Oder gefressen werden

Am 24. August dieses Jahres, gegen halb zehn Uhr morgens, ging Kamla Devi zu ihrem bevorzugten Waschplatz am Koti-Fluss. Sie wollte später noch auf dem Feld arbeiten; also trug sie neben ihrem Wäschekorb eine Tasche, in der sie Schaufel und Sichel verstaut hatte.

Sie hatte den Sari und die Hemden gerade eingeweicht, als sie links hinter sich eine Bewegung wahrnahm, ein tiefes Knurren hörte. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte.

Kamla Devi wurde hier geboren, wuchs hier auf – im Bergdorf Kiroda im Bezirk Rudraprayag, Nordindien, am südlichen Saum des Himalaja. Etwa 200 Familien wohnen im Dorf, die meisten leben von dem, was ihre Felder hergeben. Die Wildnis beginnt dahinter, der Wald, Heimat des Schwarzbären, der Wolfsschlange, des Rhesusaffen – und Jagdrevier des Guldar, des Getüpfelten, wie die Leute ihn hier nennen, Panthera pardus, den Leoparden. Körperlänge: bis zu 195 Zentimetern. Länge der Krallen: etwa 6 Zentimeter.

 

Kamla Devi fuhr herum. Der Leopard war etwa drei Meter von ihr entfernt, er presste sich an die Erde, fixierte sie. Der Schweif zuckte, schlug, daran erinnert sie sich. Das Tier kroch näher, noch näher, kroch ganz langsam auf sie zu, bereit, sofort zu springen, seine geballte Kraft zu entladen. Kamla Devi ließ das Tier nicht aus den Augen, tastete vorsichtig nach ihrer Umhängetasche, die am Ufer lag.

In ihrer Jugend, erzählen Nachbarn, sei Kamla ein lustiges Mädchen gewesen, das gern lachte, sogar Vogelstimmen nachmachen konnte. Sie heiratete früh, ihr Mann war wesentlich älter als sie, er starb vor beinahe 30 Jahren; sie war damals erst Mitte zwanzig. Sie hatten nur ein Kind, einen Sohn, Dinesh Singh, der inzwischen in der Stadt lebt.

Kamla durfte weiterhin in dem Haus, das ihrem Mann und seinen sechs Brüdern gehört hatte, wohnen, sie konnte dort Dinesh aufziehen. Nur ihren Unterhalt musste sie selbst verdienen. Sie bekam als Erbe drei Gunta Land, etwa 300 Quadratmeter, darauf baut sie Kartoffeln, Bohnen, Weizen an; und sie hat zwei Milchkühe, deren Milch sie verkauft oder zu Joghurt und Käse verarbeitet. Die Kühe brauchen viel Futter: Kamla Devi verlässt darum nie ihr Haus ohne ihre Sichel, ohne ein Seil – überall schneidet sie Gras und Grünzeug und trägt es, zu Büscheln gebunden, heim.

Leoparden lauern entweder ihrer Beute auf, von einem Versteck aus; oder sie pirschen sich von hinten an. Im Vergleich zu einem Reh oder Hirsch, einem relativ häufigen Beutetier, sind Leoparden zwar auf den ersten zwei, drei Metern sehr schnell, aber schon auf mittlere Distanz unterlegen. Sie müssen vor ihrem Angriff also so nah wie möglich kommen – falls das Beutetier davonsprintet. Was der Leopard nicht zu wissen schien: dass Kamla Devi nur ein Mensch war, eine kleine, abgearbeitete Frau von 54 Jahren, und dass Kamla Devi gar nicht hätte davonspringen können, beim besten Willen nicht. Dass sie gezwungen war zu kämpfen.

Inzwischen hielt sie Sichel und Schaufel gepackt. Keine Sekunde zu früh. Der Leopard sprang.

Er sprang, er flog auf sie zu, die vorderen Tatzen gestreckt, die Krallen ausgefahren. Kamla Devi schlug zu, mit beiden Händen, das Sichelblatt sauste durch die Luft. Sie traf eine der vorderen Tatzen. Wütendes Fauchen. Sie fiel nach hinten, rappelte sich schnell wieder auf, der Leopard war vor ihr gelandet, sie blutete, aber das Tier hatte den Biss in ihren Hals, der tödlich hätte sein können, nicht anbringen können.

Kamla Devi hat ein hartes Leben hinter sich. Sie habe in letzter Zeit müde gewirkt, erzählen Nachbarn, sagen Freunde, vielleicht habe sie das Alter gespürt, das Nahen des Todes, um im Sterben ihre Seele, das Atman, an den Schöpfer Brahma zurückzugeben, um, wie die Hindus glauben, in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden.

Doch im Angesicht des Leoparden entbrannte in ihr ein starker Lebenswille, so erzählt sie es. Als ob das Leben selbst sich wehren würde, vor die Wahl gestellt: kämpfen oder gefressen werden. Sie wollte nicht Futter sein.

So entbrannte am Waschplatz ein Kampf, ruppig, tödlich, ein Kampf, den man sich, auch nach Schilderungen von Kamla Devi, die sich genau erinnert, nur in Umrissen vorstellen kann.

Der Leopard umkreiste sie. Wartete auf seine Chance, startete immer wieder Angriffe, Scheinangriffe oder echte Attacken, vor allem auf Gesicht und Kopf, Tatzenschläge, mit einer oder beiden Tatzen, Schläge, die Kamla abwehrte, mit Sichel und Schaufel. Blut lief ihr in die Augen. Die Tatzenschläge trafen sie auf Arme und Hände, wie Stockhiebe, brachen ihr die Finger, die Unterarme, rissen ihr die Haut ab. Aber sie traf den Leoparden ebenfalls, sie zielte mit der Sichel vor allem auf die Augen, traf das Maul, den Schädel, traf die Vorderläufe. Minute um Minute. Kamla Devi: eine kleine, magere, früh gealterte, tapfere Bäuerin. Zäh, sehnig zwar, aber doch nur ein Mensch.

Der Kampf dauerte etwa eine halbe Stunde. Irgendwann ließ das Tier von ihr ab. Beide waren schwer verletzt, kraftlos. Dorfbewohner fanden den Leoparden noch am selben Tag unweit des Waschplatzes tot auf einem Felsen, wahrscheinlich hatte Kamla eine Arterie getroffen, wahrscheinlich war das Tier verblutet. Kamla Devi schleppte sich ins Dorf, man brachte sie ins Srinagar Medical College. Ihre Hände und Arme wurden gegipst, ihre Kopfhaut mit 50 Stichen von Dr. Panshul Jugran genäht.

Man feierte sie als Heldin. Von der Regierung wurden ihr 5000 Rupien versprochen, 64 Euro. Sie wartet noch auf das Geld, aber das sei nicht wichtig, erzählt sie. Und was ist wichtig? „Dass ich lebe“, sagt sie.