Sichelblatt sauste durch die Luft. Sie traf eine der vorderen Tatzen. Wütendes Fauchen. Sie fiel nach hinten, rappelte sich schnell wieder auf, der Leopard war vor ihr gelandet, sie blutete, aber das Tier hatte den Biss in ihren Hals, der tödlich hätte sein können, nicht anbringen können.

Kamla Devi hat ein hartes Leben hinter sich. Sie habe in letzter Zeit müde gewirkt, erzählen Nachbarn, sagen Freunde, vielleicht habe sie das Alter gespürt, das Nahen des Todes, um im Sterben ihre Seele, das Atman, an den Schöpfer Brahma zurückzugeben, um, wie die Hindus glauben, in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden.

Doch im Angesicht des Leoparden entbrannte in ihr ein starker Lebenswille, so erzählt sie es. Als ob das Leben selbst sich wehren würde, vor die Wahl gestellt: kämpfen oder gefressen werden. Sie wollte nicht Futter sein.

So entbrannte am Waschplatz ein Kampf, ruppig, tödlich, ein Kampf, den man sich, auch nach Schilderungen von Kamla Devi, die sich genau erinnert, nur in Umrissen vorstellen kann.

Der Leopard umkreiste sie. Wartete auf seine Chance, startete immer wieder Angriffe, Scheinangriffe oder echte Attacken, vor allem auf Gesicht und Kopf, Tatzenschläge, mit einer oder beiden Tatzen, Schläge, die Kamla abwehrte, mit Sichel und Schaufel. Blut lief ihr in die Augen. Die Tatzenschläge trafen sie auf Arme und Hände, wie Stockhiebe, brachen ihr die Finger, die Unterarme, rissen ihr die Haut ab. Aber sie traf den Leoparden ebenfalls, sie zielte mit der Sichel vor allem auf die Augen, traf das Maul, den Schädel, traf die Vorderläufe. Minute um Minute. Kamla Devi: eine kleine, magere, früh gealterte, tapfere Bäuerin. Zäh, sehnig zwar, aber doch nur ein Mensch.

Der Kampf dauerte etwa eine halbe Stunde. Irgendwann ließ das Tier von ihr ab. Beide waren schwer verletzt, kraftlos. Dorfbewohner fanden den Leoparden noch am selben Tag unweit des Waschplatzes tot auf einem Felsen, wahrscheinlich hatte Kamla eine Arterie getroffen, wahrscheinlich war das Tier verblutet. Kamla Devi schleppte sich ins Dorf, man brachte sie ins Srinagar Medical College. Ihre Hände und Arme wurden gegipst, ihre Kopfhaut mit 50 Stichen von Dr. Panshul Jugran genäht.

Man feierte sie als Heldin. Von der Regierung wurden ihr 5000 Rupien versprochen, 64 Euro. Sie wartet noch auf das Geld, aber das sei nicht wichtig, erzählt sie. Und was ist wichtig? „Dass ich lebe“, sagt sie.

Der Zahlenflüsterer

Plötzlich ist er verschwunden, obwohl er noch am Tisch sitzt, aber er hat sich aufgelöst in einer Welt dekadischer Logarithmen und 40-stelliger Primzahlen. Sein Mund ist verzerrt. Die Augenlider flattern, er streckt den Zeigefinger, malt Zahlen in die Luft, unsichtbare, nur er kann sie sehen, und dann schnipst er sie nach links und dividiert und flüstert mit ihnen, die Zahlen scheinen zu gehorchen – ihm und seinem Zeigefinger, der beinahe so weiß ist wie die gefaltete Serviette auf dem Tisch des Steakrestaurants.

Das Wesen der Wirklichkeit ist die Zahl, sagten die Pythagoräer.

Es ist früh am Nachmittag. Im „Maredo“ in der Bonner Innenstadt ist der mittägliche Ansturm vorüber. Die Luft ist dick von Rauch und Essensgeruch. Zwei Tische weiter sitzt ein Pärchen beim Kaffee, die Frau stupst ihren Begleiter, nun schauen sie beide herüber, auch die Kellnerin ist stehen geblieben, wischt sich die Hände ab und starrt her.

Was kritzelt er da in die Luft, dieser unrasierte Mann? Und was murmelt er?

„Ähem, schauen Sie bitte – die Vier und die Eins als Anfangsziffern einer sehr großen Zahl liefern uns vorzügliche Anhaltspunkte, dass die Lösungszahl zwischen 45 975 000 und 46 060 000 liegt – das ist schon mal ausgezeichnet, jetzt allerdings bitte ich um Aufmerksamkeit, nun wird es ein bisschen unübersichtlich …“

Und rechnet weiter.

Und stimmt, es wird unübersichtlich.

Der Mann im Steakrestaurant heißt Gert Mittring. Er ist 38 Jahre alt, studierter Informatiker, zwei Doktortitel, gemessener IQ von 145, geschätzter IQ: 170, wahrscheinlich ein Genie. Mitglied der Bach-Gesellschaft sowie im „Klub Langer Menschen“. Er ist 1,90 Meter groß, hat einen eingetrockneten Saucenfleck auf der Krawatte und eine Mission.

Er will uns zum Denken bringen.

Und so stand Mittring am Vormittag des 23. November 2004 um elf Uhr auf, putzte sich die Zähne und frühstückte: eine Tafel Schokolade. Dann zog er sich an und verließ seine kleine Wohnung am Bonner Adenauer-Platz, wo er am Abend zuvor noch lange Bach gelesen hatte – um Musik zu hören, leiht er sich Partituren aus und liest sie. Er stieg in seinen roten Citroën und fuhr gen Gießen.

Wo man ihn erwartete. Wo er einen Weltrekord aufstellen sollte.

Albrecht Beutelspacher, Gießener Geometriepro-fessor, ist ein umtriebiger Mensch. Er schreibt Kolumnen, er hat in Gießen ein Mathematik-Museum gegründet, und er veranstaltet dort populäre Rechenshows.

Um 18 Uhr betritt Mittring also die kleine Bühne im Hörsaal 1. Rotes Sofa, Flasche Wasser, Kameras, ein Laptop ist eingestöpselt. 170 Zuschauer. Man nimmt Platz. Mittring und Beutelspacher machen Small Talk, magische Quadrate, punktsymmetrische Strukturen – worüber Mathematiker halt plaudern.

Um 18.30 Uhr setzt Mittring sich um, Rücken zum Publikum, Gesicht zur Leinwand. Der Laptop wird gestartet, sein Zufallsprogramm wird gleich eine hundertstellige Zahl ermitteln und auf die Leinwand projizieren. Mittrings Job: die 13. Wurzel ziehen*. Jene Zahl also, die, zwölfmal mit sich selbst multipliziert, die projizierte Zahl ergibt. Und bitte im Kopf.

Bereit? Mittring nickt. Es erscheint:

7066437381674286102234008830240157375704233170702632731269721516000 395709065419973141914549389684111.

Im Publikum atmen Leute scharf aus.

Hundert Stellen halt.

Die Zeit läuft.

Mittring starrt. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden.

Als er vier war, nahm Mittrings Mutter, eine Kirchenmusikerin, ihn zum Einkaufen mit. Er saß im Kindersitz und addierte die Preise all dessen, was Mama in den Wagen legte. Anschließend staunte er, dass die Frau an der Kasse alles nochmals eintippte – er hatte doch die Lösung längst genannt.

Mit zwölf ersann er Formeln, mit denen man endlich mal Wochentage schnell 4000 Jahre rückwärts berechnen kann. In der Oberstufe wählte er Mathe als Leistungsfach, was sonst, schließlich waren ihm Lösungen immer auf den Schoß gesprungen. Trotzdem schrieb er ständig Sechsen – weil er nicht begriff, was an der gestellten Aufgabe eigentlich das Problem war.

Sieben Sekunden. Beutelspacher starrt auf Mittring. Acht Sekunden. Der starrt auf die Zahl. Sitzt vorgebeugt, malt Nebenrechnungen in die Luft.

Neun Sekunden. Mittring hat zunächst das Zahlenungetüm gleichsam abgeschritten. Vor allem die ersten sechs Ziffern sind wichtig, er befühlt sie so, wie ein Orthopäde ein krankes Knie betastet, er ermittelt die Mantisse, die an die logarithmische Kennziffer 99 angehängt wird, er dividiert, delogarithmiert, sein auf Vereinfachung komplexer Operationen trainiertes Hirn arbeitet auf Hochtouren.

Es hilft ihm, dass er zum Beispiel 7,68 x 13 nicht „rechnet“, sondern weiß – Mittring, Meister der Trillionen, aber auch ein Freund kleiner Zahlen. Die Fünf zum Beispiel mag er, sie ist so balancierend. Auch die Sieben hat er gern um sich, ein eigensinniges Ding.

Elf Sekunden. Die Gießener Studenten tippen noch. Stopp! Mittring hat gebrüllt. Er ist fleckig im Gesicht. Verliest seine Lösung. 47 941 071. Im Hörsaal ist es einen Moment lang sehr, sehr still.

Die Lösung stimmt, errechnet in knapp zwölf Sekunden. Mit zwei Sekunden unterm bisherigen also neuer Weltrekord. Applaus, Mittring muss Hände schütteln, Autogramme geben, Bücher signieren. Es ist spät und dunkel, als er wieder Richtung Bonn fährt.

Macht Rechnen glücklich, Herr Mittring?

Mittring sitzt im Maredo-Steakhaus und spielt mit dem Wasserglas. Er zögert, dann lächelt er. Sein Gießener Auftritt liegt einige Wochen zurück. „Rechnen heißt durchdringen, es ist ein ästhetischer Genuss – und, ja: Es macht mich glücklich, sehr.“ Er schweigt. Dann beginnt er zu essen, leert seinen Teller methodisch von rechts nach links.

Mit den Waffeln einer Frau

Bilder aufhängen, Geschirr einräumen, den Fernseher anschließen – zwei Tage zuvor ist Ashley Smith eingezogen, eineinhalb Zimmer, 3414 Ridgebrook Trail, in Duluth, einem Vorort im Nordosten von Atlanta, Georgia.

Es ist der Morgen des 11. März 2005, ein kräftiger Wind geht. Der Himmel soll noch aufklaren. Draußen singen die Vögel. „Blutiger Freitag“, so werden Reporter diesen Tag später nennen.

Ashley mag die Gegend. Und die neuen Nachbarn sind nett. Der von oben hat ihr sogar bei den schweren Kartons geholfen; viel irdische Habe hat sie ohnehin nicht. Ashley Smith: 26 Jahre jung, blond, hübsch, schlägt sich als Kellnerin durch, nebenbei Ausbildung zur Krankenschwester. Ashley hat ihr Leben im Griff, endlich. Auf ihrem Nachttisch liegt jetzt immer eine Bibel.

Vor vier Jahren verlor Ashley Smith ihren Mann; ein Überfall, ein Handgemenge, ein Messerstich. Ihre gemeinsame Tochter war damals gerade ein Jahr alt. Inzwischen malt Paige bunte Bilder und lebt bei Ashleys Tante, etwa zwei Autostunden entfernt – so schrecklich weit ist das ja gar nicht, und wozu gibt es Telefone, nur manchmal ist es kaum zum Aushalten.

Aber es wird Paige hier gefallen. Und in ein, zwei Jahren, sobald Ashley ihre Ausbildung beendet hat, wird sie ihre Tochter zu sich holen, für immer.

Ashley Smith drückt ihre Zigarette aus, dann macht sie sich ans Einräumen.

Zur selben Zeit wird Brian G. Nichols, 33 Jahre alt, schwarz, 95 Kilogramm schwer, muskelbepackt, aus dem Gefängnis ins Justizgebäude von Atlanta, 141 Pryor Street, überführt. Die Anklage lautet auf Vergewaltigung. Das Verfahren soll Richter Rowland Barnes führen. Angeblich liegen gegen Nichols noch 18 weitere Anklagen vor, angeblich sind die Beweise erdrückend.

Gegen 8.50 Uhr wird Nichols, noch im Gefängnisoverall, von Sheriff’s Deputy Cynthia Hall, 51, in eine „Holding Cell“ geführt. Er soll sich umziehen für den Prozess. Cynthia Hall verhält sich wahrscheinlich genau nach Dienstanweisung: Sie schließt erst ihre Waffe weg, Kaliber .40, steckt dann den Schlüssel ein, dann erst löst sie Nichols‘ Handschellen.

Das Justizgebäude wird videoüberwacht, auch die Holding Cells. Doch etwa zwischen 8.55 und 9.00 Uhr sitzt zufällig nur ein Mann im Monitorraum, Deputy Paul Tamer, der alle Bildschirme im Auge behalten und außerdem Telefonate entgegennehmen muss. So übersieht Tamer, was sich auf einem dieser 52 Monitore abspielt: Cynthia Hall wird von Nichols, dem ehemaligen Footballspieler, ehemaligen Karatekämpfer, überwältigt und schwer verletzt.

Mit Halls Waffe aus dem Schließfach spurtet Nichols los. Es ist kurz nach neun. Er findet den Raum 8-H und erschießt seinen Richter, tötet auch die Gerichtsstenotypistin Julie Brandau, 46. Er rennt weiter. Die Feuertreppe hinab, sieben Etagen. Er öffnet eine Nottür. Alarm schrillt. Sheriff’s Deputy Hoyt Teasley, 43, stämmig, schnurrbärtig, ist zufällig in der Nähe, Nichols erwischt Teasley mit mehreren Schüssen, Bauch, Unterleib. Teasley ist der dritte Tote.

In mir lebt ein Dämon, soll Nichols einem seiner früheren Opfer zugeraunt haben.

Zwischen 9.05 und 9.20 Uhr wechselt Nichols fünfmal sein Fluchtfahrzeug. Er kidnappt, stets mit der Waffe die schlotternden Fahrer verjagend, zuerst einen Mazda, dann einen Ford Pick-up, eine Mercury Limousine, einen Isuzu Geländewagen, zuletzt einen grünen Honda Accord. 13 Stunden lang wird nach diesem Honda Accord gefahndet werden; tatsächlich hat Nichols ihn längst im Centennial-Parkhaus abgestellt und ist mit der U-Bahn davon.

1600 Polizisten aus Atlanta, etwa so viele aus dem County, dazu die Fahnder der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein Spezialkommando und das FBI: Schätzungsweise 7000 Männer und Frauen jagen Brian Nichols. Profiler durchstöbern seine Akte, filzen seine Zelle, kontaktieren sein Umfeld. Nichols soll religiöse Anwandlungen haben, erfahren sie. Kirchen werden beobachtet, Straßen gesperrt. Es wird dunkel.

Es ist tiefe Nacht, als Ashley Smith mit Einräumen fertig ist, gegen zwei Uhr gehen ihr auch noch die Zigaretten aus. Als sie aus dem Drugstore zurückkehrt und ihren Wagen abschließt, fühlt sie den Lauf einer Waffe. Nichols drängt sie in ihre Wohnung.

Sie muss sich in die Badewanne legen, er fesselt sie mit Klebeband, sie sieht ihn an, sie beginnt halblaut zu beten, betet für sich, für ihn. Er starrt sie an. Setzt sich neben sie.

Ich – bin kein wildes Tier.

Nichols redet, erst noch stockend, dann drängender. Ashley hört zu, sie stellt Fragen, sie hört zu. Sie erzählt von sich, von ihrer Tochter, der Verzweiflung, als ihr Mann starb, und sie bleibt ziemlich ruhig – Ashley Smith ist die perfekte Geisel.

Sagen Sie mir, was wird mit Paige, falls Sie mich töten?

Der Morgen graut, irgendwann löst Nichols ihre Fesseln. Sie setzen sich vor den Fernseher. Sondersendungen, Warnungen, Nichols hat einen vierten Menschen umgebracht, heißt es, auf allen Sendern ist sein Gesicht, kalt, grimmig.

Ich bin erledigt, tot.

Das sind Sie nicht.

Ashley schaltet aus, holt ein Buch, schlägt Seite 257 auf, beginnt zu lesen. Matthäus Kapitel 7, Vers 16: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Die Geisel liest vor, der Killer hört zu.

Etwa um acht Uhr morgens macht sie Frühstück, frische Waffeln. Der Duft nach Teig und Gebackenem erfüllt die kleine Wohnung. Nichols isst, es schmeckt wunderbar, es schmeck ihm, als könnte noch einmal alles gut werden. Und dann lässt er Ashley gehen. Als die Polizei eintrifft, hält er ein weißes T-Shirt ans Fenster. Von dem Geschmack der Waffeln, heisst es, habe er noch lange gezehrt.

Vom Eise befreit

Er wachte auf, sah nichts. Wie lange war er ohnmächtig gewesen, fünf Minuten, zehn? Seine graue Fleece-Mütze war blutdurchtränkt, das Blut war kalt. Er wollte nachdenken, irgendwas hatte Karin erwähnt, aber seine Gedanken flatterten.

Plötzlich wurde ihm übel, er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander. Der Schock, dachte er. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt, er sah sich um, dachte: Wo bin ich?

Die Gletscherspalte, in die Manfred Landbeck gestürzt war, die Beine voran, war eine A-Spalte: oben eng, unten breiter, 45 Meter tief. In einer Tiefe von 15 Metern aber befand sich eine Art Zwischensockel von zwei mal zwei Metern. Diese Schneebrücke hatte ihn aufgefangen, dort stand er jetzt: 38 Jahre alt, Mechaniker aus Karlsruhe, Wintersportler, Besitzer eines Snowboards Typ „Renntiger“. Links und rechts und vor ihm: der Abgrund. Landbeck verlagerte sein Gewicht, um aus dem Snowboard zu steigen, der Schmerz jagte bis in die Hüfte. Sein Bein war gebrochen.

Er fror, begann wieder zu zittern. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, Samstag, der 28. September 2002.

Landbeck blickte nach oben. Sah ein Stück blauen Himmels, dort gab es Skilifte, Hotels, Menschen, unerreichbar. Er befühlte die glatten Wände der Gletscherspalte. Ich werde hier sterben, dachte er. Irgendwas hatte Karin gesagt.

Etwa 470 Kilometer weiter, in Karlsruhe, Händelstraße 28, in der kleinen Küche ihrer Altbauwohnung, nahm Karin Schulze gerade die Espressokanne vom Herd. Sie schäumte Milch auf, Kakaopulver: der perfekte Cappuccino, der perfekte Samstagnachmittag. Ihre Freundin Gaby war da. Durchs Küchenfenster schien die Nachmittagssonne, die Korbstühle hatten weiche Kissen.

Die zwei Frauen würden den Nachmittag verquatschen, abends dann zum Italiener. Und später in eine Bar, einen netten Mann kennen lernen, wer weiß.

Karin Schulze, Einkäuferin beim Heine Versand, spezialisiert auf Damenoberbekleidung und -unterwäsche, ist eine selbstbewusste Frau, groß, blond, attraktiv. Manfred Landbeck und sie waren ein Paar gewesen, drei Jahre lang. Die Trennung lag drei Jahre zurück. Ihre Freundschaft blieb. „Wir sind seelenverwandt“, sagt sie. „Karin ist wunderbar“, sagt er.

Landbeck war am Freitagmittag losgefahren. Im „Neuen Hintertuxer Hof“ hatte er sich mit Freunden getroffen, alle begeisterte Snowboarder. Am nächsten Morgen um neun Uhr standen sie auf dem Tuxer Gletscher, 3250 Meter hoch, man sah die Dolomiten, der Himmel konnte blauer nicht sein.

Ein Gletscher aber ist nicht nur ein Eisklotz. Ein Gletscher wandert, bewegt sich wie ein lebendiges Wesen, er bildet Tische, Zungen, Schründe, Spalten. Auf dem Tuxer Gletscher gibt es abseits der Pisten einige hundert dieser Spalten, bis zu 120 Meter tief. Manfred Landbeck fuhr um halb vier Uhr nachmittags die letzte Abfahrt. Plötzlich verschluckte ihn der Gletscher.

Landbeck liebt Filme, Abenteuer, Brad Pitt, Bruce Willis. Er selbst wollte nie ein Held sein, jetzt musste er.

Er musste den Ausweg finden.

„Nimm’s Handy mit hoch“, hatte Karin gesagt. „Wozu?“, hatte er gefragt, lachend. Aber er hatte es eingesteckt, fiel ihm ein. Er zerrte das Ding aus seiner Brusttasche, wählte, traf die winzigen Tasten nicht. Jetzt! Kein Netzempfang. Nur für Sekundenbruchteile fand sein Handy eine Verbindung, obwohl er es über dem Kopf schwenkte wie ein Gestrandeter eine Laterne. Seine zweite Idee: eine SMS. Die Botschaft würde in kleinsten Portionen gesendet und ankommen, vielleicht, hoffentlich. Füße, Beine fühlten sich an, als müssten sie gleich zerbrechen, die Finger zitterten, er schickte die erste SMS los, sie lautete AXLQJFS. Verdammt. Er bezwang sich, tippte um sein Leben.

Um 16.08 ging bei Karin Schulze in Karlsruhe die Botschaft ein: SITZE IN GLETSHERSPALTE RETTET MICH!!

Karin starrte das Display an. „Der Manfred“, sagte sie, „der macht doch keine Witze mit so was, oder?“

„Glaub ich auch nicht“, sagte ihre Freundin zögernd. Und dann sprang Karin auch schon auf: „Wir müssen ihm helfen!“

In der Altbauküche in der Händelstraße telefonierten die beiden Frauen um das Leben von Manfred Landbeck. Auslandsauskunft, Tourismuszentrale in Hintertux, das Rote Kreuz, der Handy-Betreiber, die Polizei in Österreich, Polizei in Karlsruhe. Sie sprachen auf drei Telefonen, erklärten, drängten, flehten.

Oberkommissar Wolfgang Müller hatte seine Schicht in der Karlsruhe Einsatzleitstelle um kurz vor zwölf Uhr angetreten. Der Nachmittag war ruhig. Bis um 16.11 Uhr der Anruf Nummer 171016 einging: „Fr. Schulze, Freundin d. Verunglückten, extrem aufgebracht“.

Müller kannte Hintertux vom Sommerurlaub. Seine Idee: die Hotels anrufen, da kennt jeder jeden. Sein erster Anruf hatte Erfolg. Der Schwager der Hoteliersfrau war der Leiter der Pistenrettung, Norbert Pichelsberger. 20 Minuten später machte sich das dreiköpfige Rettungsteam auf den Weg, per Pistenbully, einem Kettenfahrzeug mit einem 300-PS-Dieselmotor.

In seiner Gletscherspalte stand Manfred Landbeck und rief um Hilfe.

In ihrer Küche saßen Karin und Gaby und hatten nur einen Gedanken.

Am Steuer des Pistenbullys saß Martin Wechselberger, Pistenretter, er fand die Spuren und die Spalte. Um 17.35 Uhr, zwei Stunden nach seinem Sturz, wurde Landbeck nach oben gezogen, zurück ins Leben, er blinzelte in die untergehende Sonne. Sieben Minuten später wussten Karin und Gaby Bescheid. Sie riefen Oberkommissar Müller an, dann weinten sie, dann öffneten sie eine Flasche Sekt.

Ein Fall für Papa

Ein Kind fällt aus dem Himmel. Es ist der Himmel über Paris, über dem 20. Arrondissement, unweit der Metro-Station Porte de Vincennes. Der Himmel ist an diesem Tag grau und fahl, und der Körper dreht sich im Fallen, es ist ein kleiner Junge, an den Füßen blaue Stoppersocken, 17 Monate, öligschwarz die Haut, die Eltern stammen aus Zentralafrika, er hat auf dem Balkon gespielt, und dann ist er durch die Gitterstäbe geglitten. Sie haben die Dachwohnung in der 7. Etage, hinter einer zerschrappten Holztür. Im Treppenhaus Geruch von Hirse und Knoblauch.

Der Name des Jungen: Idris S. Auf dem Balkon sitzt noch seine Schwester, vier Jahre alt. Die Eltern sind nicht zu Hause. Die Uhrzeit: etwa 16.35 Uhr.

Vom Balkon bis zum Asphalt sind es rund 20 Meter. Zwei Sekunden wird der Fall also dauern, etwa so lange wie man braucht, diesen Satz zu lesen. Der Körper wird, unabhängig von seiner geringen Masse, eine konstante Beschleunigung erfahren, jener Formel gemäß, die auf Newton und seine Erkenntnisse zur Gravitation zurückgeht; sobald Idris auf dem Asphalt aufschlägt, wird er etwa 72,3 Stundenkilometer schnell sein und sterben, er braucht jetzt ein Wunder.

Es wird bald dunkel. Kaum ein Mensch ist draußen zu sehen, ein Feiertag, Allerheiligen. Das Haus, aus dem Idris fällt, steht an einem freien Platz, im Erdgeschoss ein Café, geschlossen. Im Fernsehen läuft „Terminator 2“, France 2 hat für später „Mein Vater der Held“ ins Programm gesetzt, mit Gérard Depardieu.

Drei Menschen werden gleich ins Leben von Idris treten: Raphaël, ein aufgeweckter Junge, siebenjährig, der gern escargots isst, Schnecken, und den Film mit Depardieu gern sehen würde; dann dessen Vater, Dr. Philippe Bensignor, ein freundlicher Herr, 58 Jahre alt, melancholisch; und drittens Monsieur Hacéne, geboren in Algerien, Vater von vielen Kindern, Patron im Cours de Vincennes, Kneipe, Café, Tabakladen.

Vor dem Cours de Vincennes befindet sich ein Briefkasten. Davor stehen jetzt drei Personen, der Mann ist der melancholische Dr. Bensignor, er steht neben seiner Ex-Frau, Catherine, und steckt einen Stapel Briefe ein, Formulare für Krankenkassen, sein Sohn Raphaël zupft ihn am Hosenbein.

„Papa! Papaa! Da oben!“

Dr. Bensignor hat sich bei Catherine gerade nach dem Befinden seiner Ex-Schwiegermutter erkundigt, und während sie antwortet und er kaum zuhört, denkt er: Warum frag ich? Und warum zerrt Raphaël an mir rum?

Dr. Bensignor bekam nach der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen. Raphaël ist wochentags bei ihm, Dr. Bensignor bringt ihn morgens zur Ganztagsschule, eilt dann in seine Praxis, er ist Arzt, abends holt er ihn ab, das Kochen ist ihr Zeremoniell, Raphaël liebt Schnecken, Dr. Bensignor liebt Raphaël. Die Wochenenden verbringt der Junge bei seiner Mutter. Soeben hat sie ihn zurückgebracht.

Dr. Bensignor weiß nicht, warum, aber seit ein paar Wochen ist er schwermütig. Vor kurzem starb sein Onkel, immer öfter kommen ihm jetzt Zweifel am Sinn des Lebens, vielleicht ist es die Midlife-Crisis, sagt er. Er war nie sehr religiös, aber neulich lag er im Bett und konnte nicht einschlafen.

Wenn es dich gibt, Gott – dann gib mir ein Zeichen, dass das hier unten auf der Erde alles hier nicht sinnlos ist, merci.

Gib mir ein Zeichen. Ich bräuchte es wirklich.

Für Monsieur Hacéne, den Wirt, den Algerier, besteht die ganze Welt aus Zeichen – „alles ist Maktoub, Schicksal“. Vor zwei Jahren verkaufte er sein Taxi, kaufte ein Café, ließ eine schicke Markise anbringen, knallrot, jeden Abend wird sie eingefahren, damit sie geschont wird. Monsieur Hacéne wollte mit Menschen zu tun haben, sie bewirten, unterhalten, dem Leben auf diese Art Bedeutung verleihen.

Am Vorabend von Idris‘ Sturz ging Monsieur Hacéne früher heim. Er überließ es Gabié, seinem Angestellten, gegen 20 Uhr abzuschließen. Gabié rief ihn an. Die Markise lasse sich nicht zurückfahren. Was jetzt? Mechaniker? Nein, entschied Monsieur Hacéne, nicht nötig, bleibt sie eben ausgefahren.

Das war Maktoub, sagt er heute. Ein Zeichen.

Dr. Bensignor, vor dem Briefkasten, erblickte endlich, was Raphaël, der an ihm zerrte, längst gesehen hatte – ein Kind fiel aus dem Nichts. Er verfolgte die Bahn. Plötzlich ganz konzentriert. Idris fiel, fiel, prallte auf die rote Markise, auf den Stoff. Plopp! Der Stoff riss. Aber nur etwas. Der Körper hüpfte hoch. Wie von einem Trampolin. Fiel wieder. Dr. Bensignor hatte die Arme ausgestreckt. Sah nichts als die Flugbahn. Catherine neben ihm schrie, er hörte sie nicht, als wäre der Ton abgestellt, er machte einen Ausfallschritt, hatte es.

Das Kind lag in seinen Armen. Er sah es an, staunte, untersuchte es, alles okay. Irgendwann kam der Rettungswagen.

Noch am Abend ging Dr. Bensignor in die Église Saint-Gabriel, wo er sich für das Zeichen bedankte, er ist übrigens nicht mehr melancholisch seit jenem Nachmittag. Idris geht es blendend. Seine Eltern allerdings haben ein Verfahren am Hals. Monsieur Hacéne will sein Café umbenennen, in „Café des Wunders“. Raphaël verpasste in all der Aufregung den Depardieu-Film, aber das war egal.

Der Traum eines Riesen

Wie immer standen Menschen um ihn herum, sie kicherten, zeigten mit dem Finger auf ihn, konnten sich nicht satt sehen. Er lächelte geduldig. Man durfte ihn auch fotografieren, für 200 Dinar, etwa zweieinhalb Euro. Er gähnte.

Die Sonne schien, er stand auf dem Marktplatz von Tizi Ouzou, auf seinem Arm saß ein Mädchen. Es war fünf oder sechs, es zappelte, das tat es oft, doch es war noch so klein, dass er das Gewicht nicht spürte. Aber am Abend würde sein Rücken wieder wehtun.

Er trug seinen einzigen Anzug, dunkelgrau, darunter sein helles Hemd, alles maßgeschneidert: Mounir Fourar, 30 Jahre alt, von Beruf Riese.

Um die Mittagszeit, er wollte gerade in den Schatten schlurfen, kamen die beiden Männer.

„Salam aleikum“, sagten sie, sie seien Journalisten. Und hießen Christian und Hocine, sie kämen gerade aus Algier, arbeiteten für Agence France Press, die bedeutende französische Nachrichtenagentur, ob er die kenne? Außerdem für eine Schweizer Zeitung, „Le Temps“. Ob er ihnen ein Interview geben könne?

Mounir Fourar ließ sich alles wiederholen, alle sprachen immer so schnell, vielleicht, weil sie klein waren. Und als er verstanden hatte, setzte er das Mädchen ab, behutsam, wie man ein noch nicht flügges Vögelchen auf den Boden setzt. Und sprach: „Sie müssen mir helfen.“ Die beiden Reporter starrten ihn an.

„Die Welt“, fuhr der Riese fort, „muss endlich erfahren, dass ich der größte Mensch bin. Ich will beim Film arbeiten, nach Paris reisen, den Eiffelturm sehen – es wäre sehr wichtig für mich.“

Es klang wie eine Bitte, es war in Wahrheit ein Hilferuf. Holt mich raus aus meinem Leben.

Dieses Leben begann am 28. November 1972, an diesem Tag gebar Hourida Fourar ihrem Mann Saïd, Fabrik- und Transportarbeiter, in ihrem Haus in der Messaoud-Straße in Batna ihr drittes Kind. Sie nannten es Mounir. Das Kind war gesund, die Hebamme badete es, rieb es mit Salz ab und gratulierte dem Vater.

Mounir war sanft und freundlich. Er ging gern zur Schule, manchmal spielte er Fußball, häufig lag er auf seinem Bett und träumte. Zum Beispiel von Michel Platini, dem Regisseur der französischen Nationalelf, dem Zauberer von Turin; der kleine Junge träumte davon, wie Platini zu sein, der Größte.

Akromegalie ist eine Krankheit der Hirnanhangsdrüse. Neben Riesenwuchs können symptomatisch Müdigkeitsanfälle und Sehschwächen auftreten, der so genannte Tunnelblick.

Mounir wuchs auf in der Kleinstadt Aïn Touta, die ersten zehn Jahre seines Lebens genoss er den Luxus der Normalität. Er war wie alle, er war glücklich.

Dann ging es los.

Mit 11 überragte er seinen Bruder, zwei Jahre älter als er. Mit 12 überholte er seine Schwester, sieben Jahre älter. Mit 13 überragte er seinen Vater, und er wuchs weiter, weiter.

Oft war er müde, die Eltern nahmen ihn von der Schule, brachten ihn zum Arzt. Mounir wurde am Kopf operiert, um den Hormonausstoß der Drüse zu stoppen, vergebens. Er bekam 31 Bestrahlungen, seitdem wächst ihm kein Bart. Mounir, der Riese mit dem Kindergesicht, wuchs weiter, er litt unter Rückenschmerzen, unter Sehstörungen. Manchmal war die Welt ein dunkles Etwas, als würde er in einen Tunnel blicken: War das sein Schicksal?

Die Eltern verboten ihm das Fußballspielen, Mounir schloss sich oft in seinem Zimmer ein, lag auf dem Bett und wuchs. Mit 16 bückte er sich unter den Türen hindurch. Mit 17 fuhren sein Vater und er nach Khenchela. Wo ein Schreiner, kopfschüttelnd, Mounirs Maße nahm und ein extrastabiles Riesenbett baute. Der Schreiner berechnete nichts für die Arbeit, er hatte Mitleid.

Mounir war etwa 20, als eine Messung im Hospital von Aïn Adja 2,44 Meter ergab. Seine Anzuggröße liegt bei 160, die Schuhgröße bei 64, statt Socken trägt er Fußballstutzen. Er hält Diät, wegen seines Rückens darf er nicht dick werden, schon jetzt wiegt er 180 Kilo, dafür sind Bandscheiben nicht geschaffen.

So zieht Mounir Fourar, der Riese, über die Marktplätze Algeriens, verdient seinen Lebensunterhalt, indem die Leute über ihn staunen und lachen, weil sie sich sonst fürchten müssten. Nach Feierabend geht er ins Café, trinkt Tee, spielt Domino, die schwarzen Steine sind so klein und hübsch und akkurat, und am Ende passt alles zusammen. Mounir Fourar liebt dieses Spiel. Andererseits muss es mehr im Leben geben, erst recht für einen Riesen.

Das „Guinness-Buch der Rekorde“ verzeichnet als größten Mann der Welt den Tunesier Radhouane

Charbib, 2,36 Meter.

„Der ist acht Zentimeter kleiner“, erklärte Mounir Fourar den Reportern auf dem Marktplatz von Tizi Ouzou, „sein Titel gebührt mir.“ Und er erzählte ihnen von seinen zwei großen Wünschen. Der eine: Geld verdienen, einen Minibus kaufen, zurück nach Aïn Touta gehen und die Kinder zum Kindergarten und zur Schule kutschieren. „Ich liebe Kinder“, sagte er, „und sie haben Respekt vor mir.“

Die Reporter versprachen, die Nachricht in der Welt zu verbreiten.

Und dann, beim Abschied, beugte Mounir Fourar sich hinab auf die Höhe von 1,70 Metern, zu dem Reporter Christian Lecomte aus Genf, und er vertraute ihm seinen zweiten Wunsch an:

„In der Schweiz“, fragte er leise, „gibt es dort vielleicht große Frauen?“ Und der Reporter blickte in das Kindergesicht des Riesen, ihm fiel keine Antwort ein.

Fünf Tage, fünf Nächte

Rivano wollte nicht mit zur Kirche, wieder mal, die Großmutter wurde wütend: „Wasch‘ die Hände, zieh ein Hemd an, wir warten …“

„Nee, muss noch trainieren“, murrte er.

Rivano Cabenda: elf Jahre alt, dunkle Locken, dunkle Haut. Ein freundliches Gesicht, afro-indianisch, ein Lächeln mit Zahnlücke; den Schneidezahn hat er bei einem Fußballspiel verloren. Ein stämmiger Junge, Mittelstürmer, nicht groß für sein Alter, aber muskulös. Seine Vorbilder: Ronaldo, Ronaldinho, Rijkaard, Kluivert, Seedorf, Roberto Carlos, in genau dieser Reihenfolge. Sein Lieblingsessen: „pepre watra“, Fischsuppe mit Tomaten, Bananen, Peperoni, schön scharf, eine Spezialität in Surinam. Niemand, fand er, kochte das besser als seine Großmutter, er liebte sie sehr, aber die Kirche hasste er. „Langweilig dort“, sagte er.

Es war noch hell, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Bananenplantagen dampften. Es war der 31. Mai.

„Langweilig? Du willst deinem Schöpfer nicht mal danken, der dich leitet und behütet, der dir Schutzengel schickt …?“

Rivanos Onkel mischte sich ein, ein kräftiger Mensch, gutmütig, Antonius van der Bosch. Surinam ist das ehemalige Niederländisch-Guayana, und die holländischen Namen erinnern heute noch daran, dass hier Nachkommen von Sklaven leben. „Der Junge kann doch mit zum Fischen gehen. War Jesus nicht auch ein Fischer?“

„Du verwechselst alles“, sagte Rivanos Großmutter, „aber gut, meinetwegen, seid vorsichtig.“

Rivano und sein Onkel brachen um sechs Uhr abends von Boskamp aus auf. Etwa eine Stunde Fußmarsch ist es bis zur Mündung des Coppename. Dort lag van der Boschs Boot, ein Kanu mit Außenbordmotor, acht Meter lang, eineinhalb Meter breit, der blaue Anstrich verblichen. Rivano war zum ersten Mal dabei. „Es wird dir gefallen“, sagte sein Onkel, „wirst sehen, es ist jedes Mal anders.“

Der Coppename entspringt im Süden, im Wilhelmina-Gebirge, vier Breitengrade über dem Äquator. Er fließt in nordöstlicher Richtung und mündet in den Atlantik. Das Delta ist mehr als einen Kilometer breit, das Wasser braungrün, an den Ufern Mangroven, der Regenwald. Unter Sportpiloten ist das Coppename-Delta gefürchtet: Wolkenbänke, Luftwirbel, Sturmböen.

Sie warfen gegen acht Uhr die Netze aus. Das Wasser war kabbelig. Rivano wurde übel, speiübel. „Dann leg dich hin und schlaf“, sagte sein Onkel. Das war gegen elf Uhr.

Rivano erwacht etwa eine Stunde später, ein Schlag zertrümmert das Boot, eine Welle kracht auf ihn, schleudert ihn fort, er wird runtergedrückt, kommt hoch, schluckt Wasser, salziges, hustet, schwimmt verzweifelt, schreit. Ruft nach seinem Onkel. Hört ihn antworten. Aber er kann nichts verstehen, ihn nicht sehen, um ihn nur Dunkelheit und Wasser, und bald hört er ihn auch nicht mehr. Er spürt, wie er fortgetrieben wird.

Irgendwas ist neben ihm, ein Stück Bootsplanke, er packt es, einen Meter lang, 30 Zentimeter breit, ein Stück vom Kanu, daran klammert er sich fest: sein einziger Halt in diesem Tosen und Klatschen, in der Neumondnacht des 31. Mai. Es regnet.

In Boskamp wachen Rivanos Großeltern, sie kümmern sich um ihn, seit Rivanos Vater starb und seine Mutter einen anderen Mann heiratete. Draußen stürmt es. Sie sitzen da, krank vor Sorge, sie warten.

Der nächste Morgen. Die Sonne geht auf, Rivano erschrickt. Das Wasser ist blau: Er ist auf dem offenen Meer. Rivano ist kein schlechter Schwimmer, aber die Wellen sind meterhoch. Er hat auch keine Ahnung, in welche Richtung er schwimmen sollte, Himmelsrichtungen, Geografie, das sagt ihm nichts. Er versucht, sich hochzustemmen, aber da ist nur Wasser, überall. Rivano kann nur eines: sich festhalten.

So treibt er dahin. Die Wassertemperatur des Guayana-Stroms vor der Küste von Surinam liegt bei 28 Grad, aber Rivano zittert, sein Körper wehrt sich gegen die schleichende Auskühlung. Es wird Abend, Nacht, es regnet, brausend, die See ist der Himmel, der Himmel die See, kein Unterschied. Und Rivano mittendrin, ein Molekül, dabei entsetzlich durstig. Irgendwo unter ihm, in der blauen Tiefe, ziehen Schwarznasenhaie, Glatthaie, paddeln Lederschildkröten. Er hält sich fest an seinem Stück Holz. Denkt an seine Großmutter. Ab und zu ruft er krächzend um Hilfe, „me begi yep“, einfach nur so.

Der Onkel hat sich retten können, zwei Tage später ist er zu Hause. Ein Suchtrupp zieht los, aber der findet nichts. Die Großmutter betet und weint. Betet und weint.

Am dritten Morgen sieht Rivano Fregattvögel, anscheinend jagen sie Fische, aber genau kann er es nicht erkennen, das Salz und die Sonnenreflexe haben ihn halb blind gemacht. Er hört ihre hohen Schreie, er denkt: Ich will heim.

Fünf Tage, fünf Nächte. Zittern, frieren, dämmern. Das Schlimmste ist der Durst. Wenn es regnet, reißt Rivano den Mund auf, leckt die Tropfen von seinen Schultern. Aber er trinkt kein Salzwasser. Wenn er einzuschlafen droht, reißt ihn der Schreck immer wieder hoch: Ich muss heim, die Großmutter!

Der Guayana-Strom hat eine Geschwindigkeit von zwei Knoten, knapp vier Stundenkilometer. Am Morgen des sechsten Tages treibt Rivano in die Mündung des Corentyne, etwa 130 Kilometer westlich. Er krabbelt ans Ufer, rasende Kopfschmerzen, die Nieren schmerzen, aber er lebt. Er fällt hin, schläft ein und träumt, er träumt von seiner Großmutter.

Homestory 18

Jedenfalls bin ich eine Verantwortung los, eigentlich sollte ich mich freuen; aber für mich ist es erst mal ein Abschied. Mein Sohn konnte diesen Tag natürlich kaum erwarten. Da bugsierst du dein Kind über die Datumsgrenze, über die 18-Jahre-Marke, mit einem Großeinsatz an Fahrrädern, Zahnklammern, Elternabenden, und dann, wenn du denkst, du kennst dein Kind, verwandelt es sich über Nacht in einen Mann, in einen Fremden.

Mein Sohn macht sich ans Auspacken: dunkelblaue Socken. Er jubelt, ironisch übertrieben und etwas gönnerhaft, wie ich finde, aber freundlich, das ist die Haltung, die er sich neuerdings zugelegt hat im Umgang mit seinen alten Eltern.

Ich trug in seinem Alter nur weiße Socken, jahrelang. Es gab sie in Zehnerpacks, damals hieß es noch Sonderangebot, nicht Sale; und man dachte: Hey, toll, das Sockenproblem ist auf Jahre hin gelöst, doch dann zerfielen sie bei der ersten Wäsche, trotzdem blieb man dabei. Ich trug weiße Socken wie eine Lebenseinstellung, es waren die Achtzigerjahre, und ich dachte, ich hätte meinen Stil gefunden, dabei war ich nur falsch abgebogen, in eine Geschmacksverirrung.

Mein Sohn trägt Tennissocken zum Tennis; ansonsten kleidet er sich ungefähr wie ein 42-jähriger Fachanwalt für Vertragsrecht (das will er werden). Er ist viel erwachsener, als ich es mit 18 war oder mit 54 bin, und vor allem ist er viel leistungsbewusster, im Resultat: besser. Er schafft mehr Klimmzüge, als ich je geschafft habe (in meinen besten Zeiten: 12, er: 29). Ein Eins-komma-irgendwas-Abitur, daran hätte ich nie zu denken gewagt; und er arbeitet strukturierter als ich damals, er macht sich einen Plan, dann zieht er das durch, eins, zwei, drei. Seine Freunde, glaube ich, sind wie er, sie feiern auch systematisch, ich schätze, sie machen sich einen Plan, arbeiten dann eins, zwei, drei die Getränke weg.

Wobei Exzesse eher selten vorkommen. Eigentlich ist das eine ziemlich gesunde Generation; bei uns wurde mehr Junkfood gegessen und sinnlos gesoffen, es gehörte zum Bild der Partys, dass immer einer oder eine irgendwo lag und sich vollgekotzt hatte, nicht schön, aber so war es. Eines Tages hat mein Sohn Schokolade aus seinem Leben gestrichen, um sich von nun an auf Amaranth-Riegel zu verlegen, während ich bis heute nicht weiß, was Amaranth ist. Beim Schach schlägt er mich in sieben von zehn Partien, bei Gartenarbeit lässt er mich gewinnen.

Ich war damals viel unsicherer, meine Freunde ebenfalls. Zwar gaben wir uns großspurig und waren dauerempört; doch was unser Lebensgefühl prägte, war Unsicherheit. Es waren die Siebziger- und Achtzigerjahre – und wir mussten erst mal dieses Land hier verstehen, dieses Deutschland. War es gut, hier zu leben? Wie sollten wir herausfinden, was das richtige Leben für uns war?

Wir hatten Angst. Ich erinnere mich noch an die Grafiken, die beispielsweise der SPIEGEL druckte, Ost gegen West, die kleinen Raketen standen gegeneinandergerichtet, die Zerstörungskraft war immer millionenfach, und Deutschland lag mittendrin. Also fuhren wir nach Bonn, um für den Frieden zu demonstrieren, und wir fuhren nach Brokdorf, um die Nuklearkatastrophe zu verhindern (am Ende, siehe Tschernobyl und Fukushima, haben wir recht behalten. Hat das eigentlich mal jemand klar gesagt?).

Harte Zeiten. Zwischendurch bauten wir uns Nester, umgaben uns mit allerlei Kram, sammelten Schallplatten, sammelten französische Filmplakate, damals gab es auch noch diese „Setzkästen“, eine identitätsstiftende Einrichtung – habe ich nie woanders als in Deutschland gesehen. Wenn einer sein Studium schmiss, um in Portugal Olivenbauer zu werden oder um mit einer freien Theatergruppe Stücke zu spielen, bei denen die Schauspieler nur Feinrippunterwäsche trugen und sich auf dem Boden wälzten, – so bewunderten wir den.

Es gab Tonnen von Männerbüchern und auf Schritt und Tritt Frauengruppen, aber die Wahrheit ist: Niemand wusste, wie es geht mit der Liebe. Letztlich lief es auf Trial and Error hinaus. Die Hälfte meiner Freunde, die eine Ehe eingingen, ist geschieden; dass ich es nicht bin, ist Zufall. Ich habe nur Glück gehabt. Bei der Kindererziehung hatten wir ständig die Sorge, irgendwas falsch zu machen, wir haben draufloserzogen, aber wir hatten keine Vorbilder. Das ganze Leben war Trial and Error, zu kompliziert, zu verknäult, zu analog, um es zu verstehen, zu sezieren, zu planen.

Das Leben meines Sohnes ist digital, nicht weil er mehr Zeit am Computer verbringt, sondern weil ihn diese Struktur geprägt hat: Er teilt sein Leben ein, bringt alles auf eins oder null, und diese Aufgaben und Einheiten erledigt er eine nach der anderen. Probleme sind dafür da, um gelöst zu werden. Ob die Politik dafür taugt – das glaubt er eigentlich nicht. Aber er verliert auch keine Zeit mit diesen Zweifeln. Stattdessen plant er ein Praktikum bei einer Anwaltsfirma in Los Angeles, er wird bald weg sein. Er wird mir fehlen. Ich mochte es, Vater zu sein, gebraucht zu werden.

Wir singen. Mein Sohn bläst die Kerzen aus. Werde meinetwegen erwachsen, denke ich, möge dein Leben, die Liebe, möge das alles gelingen. Ich wünschte, ich hätte ein Rezept. Happy Birthday.

Jyoti, 62,8 cm

Das Haus, in dem sie schläft, Jyoti Amge, die Frau mit dem seltsamsten Schicksal der Welt, dieses Haus liegt in der Kalkutta Road, in einem der Armenviertel von Nagpur, mittendrin in Indien. Das Haus ist umgeben von einer weißen Mauer, nicht sehr hoch. Dahinter ein enger Innenhof. Rechts im Hof befindet sich ein ummauertes Loch im Boden, die Außentoilette, zum Hinhocken. Die Tür zum Haus ist abgeschlossen, die Vorhänge sind zugezogen. Ihr Vater und Manager kommt aus dem Seiteneingang.

Er ist barfuß, im Unterhemd, er tritt vors Haus, Kishen Narayen Amge, oder Mister Amge, wie er sich nennen lässt, rundes Gesicht, runder Bauch, die Füße sind breit und groß, mit rissigen Fersen. Er zündet sich eine Bristol-Zigarette an, blinzelt in die Sonne, kratzt sich am Bauch. Zwei Jungs laufen vorbei, die Haare stehen ihnen starr ab vom Staub. Sie haben einen Plastikfußball, den sie auftitschen lassen – als sie Mister Amge sehen, grüßen sie ehrerbietig. Amge nickt ihnen grimmig zu.

„Die Nachbarn – erst hatten alle Angst vor meiner Tochter, vor dem bösen Blick. Sie hielten sie für einen Dämon.“

Und heute?

„Manche fürchten sie, aber die meisten sehen in ihr eine Göttin, sie kommen, verneigen sich vor ihr, wollen ihre Füße berühren, ihr dharma, ihren Segen. Aber sie ist keine Göttin.“

Was ist sie denn, Mister Amge?

Er schnippt die Zigarette auf die Straße.

„Kommen Sie“, sagt er.

Das Zimmer, in dem Jyoti Amge schläft, ist eigentlich der schönste Raum im Haus, mit Sofa, Fernseher, Computer. Gleichzeitig ist es Jyotis Schlafzimmer, und sie hat sich in letzter Zeit angewöhnt, morgens lange auszuschlafen, also bleiben die Vorhänge jetzt zugezogen, und alle flüstern und schleichen auf Zehenspitzen durchs Haus und geben sich Mühe, den Teekessel leise abzustellen.

Das Bett, in dem Jyoti Amge schläft, steht auf kleinen, gedrechselten Füßen, es misst 40 mal 80 Zentimeter, kaum größer als ein Teetablett, aber sie kann sich bequem ausstrecken – Jyoti Amge, 18 Jahre alt, 62,8 Zentimeter groß, kleinste Frau der Welt.

„Da, in dem Kästchen schläft sie. Ich weck sie jetzt“, sagt ihr Vater.

 

62,8 Zentimeter: ein Urteilsspruch. Die Ratten, die an den Ufersäumen des Nag-Kanals in ausgedehnten Kolonien leben, sind für Jyoti so groß wie Ferkel, und die Kühe, die heilig und unbehelligt durch die Straßen trotten, ragen vor ihr auf wie Lastwagen – nur, dass die Lastwagen scharfe Hufe haben und hintrampeln und -scheißen, wie es ihnen passt. Ein Plastikball, von einem Nachbarjungen mit Schwung geschossen, könnte Jyoti durch die Luft schleudern, zerschmettern. Ihre Knochen heilen langsam. Vor sechs Jahren hatte sie einen Beinbruch, die Beinschiene, die Dr. Jhunjhunwala ihr anlegte, muss sie heute noch tragen.

Sie ist in eine Welt gesetzt, die nicht für sie gemacht ist. Es ist ein Leben wie unter einem Verhängnis. Sicherlich kann man eine Behinderung meistern, kann „damit leben“, wie es oft heißt; aber Jyoti Amge hat mehr geleistet als das. Sie musste sich neu erfinden. Sie wird jetzt zu einem Wesen, das es so noch nie gab.

Ihr Vater hat sie geweckt, sehr behutsam. Sie sitzt auf dem Bett, gähnt, die Decke um ihre schmalen Schultern gelegt.

Der Vater holt ein Fotoalbum aus dem Regal, Jyotis Leben von Geburt an.

Die ersten Fotos zeigen ein erschrockenes Kind, voller Angst vor seiner Andersartigkeit. Da ist das Klassenzimmer, ein karger Raum. Sie ist etwa zehn oder zwölf Jahre alt. Die anderen Mädchen sitzen in den Bänken, für Jyoti haben sie ein winziges Pult in den Mittelgang gestellt. Dann aber, Jahr für Jahr, hat sie mehr Freundinnen, sieht man sie frecher, selbstbewusster in die Kamera lächeln.

Schließlich, dritter Teil: Sie wird zum Star.

Inzwischen nimmt sie Songs auf mit einem der berühmtesten indischen Popstars, sie zeigt sich mit Politikern, und sie tourt um die Welt. Im Frühjahr nach Rom, Mailand, Mumbai, Tokio, wo Fernsehsender sie einladen, sie hat jetzt schon mehr von der Welt gesehen als irgendein anderes Mädchen aus ihrer Klasse. Sie spricht an Schulen, besucht Universitäten. Die Leute wollen sie bestaunen, berühren, mit einer Mischung aus Verzücktheit und Grusel. Jyoti Amge, die Mutantin, der Freak der Herzen.

Sie hustet. Hält sich wohlerzogen die Hand vor den Mund. Ihre Finger sind sehr kurz, aber kräftig, die Haut runzlig.

Jyoti, wir müssen am Nachmittag noch zum Arzt, sagt ihr Vater. Und dass er schon in der Praxis angerufen habe.

Ich will aber nicht.

Als hätte sie Helium geatmet, so klingt ihre Stimme, fiepend, man denkt unwillkürlich an ein Tierchen aus einem Zeichentrickfilm. Ihre Stimmbänder müssen sehr kurz sein.

Ich will dort nicht hin.

Ihre Mutter kommt hinzu, stämmig, energisch, mit schweren Ohrringen, in einem golddurchwirkten Sari, Schatten unter den Augen. Die ersten Jahre nach Jyotis Geburt waren nicht leicht für die Eltern, sie hatten vier Kinder, drei Mädchen, einen Jungen, alles war normal, und dann kam plötzlich dieses seltsame Kind auf die Welt, eineinhalb Kilogramm schwer, war abergläubischen Vermutungen ausgesetzt. Wo kam dieses Kind oder Wesen her?

Schließlich gibt Jyoti nach. Sie seufzt, bückt sich nach ihren weißen Schuhen, Schuhgröße 21, etwas zu groß für sie, aber sie trägt darin Einlagen.

Der Vater schlurft hinaus und ruft die Schwester.

Ihre Morgentoilette kann Jyoti Amge nicht allein bewältigen. Zwar geht sie allein aufs Klo, aber am Waschbecken im Hof muss Rupali, ihre drei Jahre ältere Schwester, ihr helfen, sie muss sie hochheben, halten. Jyoti wäscht sich Gesicht, Arme, Hände. Die Proportionen der Glieder zum Rumpf sind beinahe normal, ihr Gesicht ist von einer puppenhaften, etwas zerknautschten Anmut.

Und sie ist warmherzig. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man sofort hat.

Sie kämmt sich vor dem fleckigen Spiegel das Haar, flicht sich Bänder hinein. Greift dann zu der grünen Zahnbürste. Ihre Zähne sind zu groß für den schmalen Kiefer, als hätten sie von der Wachstumsverweigerung, die im Embryonalstadium den Organismus überkam, nichts mitbekommen. Ihre Zähne wuchsen, während ihr Körper stehenblieb, sie wuchsen schief, quer und schoben sich übereinander, vor allem auf der linken Seite. Wenn sie lächelt, lächelt sie schief.

Sie setzt sich an ihr Frühstück. An jedem Finger blitzt ein Ring. Dazu glitzernde Armreifen, dazu ein Bindi, ein aufgeklebtes Schönheitsmal, auf der Stirn.

Es war mal wieder tief in der Nacht, erzählt sie, als sie den Rechner ausschaltete – ihr Vater hat ihr für den Computer einen Barhocker mit einer Lehne besorgt, dazu eine kleine Trittleiter. Wenn die anderen schlafen, kostet sie die Stille der Nacht aus, klettert auf ihr Stühlchen, telefoniert wispernd, chattet mit Freunden in Rom oder Tokio, lernt englische Wörter – es ist ein zweites Leben, in dem sie ihre Berühmtheit vermehrt, verwaltet. Seit ihre Winzigkeit offiziell ist, habe die Zahl der Angebote für Auftritte sich verdreifacht, erzählt ihr Vater.

Am 16. Dezember 2011 nahmen am Wockhardt-Hospital in Nagpur der Orthopäde Dr. Manoj Pahukar und der angereiste Guinness-Lizenzenchef Rob Molloy an Jyoti drei Messungen vor. Dann verkündeten sie vor Kameras eine Zahl. Es war Jyotis 18. Geburtstag, und diese 62,8 Zentimeter waren ihr Geschenk: In der Liga der Erwachsenen löste Jyoti die US-Amerikanerin Bridgette Jordan ab, abgeschlagen mit 69 Zentimetern. Jyoti ging als etwa vierzigtausendster Rekord in die Guinness-Datenbank ein, dieses Füllhorn der schrägen Taten und Typen.

Die Guinness-Offiziellen unterscheiden Rekorde von Rekorden. Sie haben ihre abgestuften A-, B-, C- und D-Kategorien, und wenn es sich eher um Albernheiten handelt, muss man die Anreise der Guinness-Offiziellen aus eigener Tasche bezahlen. Das schreckt jedoch keinen Aspiranten ab – alle wollen ins Buch, sie streben nach Ruhm und Ewigkeit, die Pfahlsitzer, Dauerduscher und jene, die sich ihre Fingernägel sechs Meter lang wachsen ließen.

Jyoti Amges Kleinheit war spektakulär genug, um die Guinness-Offiziellen auf eigene Kosten nach Indien zu locken, Jyoti sollte unbedingt ins nächste Buch. Das Foto dieses Tages ging um die Welt, für Jyoti war die Ruhmmaschine angeworfen.

Sie frühstückt jetzt in der Küche: einen Teelöffel süßen Käse mit etwas Zucker, zwei oder drei Cashewnüsse. Das Dal Ka Pani, das Linsenwasser, und die Panipuri, Brötchen mit Chilisauce, lässt sie stehen. Trinkt Tee aus einem normal großen Becher, für sie wie ein Maßkrug.

Dann hört man den Vater hupen. Er hat den Wagen vorgefahren, einen neuen, roten Tata Indica GLS.

Wer zu Dr. Jhunjhunwala kommt, der sollte Geduld mitbringen. Er hat seine Praxis im Erdgeschoss eines Ärztehauses an der Gandhibagh Road, in der Innenstadt von Nagpur. An der Eingangstür ein wilder Haufen von Halbschuhen, Sandalen, Gummilatschen, daneben ein hagerer Alter, der Chappal-Guard-Valla, der aufpasst, dass die Straßenkinder die Schuhe nicht klauen. Das Wartezimmer ist überfüllt, Dr. Jhunjhunwala sei kurz weg, sagen die Arzthelferinnen, die am Empfang hinter einem kleinen Blechschreibtisch sitzen. Jyoti will umkehren, aber ihre Eltern setzen sich durch.

Die Luft ist stickig, säuerlich, die Leute sitzen zusammengesackt auf den Sofas, Plastikstühlen. Jene, die nicht ständig husten, sind eingeschlafen. Auch Jyotis Mutter schnarcht bald, mit offenem Mund, auch ihrer Schwester, auf deren Knie Jyoti sitzt, fallen die Augen zu. Die anderen Patienten schauen neugierig herüber, halten sich aber zurück. Jyoti hält sich den Zipfel ihres Pallu, ihres Tuches, vor den Mund. Ihr Vater steht draußen, redet mit dem Schuhwächter und raucht.

Früher hat er Bidis geraucht, jene harzigen Zigaretten, die man hier in Nagpur noch lose und einzeln kaufen kann, Tabak, eingerollt in ein Ebenholz-Blatt. Aber die Bristols sind vornehmer, sind aufstrebende Mittelklasse. Auch den Tata Indica fährt er noch nicht lange; den neuen Wohlstand verdanken sie Jyotis Berühmtheit. Ihre Reisen nach Italien oder Japan, ihre Fernsehauftritte bringen mehr Geld als der Vater je verdient hat – mal bleiben 1000 Dollar, mal 2000 Dollar übrig. Jyotis Vater hat mit einer kleinen Ziegelbrennerei begonnen, zuletzt hatte er eine Spedition, die aber pleiteging. Jyotis Karriere bewahrte die Familie vor der Armut.

Abstürze, Aufstiege, die indische Gesellschaft boomt und ist schneller geworden. Familie Amge lebt in einem Schwellenland, sie spüren den Ehrgeiz, die Gier, die die Gesellschaft umkrempelt. Indien, einst das Land der Gurus, augenrollenden Mystiker und billigen Drogen, ist inzwischen drittgrößte Wirtschaftsmacht in Asien, es gibt Callcenter, Software-Labors und blitzende Restaurants. Die Globalisierung legt Schranken nieder, erschafft neue Phänotypen. Für Jyoti Amge liegt darin die Chance ihres Lebens.

Jetzt wird sie zum Wiegen gerufen. Sie rutscht vom Knie ihrer Schwester, trippelt steifhüftig zu einer Digitalwaage, dem offenbar modernsten Ding in der Praxis, prominent aufgestellt, direkt im Wartezimmer. Jyoti zankt sich mit der Arzthelferin, weil sie Schuhe und Tuch unter den Augen aller nicht ablegen will. Die Arzthelferin zuckt schließlich die Achseln, Jyoti klettert auf die Waage: die Ziffern glühen rot auf, 6,33 Kilo. Jyoti steigt von der Waage, macht ein paar Schritte durchs Wartezimmer, die Beine zu vertreten.

Das ist ein Fehler.

Die Kinder, vor allem die Mütter, die bis eben nur herüberschielten, rücken näher, grienen, stellen Fragen, Jyoti antwortet ausweichend, ihr ist unwohl in dem Gedränge, und sie späht nach ihrer Schwester, aber schnell ist sie umringt, man betastet sie, lacht, streicht ihr übers Haar, zieht an ihrem Zopf. Bitte nicht anfassen, sagt Jyoti.

Bitte nicht anfassen!

Jyoti windet sich, diese großen, grapschenden Hände, die lauten Stimmen.

Nicht anfassen!

Und da, plötzlich, schreit sie, Panik in ihrer Zeichentrickfilmstimme, und ihre Mutter schreckt hoch, ihre Schwester rappelt sich auf, sie retten Jyoti aus dem Gewühl, wütender Wortwechsel, die Arzthelferin hastet dazu, um zu schlichten – und sie verfrachtet schließlich Jyoti und Familie ins erstbeste Behandlungszimmer, Tür zu. An Jyotis Stirn pulsiert eine Ader. Und irgendwann, endlich, ist dann auch der Arzt da.

Mit Situationen wie dieser hat Jyoti oft zu kämpfen. Sie hasst diese Distanzlosigkeit, die in der indischen Kultur angelegt scheint, diese Bereitschaft zur Tuchfühlung, die jederzeit ins Ekstatische umschlagen kann – zweimal hat sie Frauen, die zudringlich wurden, geohrfeigt, ist zischend und fauchend auf sie losgegangen, einmal auf einem Markt in Nagpur, einmal in einer Mall in Mumbai. Die Ohrfeige war ganz schön heftig, daran erinnert sich ihre Schwester. Die Frauen seien verdutzt gewesen, und Jyotis Händchen habe auf der Wange der erwachsenen Frau rote Striemen hinterlassen.

Das Publikum kann eben ein gaandu sein, sagt der Vater, ein Monster. Andererseits braucht Jyoti dieses Monster. Ihr Leben ist aufgebaut auf Zustimmung, auf das Bestauntwerden.

Die Untersuchung wegen ihres Hustens geht schnell vonstatten. Dr. Jhunjhunwala ist ein junger Mann, der die Praxis seines Vater weiterführt. Er hält Jyoti zur Begrüßung einen dicken Finger hin, dann horcht er sie ab, verschreibt ihr ein leichtes Hustenmittel, das war’s.

Sein Vater nahm sich vor 18 Jahren viel Zeit, um das Unbegreifliche zu verstehen. Er war der erste Arzt, dem Schrecken einen Namen zu geben: Achondroplasie. Er hatte den Begriff in einem Fachbuch nachgeschlagen und erzählte den verstörten Eltern Dinge, die sie nicht verstanden. Gene, Mutationen, Vererbung, man könne nichts machen. Nur eine Sache vielleicht.

Sie könnten ihre Tochter lieben. Denn sie sei etwas Besonderes.

Die Eltern Amge nahmen ihr Kind heim, sie hielten eine puja ab, eine Zeremonie, um ein paar Gottheiten günstig zu stimmen. Das Mantra, der gesungene Segensspruch, den sie dazu auswählten, handelt von Licht, und so nannten sie ihre Tochter auch: Jyoti, die Fackel. Von da an nahmen sie es hin. Jyoti war eben so, wie sie war.

Aber warum war sie so?

Ein paar tausend Flugmeilen von Nagpur entfernt, im Osten Deutschlands, im ersten Stock in Haus 20 a an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, sitzen zwei freundliche Herren. Zwei Herren, die sich sehr für Jyoti interessieren und sie gern mal untersuchen würden. Seit acht Jahren erforschen die Professoren Roland Pfäffle und Wieland Kiess in einer Kooperation zwischen den Unis in Leipzig und Chicago Formen von Kleinwuchs. Besonders die Rezeptoren der Wachstumsfaktoren IGF1 und IGF2 interessieren sie. Sie tauchen tief ein in die Welt des mutierten Erbguts, sie denken und sehen die Welt im Nanometerbereich. Und sagen überraschende Dinge.

„Nicht die Mutation an sich ist verblüffend“, sagt Pfäffle.

„Sondern die Tatsache, dass so viel unfallfrei abläuft“, sagt sein Kollege.

„Wenn man bedenkt“, sagt Pfäffle, „wie komplex dieser Prozess ist.“

Der Prozess begann, als eine Samenzelle des Kishen Rao Amge, Jyotis Vater, mutierte. Diese Samenzelle traf irgendwann im März 1993 auf eine Eizelle seiner Frau. Die Informationen von Vater und Mutter wurden neu kombiniert und von nun an, ein Leben lang, an jede Zelle des neuen Organismus weitergegeben. Im Fall von Jyoti Amge, meinen die Leipziger Forscher, spricht vieles dafür, dass die Erbinformation des Vaters in einem einzigen Buchstaben falsch abgelesen war – ein Buchstabe von etwa drei Milliarden, man nennt das eine Punktmutation. Ein beinahe unmerklicher Austausch: als ob man in einem sehr, sehr dicken Buch einen einzigen Buchstaben vertauschen würde – und die Geschichte nähme eine ganz andere Wendung.

Ein einziger Buchstabe. Plötzlich wird man als Jyoti Amge geboren.

Aber warum? Wieso kann so was passieren? Warum vermeidet die Natur solche Lesefehler nicht?

„Weil Mutationen wichtig sind“, sagt Pfäffle. „Wir alle sind Mutanten, jeder scheinbar normale Mensch geht durchs Leben mit Hunderten von Abweichungen, von denen er nichts merkt, weil sie ausgeschaltet sind.“

„Die Natur ist alles andere als pedantisch, sie spielt, probiert Abweichungen aus“, sagt der Forscher in Leipzig, während in Nagpur, Indien, Jyoti Amge, als Abweichung geboren, um ein möglichst normales Leben kämpft.

Aber dieses Leben kriegt sie nur, wenn sie an die Spitze gelangt.

Der nächste Tag, ein Sonntag, in Nagpur wird der „Tag des Kindes“ gefeiert. In der Marana Pratab Hall in der Innenstadt von Nagpur wird am Nachmittag eine Art Messe eröffnet. NGOs und Firmen, Schulen und Stiftungen stellen ihre Projekte vor, Broschüren liegen auf Klapptischen, Hilfe für Straßenkinder, sauberes Trinkwasser, Solarenergie, Lehrerausbildung – Projekte für ein besseres Indien. Und Jyoti ist auch schon da.

Sie hält die Rede, sie ist die Schirmherrin. Es ist ihr nächster Karriereschritt.

Begonnen hat es vor etwa einem Jahr. Damals wurde Jyoti erstmals von einem Politiker angesprochen. Der Mann hieß Ram Kadam, Abgeordneter in Mumbai. Überraschend kam Kadam eines Tages zu ihnen, saß eine Weile im Wohnzimmer, trank höflich Tee, drehte an seinen goldenen Ringen, schließlich fragte er, ob Jyoti sich vorstellen könne, für ihn Wahlwerbung zu machen? Sich mit ihm zu zeigen? Gegen gutes Geld?

Bald sprach sich herum, wie publikumswirksam die Auftritte der kleinen Frau als Polit-Maskottchen waren, und immer mehr Politiker riefen an, boten Geld, wollten sie am liebsten exklusiv. Oder baten, wenigstens nicht für diese oder jene Partei Werbung zu machen. Jyoti musste sich jetzt mit den Parteien beschäftigen, schon um sie unterscheiden zu können. Bald begriff sie, dass Politik eine Art Spiel war, dass man bluffen, schlau sein musste, wie beim Teen Patti, beim indischen Poker, und sie begriff, dass es um Macht ging.

Und wenn sie so gut darin war, für Politiker zu werben, warum nicht für sich selbst werben?

Warum nicht in die Politik gehen?

Ihr Vater trägt sie von Stand zu Stand, gefolgt von einem Tross von Fotografen, Reportern, Organisatoren. An jedem Tapetentisch betrachtet Jyoti artig die Schaubilder, macht Small Talk, wie sie es bei den Politikern abgeschaut hat.

Aha, dieser Wasserfilter könnte in kleinen Dörfern eingesetzt werden, wie interessant.

Aha, dieser Wirkstoff dient zur Vorsorge gegen Tollwut, das ist natürlich gut.

Aha, diese Bilder haben die Kinder selbst gemalt, wie wunderwunderschön.

Dann in den Saal. Es gibt eine Bühne, sie bekommt ein Mikro, und dann hält sie vor ein paar hundert Menschen eine kleine Rede, die sie selbst vorbereitet hat: dass es sie freue, hier zu sein, und wie wichtig solch ein Tag für Indien sei. Aber das Publikum ist hingerissen.

Dann verziehen sich ein paar von den Journalisten, Organisatoren und Fotografen nach draußen, um im Freien eine Zigarette zu rauchen. Sie unterhalten sich, das Gespräch kreist um Jyoti. Ob sie Chancen hätte in der Politik.

Die Rede war nicht schlecht, sagt einer mit einem gepflegten Schnurrbart. Und die Leute mögen sie.

Das stimmt, sagt ein anderer, der polierte Cowboystiefel trägt, außerdem entstamme sie einer Kaste der Niedriggestellten, das könnte ein Vorteil sein, sie steht für die Unterdrückten.

Jyotis Generation ist in ein System geboren, das sich in Auflösung befindet, ein Kastensystem, das zuvor seit Jahrhunderten existierte, mit vier Hauptkasten und Tausenden von Unterkasten. Und vor allem mit ewigen Regelkatalogen – warum dieser Mann weniger wert sei als jener, warum dieses Mädchen nicht aus dem Dorfbrunnen trinken dürfe, weil sie nämlich unrein sei.

Auch die Familie Amge gehört zu einer der unteren Kasten. Das bedeutete über Generationen Demütigungen, Nachteile. Plötzlich aber liegt darin eine Chance für Jyoti. Wollte sie in die Politik gehen, hier wären ihre potentiellen Wähler. Es gibt in Indien etwa 200 Millionen Dalits, Benachteiligte aus den unteren Kasten. Und sie haben inzwischen gesehen, wie es der Mittelschicht ergeht, sie sehen im Fernsehen, wie die Reichen leben, sie wollen ihren Anteil.

Ihre Winzigkeit gereicht Jyoti möglicherweise sogar zum Vorteil, dank der indischen Kultur, die noch greller und exotischer ist, als man es vermutet, mit ihren 22 000 Dialekten, 330 Millionen Göttern und 300 Arten, Kartoffeln zuzubereiten. In Indien gehört das Unglaubliche zur Grundausstattung; je schräger jemand, desto besser. Und Jyoti Amge steht für die, die zu kurz gekommen sind.

Wer könnte das, schon durch ihre Existenz, besser ausdrücken?

Jyoti, würden Sie, wenn Sie einen Wunsch hätten, am liebsten normal sein?

„Früher war das ein Gedanke – warum bin ich nicht so wie die anderen? Man will dazugehören. Aber inzwischen will ich vor allem ich selbst sein.“

Der Auftritt beim „Tag des Kindes“, ihre Rede dort, war eine erste Fingerübung im politischen Geschäft, um ihre Bekanntheit auszubauen. Es war ein Erfolg. Trotzdem ist sie erschöpft und froh, wieder im Auto zu sitzen, nach Hause zu fahren. Es dunkelt. Vorbei am Kanal, wo es Stände mit Gur gibt, billigem Schnaps, wo Straßenkinder an den Kreuzungen bettelnd ihre verstümmelten Hände ans Autofenster halten oder Kränze mit Ringelblumen verkaufen. Jyotis Vater, am Steuer, blickt durch sie hindurch.

Dort hinten liegt der Slum, eine Hüttenstadt im Schlamm. Jeden Tag kommen stinkende Lastwagen und laden Tonnen von Müll ab. Die Frauen und Kinder dort durchwühlen den Abfall mit Stäben, an die sie Magnete gebunden haben, auf der Suche nach Metallstückchen.

Jyoti sitzt auf dem Schoß ihrer Schwester, der die Augen zufallen. Jyoti schaut aus dem Fenster, sieht die Welt, in die sie geboren ist, eine grobe, schmutzige und ziemlich mitleidlose Welt, und so viel größer als sie.