Mit den Waffeln einer Frau
Bilder aufhängen, Geschirr einräumen, den Fernseher anschließen – zwei Tage zuvor ist Ashley Smith eingezogen, eineinhalb Zimmer, 3414 Ridgebrook Trail, in Duluth, einem Vorort im Nordosten von Atlanta, Georgia.
Es ist der Morgen des 11. März 2005, ein kräftiger Wind geht. Der Himmel soll noch aufklaren. Draußen singen die Vögel. „Blutiger Freitag“, so werden Reporter diesen Tag später nennen.
Ashley mag die Gegend. Und die neuen Nachbarn sind nett. Der von oben hat ihr sogar bei den schweren Kartons geholfen; viel irdische Habe hat sie ohnehin nicht. Ashley Smith: 26 Jahre jung, blond, hübsch, schlägt sich als Kellnerin durch, nebenbei Ausbildung zur Krankenschwester. Ashley hat ihr Leben im Griff, endlich. Auf ihrem Nachttisch liegt jetzt immer eine Bibel.
Vor vier Jahren verlor Ashley Smith ihren Mann; ein Überfall, ein Handgemenge, ein Messerstich. Ihre gemeinsame Tochter war damals gerade ein Jahr alt. Inzwischen malt Paige bunte Bilder und lebt bei Ashleys Tante, etwa zwei Autostunden entfernt – so schrecklich weit ist das ja gar nicht, und wozu gibt es Telefone, nur manchmal ist es kaum zum Aushalten.
Aber es wird Paige hier gefallen. Und in ein, zwei Jahren, sobald Ashley ihre Ausbildung beendet hat, wird sie ihre Tochter zu sich holen, für immer.
Ashley Smith drückt ihre Zigarette aus, dann macht sie sich ans Einräumen.
Zur selben Zeit wird Brian G. Nichols, 33 Jahre alt, schwarz, 95 Kilogramm schwer, muskelbepackt, aus dem Gefängnis ins Justizgebäude von Atlanta, 141 Pryor Street, überführt. Die Anklage lautet auf Vergewaltigung. Das Verfahren soll Richter Rowland Barnes führen. Angeblich liegen gegen Nichols noch 18 weitere Anklagen vor, angeblich sind die Beweise erdrückend.
Gegen 8.50 Uhr wird Nichols, noch im Gefängnisoverall, von Sheriff’s Deputy Cynthia Hall, 51, in eine „Holding Cell“ geführt. Er soll sich umziehen für den Prozess. Cynthia Hall verhält sich wahrscheinlich genau nach Dienstanweisung: Sie schließt erst ihre Waffe weg, Kaliber .40, steckt dann den Schlüssel ein, dann erst löst sie Nichols‘ Handschellen.
Das Justizgebäude wird videoüberwacht, auch die Holding Cells. Doch etwa zwischen 8.55 und 9.00 Uhr sitzt zufällig nur ein Mann im Monitorraum, Deputy Paul Tamer, der alle Bildschirme im Auge behalten und außerdem Telefonate entgegennehmen muss. So übersieht Tamer, was sich auf einem dieser 52 Monitore abspielt: Cynthia Hall wird von Nichols, dem ehemaligen Footballspieler, ehemaligen Karatekämpfer, überwältigt und schwer verletzt.
Mit Halls Waffe aus dem Schließfach spurtet Nichols los. Es ist kurz nach neun. Er findet den Raum 8-H und erschießt seinen Richter, tötet auch die Gerichtsstenotypistin Julie Brandau, 46. Er rennt weiter. Die Feuertreppe hinab, sieben Etagen. Er öffnet eine Nottür. Alarm schrillt. Sheriff’s Deputy Hoyt Teasley, 43, stämmig, schnurrbärtig, ist zufällig in der Nähe, Nichols erwischt Teasley mit mehreren Schüssen, Bauch, Unterleib. Teasley ist der dritte Tote.
In mir lebt ein Dämon, soll Nichols einem seiner früheren Opfer zugeraunt haben.
Zwischen 9.05 und 9.20 Uhr wechselt Nichols fünfmal sein Fluchtfahrzeug. Er kidnappt, stets mit der Waffe die schlotternden Fahrer verjagend, zuerst einen Mazda, dann einen Ford Pick-up, eine Mercury Limousine, einen Isuzu Geländewagen, zuletzt einen grünen Honda Accord. 13 Stunden lang wird nach diesem Honda Accord gefahndet werden; tatsächlich hat Nichols ihn längst im Centennial-Parkhaus abgestellt und ist mit der U-Bahn davon.
1600 Polizisten aus Atlanta, etwa so viele aus dem County, dazu die Fahnder der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein Spezialkommando und das FBI: Schätzungsweise 7000 Männer und Frauen jagen Brian Nichols. Profiler durchstöbern seine Akte, filzen seine Zelle, kontaktieren sein Umfeld. Nichols soll religiöse Anwandlungen haben, erfahren sie. Kirchen werden beobachtet, Straßen gesperrt. Es wird dunkel.
Es ist tiefe Nacht, als Ashley Smith mit Einräumen fertig ist, gegen zwei Uhr gehen ihr auch noch die Zigaretten aus. Als sie aus dem Drugstore zurückkehrt und ihren Wagen abschließt, fühlt sie den Lauf einer Waffe. Nichols drängt sie in ihre Wohnung.
Sie muss sich in die Badewanne legen, er fesselt sie mit Klebeband, sie sieht ihn an, sie beginnt halblaut zu beten, betet für sich, für ihn. Er starrt sie an. Setzt sich neben sie.
Ich – bin kein wildes Tier.
Nichols redet, erst noch stockend, dann drängender. Ashley hört zu, sie stellt Fragen, sie hört zu. Sie erzählt von sich, von ihrer Tochter, der Verzweiflung, als ihr Mann starb, und sie bleibt ziemlich ruhig – Ashley Smith ist die perfekte Geisel.
Sagen Sie mir, was wird mit Paige, falls Sie mich töten?
Der Morgen graut, irgendwann löst Nichols ihre Fesseln. Sie setzen sich vor den Fernseher. Sondersendungen, Warnungen, Nichols hat einen vierten Menschen umgebracht, heißt es, auf allen Sendern ist sein Gesicht, kalt, grimmig.
Ich bin erledigt, tot.
Das sind Sie nicht.
Ashley schaltet aus, holt ein Buch, schlägt Seite 257 auf, beginnt zu lesen. Matthäus Kapitel 7, Vers 16: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Die Geisel liest vor, der Killer hört zu.
Etwa um acht Uhr morgens macht sie Frühstück, frische Waffeln. Der Duft nach Teig und Gebackenem erfüllt die kleine Wohnung. Nichols isst, es schmeckt wunderbar, es schmeck ihm, als könnte noch einmal alles gut werden. Und dann lässt er Ashley gehen. Als die Polizei eintrifft, hält er ein weißes T-Shirt ans Fenster. Von dem Geschmack der Waffeln, heisst es, habe er noch lange gezehrt.