Der Traum eines Riesen

Wie immer standen Menschen um ihn herum, sie kicherten, zeigten mit dem Finger auf ihn, konnten sich nicht satt sehen. Er lächelte geduldig. Man durfte ihn auch fotografieren, für 200 Dinar, etwa zweieinhalb Euro. Er gähnte.

Die Sonne schien, er stand auf dem Marktplatz von Tizi Ouzou, auf seinem Arm saß ein Mädchen. Es war fünf oder sechs, es zappelte, das tat es oft, doch es war noch so klein, dass er das Gewicht nicht spürte. Aber am Abend würde sein Rücken wieder wehtun.

Er trug seinen einzigen Anzug, dunkelgrau, darunter sein helles Hemd, alles maßgeschneidert: Mounir Fourar, 30 Jahre alt, von Beruf Riese.

Um die Mittagszeit, er wollte gerade in den Schatten schlurfen, kamen die beiden Männer.

„Salam aleikum“, sagten sie, sie seien Journalisten. Und hießen Christian und Hocine, sie kämen gerade aus Algier, arbeiteten für Agence France Press, die bedeutende französische Nachrichtenagentur, ob er die kenne? Außerdem für eine Schweizer Zeitung, „Le Temps“. Ob er ihnen ein Interview geben könne?

Mounir Fourar ließ sich alles wiederholen, alle sprachen immer so schnell, vielleicht, weil sie klein waren. Und als er verstanden hatte, setzte er das Mädchen ab, behutsam, wie man ein noch nicht flügges Vögelchen auf den Boden setzt. Und sprach: „Sie müssen mir helfen.“ Die beiden Reporter starrten ihn an.

„Die Welt“, fuhr der Riese fort, „muss endlich erfahren, dass ich der größte Mensch bin. Ich will beim Film arbeiten, nach Paris reisen, den Eiffelturm sehen – es wäre sehr wichtig für mich.“

Es klang wie eine Bitte, es war in Wahrheit ein Hilferuf. Holt mich raus aus meinem Leben.

Dieses Leben begann am 28. November 1972, an diesem Tag gebar Hourida Fourar ihrem Mann Saïd, Fabrik- und Transportarbeiter, in ihrem Haus in der Messaoud-Straße in Batna ihr drittes Kind. Sie nannten es Mounir. Das Kind war gesund, die Hebamme badete es, rieb es mit Salz ab und gratulierte dem Vater.

Mounir war sanft und freundlich. Er ging gern zur Schule, manchmal spielte er Fußball, häufig lag er auf seinem Bett und träumte. Zum Beispiel von Michel Platini, dem Regisseur der französischen Nationalelf, dem Zauberer von Turin; der kleine Junge träumte davon, wie Platini zu sein, der Größte.

Akromegalie ist eine Krankheit der Hirnanhangsdrüse. Neben Riesenwuchs können symptomatisch Müdigkeitsanfälle und Sehschwächen auftreten, der so genannte Tunnelblick.

Mounir wuchs auf in der Kleinstadt Aïn Touta, die ersten zehn Jahre seines Lebens genoss er den Luxus der Normalität. Er war wie alle, er war glücklich.

Dann ging es los.

Mit 11 überragte er seinen Bruder, zwei Jahre älter als er. Mit 12 überholte er seine Schwester, sieben Jahre älter. Mit 13 überragte er seinen Vater, und er wuchs weiter, weiter.

Oft war er müde, die Eltern nahmen ihn von der Schule, brachten ihn zum Arzt. Mounir wurde am Kopf operiert, um den Hormonausstoß der Drüse zu stoppen, vergebens. Er bekam 31 Bestrahlungen, seitdem wächst ihm kein Bart. Mounir, der Riese mit dem Kindergesicht, wuchs weiter, er litt unter Rückenschmerzen, unter Sehstörungen. Manchmal war die Welt ein dunkles Etwas, als würde er in einen Tunnel blicken: War das sein Schicksal?

Die Eltern verboten ihm das Fußballspielen, Mounir schloss sich oft in seinem Zimmer ein, lag auf dem Bett und wuchs. Mit 16 bückte er sich unter den Türen hindurch. Mit 17 fuhren sein Vater und er nach Khenchela. Wo ein Schreiner, kopfschüttelnd, Mounirs Maße nahm und ein extrastabiles Riesenbett baute. Der Schreiner berechnete nichts für die Arbeit, er hatte Mitleid.

Mounir war etwa 20, als eine Messung im Hospital von Aïn Adja 2,44 Meter ergab. Seine Anzuggröße liegt bei 160, die Schuhgröße bei 64, statt Socken trägt er Fußballstutzen. Er hält Diät, wegen seines Rückens darf er nicht dick werden, schon jetzt wiegt er 180 Kilo, dafür sind Bandscheiben nicht geschaffen.

So zieht Mounir Fourar, der Riese, über die Marktplätze Algeriens, verdient seinen Lebensunterhalt, indem die Leute über ihn staunen und lachen, weil sie sich sonst fürchten müssten. Nach Feierabend geht er ins Café, trinkt Tee, spielt Domino, die schwarzen Steine sind so klein und hübsch und akkurat, und am Ende passt alles zusammen. Mounir Fourar liebt dieses Spiel. Andererseits muss es mehr im Leben geben, erst recht für einen Riesen.

Das „Guinness-Buch der Rekorde“ verzeichnet als größten Mann der Welt den Tunesier Radhouane

Charbib, 2,36 Meter.

„Der ist acht Zentimeter kleiner“, erklärte Mounir Fourar den Reportern auf dem Marktplatz von Tizi Ouzou, „sein Titel gebührt mir.“ Und er erzählte ihnen von seinen zwei großen Wünschen. Der eine: Geld verdienen, einen Minibus kaufen, zurück nach Aïn Touta gehen und die Kinder zum Kindergarten und zur Schule kutschieren. „Ich liebe Kinder“, sagte er, „und sie haben Respekt vor mir.“

Die Reporter versprachen, die Nachricht in der Welt zu verbreiten.

Und dann, beim Abschied, beugte Mounir Fourar sich hinab auf die Höhe von 1,70 Metern, zu dem Reporter Christian Lecomte aus Genf, und er vertraute ihm seinen zweiten Wunsch an:

„In der Schweiz“, fragte er leise, „gibt es dort vielleicht große Frauen?“ Und der Reporter blickte in das Kindergesicht des Riesen, ihm fiel keine Antwort ein.