Jyoti, 62,8 cm

Das Haus, in dem sie schläft, Jyoti Amge, die Frau mit dem seltsamsten Schicksal der Welt, dieses Haus liegt in der Kalkutta Road, in einem der Armenviertel von Nagpur, mittendrin in Indien. Das Haus ist umgeben von einer weißen Mauer, nicht sehr hoch. Dahinter ein enger Innenhof. Rechts im Hof befindet sich ein ummauertes Loch im Boden, die Außentoilette, zum Hinhocken. Die Tür zum Haus ist abgeschlossen, die Vorhänge sind zugezogen. Ihr Vater und Manager kommt aus dem Seiteneingang.

Er ist barfuß, im Unterhemd, er tritt vors Haus, Kishen Narayen Amge, oder Mister Amge, wie er sich nennen lässt, rundes Gesicht, runder Bauch, die Füße sind breit und groß, mit rissigen Fersen. Er zündet sich eine Bristol-Zigarette an, blinzelt in die Sonne, kratzt sich am Bauch. Zwei Jungs laufen vorbei, die Haare stehen ihnen starr ab vom Staub. Sie haben einen Plastikfußball, den sie auftitschen lassen – als sie Mister Amge sehen, grüßen sie ehrerbietig. Amge nickt ihnen grimmig zu.

„Die Nachbarn – erst hatten alle Angst vor meiner Tochter, vor dem bösen Blick. Sie hielten sie für einen Dämon.“

Und heute?

„Manche fürchten sie, aber die meisten sehen in ihr eine Göttin, sie kommen, verneigen sich vor ihr, wollen ihre Füße berühren, ihr dharma, ihren Segen. Aber sie ist keine Göttin.“

Was ist sie denn, Mister Amge?

Er schnippt die Zigarette auf die Straße.

„Kommen Sie“, sagt er.

Das Zimmer, in dem Jyoti Amge schläft, ist eigentlich der schönste Raum im Haus, mit Sofa, Fernseher, Computer. Gleichzeitig ist es Jyotis Schlafzimmer, und sie hat sich in letzter Zeit angewöhnt, morgens lange auszuschlafen, also bleiben die Vorhänge jetzt zugezogen, und alle flüstern und schleichen auf Zehenspitzen durchs Haus und geben sich Mühe, den Teekessel leise abzustellen.

Das Bett, in dem Jyoti Amge schläft, steht auf kleinen, gedrechselten Füßen, es misst 40 mal 80 Zentimeter, kaum größer als ein Teetablett, aber sie kann sich bequem ausstrecken – Jyoti Amge, 18 Jahre alt, 62,8 Zentimeter groß, kleinste Frau der Welt.

„Da, in dem Kästchen schläft sie. Ich weck sie jetzt“, sagt ihr Vater.

 

62,8 Zentimeter: ein Urteilsspruch. Die Ratten, die an den Ufersäumen des Nag-Kanals in ausgedehnten Kolonien leben, sind für Jyoti so groß wie Ferkel, und die Kühe, die heilig und unbehelligt durch die Straßen trotten, ragen vor ihr auf wie Lastwagen – nur, dass die Lastwagen scharfe Hufe haben und hintrampeln und -scheißen, wie es ihnen passt. Ein Plastikball, von einem Nachbarjungen mit Schwung geschossen, könnte Jyoti durch die Luft schleudern, zerschmettern. Ihre Knochen heilen langsam. Vor sechs Jahren hatte sie einen Beinbruch, die Beinschiene, die Dr. Jhunjhunwala ihr anlegte, muss sie heute noch tragen.

Sie ist in eine Welt gesetzt, die nicht für sie gemacht ist. Es ist ein Leben wie unter einem Verhängnis. Sicherlich kann man eine Behinderung meistern, kann „damit leben“, wie es oft heißt; aber Jyoti Amge hat mehr geleistet als das. Sie musste sich neu erfinden. Sie wird jetzt zu einem Wesen, das es so noch nie gab.

Ihr Vater hat sie geweckt, sehr behutsam. Sie sitzt auf dem Bett, gähnt, die Decke um ihre schmalen Schultern gelegt.

Der Vater holt ein Fotoalbum aus dem Regal, Jyotis Leben von Geburt an.

Die ersten Fotos zeigen ein erschrockenes Kind, voller Angst vor seiner Andersartigkeit. Da ist das Klassenzimmer, ein karger Raum. Sie ist etwa zehn oder zwölf Jahre alt. Die anderen Mädchen sitzen in den Bänken, für Jyoti haben sie ein winziges Pult in den Mittelgang gestellt. Dann aber, Jahr für Jahr, hat sie mehr Freundinnen, sieht man sie frecher, selbstbewusster in die Kamera lächeln.

Schließlich, dritter Teil: Sie wird zum Star.

Inzwischen nimmt sie Songs auf mit einem der berühmtesten indischen Popstars, sie zeigt sich mit Politikern, und sie tourt um die Welt. Im Frühjahr nach Rom, Mailand, Mumbai, Tokio, wo Fernsehsender sie einladen, sie hat jetzt schon mehr von der Welt gesehen als irgendein anderes Mädchen aus ihrer Klasse. Sie spricht an Schulen, besucht Universitäten. Die Leute wollen sie bestaunen, berühren, mit einer Mischung aus Verzücktheit und Grusel. Jyoti Amge, die Mutantin, der Freak der Herzen.

Sie hustet. Hält sich wohlerzogen die Hand vor den Mund. Ihre Finger sind sehr kurz, aber kräftig, die Haut runzlig.

Jyoti, wir müssen am Nachmittag noch zum Arzt, sagt ihr Vater. Und dass er schon in der Praxis angerufen habe.

Ich will aber nicht.

Als hätte sie Helium geatmet, so klingt ihre Stimme, fiepend, man denkt unwillkürlich an ein Tierchen aus einem Zeichentrickfilm. Ihre Stimmbänder müssen sehr kurz sein.

Ich will dort nicht hin.

Ihre Mutter kommt hinzu, stämmig, energisch, mit schweren Ohrringen, in einem golddurchwirkten Sari, Schatten unter den Augen. Die ersten Jahre nach Jyotis Geburt waren nicht leicht für die Eltern, sie hatten vier Kinder, drei Mädchen, einen Jungen, alles war normal, und dann kam plötzlich dieses seltsame Kind auf die Welt, eineinhalb Kilogramm schwer, war abergläubischen Vermutungen ausgesetzt. Wo kam dieses Kind oder Wesen her?

Schließlich gibt Jyoti nach. Sie seufzt, bückt sich nach ihren weißen Schuhen, Schuhgröße 21, etwas zu groß für sie, aber sie trägt darin Einlagen.

Der Vater schlurft hinaus und ruft die Schwester.

Ihre Morgentoilette kann Jyoti Amge nicht allein bewältigen. Zwar geht sie allein aufs Klo, aber am Waschbecken im Hof muss Rupali, ihre drei Jahre ältere Schwester, ihr helfen, sie muss sie hochheben, halten. Jyoti wäscht sich Gesicht, Arme, Hände. Die Proportionen der Glieder zum Rumpf sind beinahe normal, ihr Gesicht ist von einer puppenhaften, etwas zerknautschten Anmut.

Und sie ist warmherzig. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man sofort hat.

Sie kämmt sich vor dem fleckigen Spiegel das Haar, flicht sich Bänder hinein. Greift dann zu der grünen Zahnbürste. Ihre Zähne sind zu groß für den schmalen Kiefer, als hätten sie von der Wachstumsverweigerung, die im Embryonalstadium den Organismus überkam, nichts mitbekommen. Ihre Zähne wuchsen, während ihr Körper stehenblieb, sie wuchsen schief, quer und schoben sich übereinander, vor allem auf der linken Seite. Wenn sie lächelt, lächelt sie schief.

Sie setzt sich an ihr Frühstück. An jedem Finger blitzt ein Ring. Dazu glitzernde Armreifen, dazu ein Bindi, ein aufgeklebtes Schönheitsmal, auf der Stirn.

Es war mal wieder tief in der Nacht, erzählt sie, als sie den Rechner ausschaltete – ihr Vater hat ihr für den Computer einen Barhocker mit einer Lehne besorgt, dazu eine kleine Trittleiter. Wenn die anderen schlafen, kostet sie die Stille der Nacht aus, klettert auf ihr Stühlchen, telefoniert wispernd, chattet mit Freunden in Rom oder Tokio, lernt englische Wörter – es ist ein zweites Leben, in dem sie ihre Berühmtheit vermehrt, verwaltet. Seit ihre Winzigkeit offiziell ist, habe die Zahl der Angebote für Auftritte sich verdreifacht, erzählt ihr Vater.

Am 16. Dezember 2011 nahmen am Wockhardt-Hospital in Nagpur der Orthopäde Dr. Manoj Pahukar und der angereiste Guinness-Lizenzenchef Rob Molloy an Jyoti drei Messungen vor. Dann verkündeten sie vor Kameras eine Zahl. Es war Jyotis 18. Geburtstag, und diese 62,8 Zentimeter waren ihr Geschenk: In der Liga der Erwachsenen löste Jyoti die US-Amerikanerin Bridgette Jordan ab, abgeschlagen mit 69 Zentimetern. Jyoti ging als etwa vierzigtausendster Rekord in die Guinness-Datenbank ein, dieses Füllhorn der schrägen Taten und Typen.

Die Guinness-Offiziellen unterscheiden Rekorde von Rekorden. Sie haben ihre abgestuften A-, B-, C- und D-Kategorien, und wenn es sich eher um Albernheiten handelt, muss man die Anreise der Guinness-Offiziellen aus eigener Tasche bezahlen. Das schreckt jedoch keinen Aspiranten ab – alle wollen ins Buch, sie streben nach Ruhm und Ewigkeit, die Pfahlsitzer, Dauerduscher und jene, die sich ihre Fingernägel sechs Meter lang wachsen ließen.

Jyoti Amges Kleinheit war spektakulär genug, um die Guinness-Offiziellen auf eigene Kosten nach Indien zu locken, Jyoti sollte unbedingt ins nächste Buch. Das Foto dieses Tages ging um die Welt, für Jyoti war die Ruhmmaschine angeworfen.

Sie frühstückt jetzt in der Küche: einen Teelöffel süßen Käse mit etwas Zucker, zwei oder drei Cashewnüsse. Das Dal Ka Pani, das Linsenwasser, und die Panipuri, Brötchen mit Chilisauce, lässt sie stehen. Trinkt Tee aus einem normal großen Becher, für sie wie ein Maßkrug.

Dann hört man den Vater hupen. Er hat den Wagen vorgefahren, einen neuen, roten Tata Indica GLS.

Wer zu Dr. Jhunjhunwala kommt, der sollte Geduld mitbringen. Er hat seine Praxis im Erdgeschoss eines Ärztehauses an der Gandhibagh Road, in der Innenstadt von Nagpur. An der Eingangstür ein wilder Haufen von Halbschuhen, Sandalen, Gummilatschen, daneben ein hagerer Alter, der Chappal-Guard-Valla, der aufpasst, dass die Straßenkinder die Schuhe nicht klauen. Das Wartezimmer ist überfüllt, Dr. Jhunjhunwala sei kurz weg, sagen die Arzthelferinnen, die am Empfang hinter einem kleinen Blechschreibtisch sitzen. Jyoti will umkehren, aber ihre Eltern setzen sich durch.

Die Luft ist stickig, säuerlich, die Leute sitzen zusammengesackt auf den Sofas, Plastikstühlen. Jene, die nicht ständig husten, sind eingeschlafen. Auch Jyotis Mutter schnarcht bald, mit offenem Mund, auch ihrer Schwester, auf deren Knie Jyoti sitzt, fallen die Augen zu. Die anderen Patienten schauen neugierig herüber, halten sich aber zurück. Jyoti hält sich den Zipfel ihres Pallu, ihres Tuches, vor den Mund. Ihr Vater steht draußen, redet mit dem Schuhwächter und raucht.

Früher hat er Bidis geraucht, jene harzigen Zigaretten, die man hier in Nagpur noch lose und einzeln kaufen kann, Tabak, eingerollt in ein Ebenholz-Blatt. Aber die Bristols sind vornehmer, sind aufstrebende Mittelklasse. Auch den Tata Indica fährt er noch nicht lange; den neuen Wohlstand verdanken sie Jyotis Berühmtheit. Ihre Reisen nach Italien oder Japan, ihre Fernsehauftritte bringen mehr Geld als der Vater je verdient hat – mal bleiben 1000 Dollar, mal 2000 Dollar übrig. Jyotis Vater hat mit einer kleinen Ziegelbrennerei begonnen, zuletzt hatte er eine Spedition, die aber pleiteging. Jyotis Karriere bewahrte die Familie vor der Armut.

Abstürze, Aufstiege, die indische Gesellschaft boomt und ist schneller geworden. Familie Amge lebt in einem Schwellenland, sie spüren den Ehrgeiz, die Gier, die die Gesellschaft umkrempelt. Indien, einst das Land der Gurus, augenrollenden Mystiker und billigen Drogen, ist inzwischen drittgrößte Wirtschaftsmacht in Asien, es gibt Callcenter, Software-Labors und blitzende Restaurants. Die Globalisierung legt Schranken nieder, erschafft neue Phänotypen. Für Jyoti Amge liegt darin die Chance ihres Lebens.

Jetzt wird sie zum Wiegen gerufen. Sie rutscht vom Knie ihrer Schwester, trippelt steifhüftig zu einer Digitalwaage, dem offenbar modernsten Ding in der Praxis, prominent aufgestellt, direkt im Wartezimmer. Jyoti zankt sich mit der Arzthelferin, weil sie Schuhe und Tuch unter den Augen aller nicht ablegen will. Die Arzthelferin zuckt schließlich die Achseln, Jyoti klettert auf die Waage: die Ziffern glühen rot auf, 6,33 Kilo. Jyoti steigt von der Waage, macht ein paar Schritte durchs Wartezimmer, die Beine zu vertreten.

Das ist ein Fehler.

Die Kinder, vor allem die Mütter, die bis eben nur herüberschielten, rücken näher, grienen, stellen Fragen, Jyoti antwortet ausweichend, ihr ist unwohl in dem Gedränge, und sie späht nach ihrer Schwester, aber schnell ist sie umringt, man betastet sie, lacht, streicht ihr übers Haar, zieht an ihrem Zopf. Bitte nicht anfassen, sagt Jyoti.

Bitte nicht anfassen!

Jyoti windet sich, diese großen, grapschenden Hände, die lauten Stimmen.

Nicht anfassen!

Und da, plötzlich, schreit sie, Panik in ihrer Zeichentrickfilmstimme, und ihre Mutter schreckt hoch, ihre Schwester rappelt sich auf, sie retten Jyoti aus dem Gewühl, wütender Wortwechsel, die Arzthelferin hastet dazu, um zu schlichten – und sie verfrachtet schließlich Jyoti und Familie ins erstbeste Behandlungszimmer, Tür zu. An Jyotis Stirn pulsiert eine Ader. Und irgendwann, endlich, ist dann auch der Arzt da.

Mit Situationen wie dieser hat Jyoti oft zu kämpfen. Sie hasst diese Distanzlosigkeit, die in der indischen Kultur angelegt scheint, diese Bereitschaft zur Tuchfühlung, die jederzeit ins Ekstatische umschlagen kann – zweimal hat sie Frauen, die zudringlich wurden, geohrfeigt, ist zischend und fauchend auf sie losgegangen, einmal auf einem Markt in Nagpur, einmal in einer Mall in Mumbai. Die Ohrfeige war ganz schön heftig, daran erinnert sich ihre Schwester. Die Frauen seien verdutzt gewesen, und Jyotis Händchen habe auf der Wange der erwachsenen Frau rote Striemen hinterlassen.

Das Publikum kann eben ein gaandu sein, sagt der Vater, ein Monster. Andererseits braucht Jyoti dieses Monster. Ihr Leben ist aufgebaut auf Zustimmung, auf das Bestauntwerden.

Die Untersuchung wegen ihres Hustens geht schnell vonstatten. Dr. Jhunjhunwala ist ein junger Mann, der die Praxis seines Vater weiterführt. Er hält Jyoti zur Begrüßung einen dicken Finger hin, dann horcht er sie ab, verschreibt ihr ein leichtes Hustenmittel, das war’s.

Sein Vater nahm sich vor 18 Jahren viel Zeit, um das Unbegreifliche zu verstehen. Er war der erste Arzt, dem Schrecken einen Namen zu geben: Achondroplasie. Er hatte den Begriff in einem Fachbuch nachgeschlagen und erzählte den verstörten Eltern Dinge, die sie nicht verstanden. Gene, Mutationen, Vererbung, man könne nichts machen. Nur eine Sache vielleicht.

Sie könnten ihre Tochter lieben. Denn sie sei etwas Besonderes.

Die Eltern Amge nahmen ihr Kind heim, sie hielten eine puja ab, eine Zeremonie, um ein paar Gottheiten günstig zu stimmen. Das Mantra, der gesungene Segensspruch, den sie dazu auswählten, handelt von Licht, und so nannten sie ihre Tochter auch: Jyoti, die Fackel. Von da an nahmen sie es hin. Jyoti war eben so, wie sie war.

Aber warum war sie so?

Ein paar tausend Flugmeilen von Nagpur entfernt, im Osten Deutschlands, im ersten Stock in Haus 20 a an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, sitzen zwei freundliche Herren. Zwei Herren, die sich sehr für Jyoti interessieren und sie gern mal untersuchen würden. Seit acht Jahren erforschen die Professoren Roland Pfäffle und Wieland Kiess in einer Kooperation zwischen den Unis in Leipzig und Chicago Formen von Kleinwuchs. Besonders die Rezeptoren der Wachstumsfaktoren IGF1 und IGF2 interessieren sie. Sie tauchen tief ein in die Welt des mutierten Erbguts, sie denken und sehen die Welt im Nanometerbereich. Und sagen überraschende Dinge.

„Nicht die Mutation an sich ist verblüffend“, sagt Pfäffle.

„Sondern die Tatsache, dass so viel unfallfrei abläuft“, sagt sein Kollege.

„Wenn man bedenkt“, sagt Pfäffle, „wie komplex dieser Prozess ist.“

Der Prozess begann, als eine Samenzelle des Kishen Rao Amge, Jyotis Vater, mutierte. Diese Samenzelle traf irgendwann im März 1993 auf eine Eizelle seiner Frau. Die Informationen von Vater und Mutter wurden neu kombiniert und von nun an, ein Leben lang, an jede Zelle des neuen Organismus weitergegeben. Im Fall von Jyoti Amge, meinen die Leipziger Forscher, spricht vieles dafür, dass die Erbinformation des Vaters in einem einzigen Buchstaben falsch abgelesen war – ein Buchstabe von etwa drei Milliarden, man nennt das eine Punktmutation. Ein beinahe unmerklicher Austausch: als ob man in einem sehr, sehr dicken Buch einen einzigen Buchstaben vertauschen würde – und die Geschichte nähme eine ganz andere Wendung.

Ein einziger Buchstabe. Plötzlich wird man als Jyoti Amge geboren.

Aber warum? Wieso kann so was passieren? Warum vermeidet die Natur solche Lesefehler nicht?

„Weil Mutationen wichtig sind“, sagt Pfäffle. „Wir alle sind Mutanten, jeder scheinbar normale Mensch geht durchs Leben mit Hunderten von Abweichungen, von denen er nichts merkt, weil sie ausgeschaltet sind.“

„Die Natur ist alles andere als pedantisch, sie spielt, probiert Abweichungen aus“, sagt der Forscher in Leipzig, während in Nagpur, Indien, Jyoti Amge, als Abweichung geboren, um ein möglichst normales Leben kämpft.

Aber dieses Leben kriegt sie nur, wenn sie an die Spitze gelangt.

Der nächste Tag, ein Sonntag, in Nagpur wird der „Tag des Kindes“ gefeiert. In der Marana Pratab Hall in der Innenstadt von Nagpur wird am Nachmittag eine Art Messe eröffnet. NGOs und Firmen, Schulen und Stiftungen stellen ihre Projekte vor, Broschüren liegen auf Klapptischen, Hilfe für Straßenkinder, sauberes Trinkwasser, Solarenergie, Lehrerausbildung – Projekte für ein besseres Indien. Und Jyoti ist auch schon da.

Sie hält die Rede, sie ist die Schirmherrin. Es ist ihr nächster Karriereschritt.

Begonnen hat es vor etwa einem Jahr. Damals wurde Jyoti erstmals von einem Politiker angesprochen. Der Mann hieß Ram Kadam, Abgeordneter in Mumbai. Überraschend kam Kadam eines Tages zu ihnen, saß eine Weile im Wohnzimmer, trank höflich Tee, drehte an seinen goldenen Ringen, schließlich fragte er, ob Jyoti sich vorstellen könne, für ihn Wahlwerbung zu machen? Sich mit ihm zu zeigen? Gegen gutes Geld?

Bald sprach sich herum, wie publikumswirksam die Auftritte der kleinen Frau als Polit-Maskottchen waren, und immer mehr Politiker riefen an, boten Geld, wollten sie am liebsten exklusiv. Oder baten, wenigstens nicht für diese oder jene Partei Werbung zu machen. Jyoti musste sich jetzt mit den Parteien beschäftigen, schon um sie unterscheiden zu können. Bald begriff sie, dass Politik eine Art Spiel war, dass man bluffen, schlau sein musste, wie beim Teen Patti, beim indischen Poker, und sie begriff, dass es um Macht ging.

Und wenn sie so gut darin war, für Politiker zu werben, warum nicht für sich selbst werben?

Warum nicht in die Politik gehen?

Ihr Vater trägt sie von Stand zu Stand, gefolgt von einem Tross von Fotografen, Reportern, Organisatoren. An jedem Tapetentisch betrachtet Jyoti artig die Schaubilder, macht Small Talk, wie sie es bei den Politikern abgeschaut hat.

Aha, dieser Wasserfilter könnte in kleinen Dörfern eingesetzt werden, wie interessant.

Aha, dieser Wirkstoff dient zur Vorsorge gegen Tollwut, das ist natürlich gut.

Aha, diese Bilder haben die Kinder selbst gemalt, wie wunderwunderschön.

Dann in den Saal. Es gibt eine Bühne, sie bekommt ein Mikro, und dann hält sie vor ein paar hundert Menschen eine kleine Rede, die sie selbst vorbereitet hat: dass es sie freue, hier zu sein, und wie wichtig solch ein Tag für Indien sei. Aber das Publikum ist hingerissen.

Dann verziehen sich ein paar von den Journalisten, Organisatoren und Fotografen nach draußen, um im Freien eine Zigarette zu rauchen. Sie unterhalten sich, das Gespräch kreist um Jyoti. Ob sie Chancen hätte in der Politik.

Die Rede war nicht schlecht, sagt einer mit einem gepflegten Schnurrbart. Und die Leute mögen sie.

Das stimmt, sagt ein anderer, der polierte Cowboystiefel trägt, außerdem entstamme sie einer Kaste der Niedriggestellten, das könnte ein Vorteil sein, sie steht für die Unterdrückten.

Jyotis Generation ist in ein System geboren, das sich in Auflösung befindet, ein Kastensystem, das zuvor seit Jahrhunderten existierte, mit vier Hauptkasten und Tausenden von Unterkasten. Und vor allem mit ewigen Regelkatalogen – warum dieser Mann weniger wert sei als jener, warum dieses Mädchen nicht aus dem Dorfbrunnen trinken dürfe, weil sie nämlich unrein sei.

Auch die Familie Amge gehört zu einer der unteren Kasten. Das bedeutete über Generationen Demütigungen, Nachteile. Plötzlich aber liegt darin eine Chance für Jyoti. Wollte sie in die Politik gehen, hier wären ihre potentiellen Wähler. Es gibt in Indien etwa 200 Millionen Dalits, Benachteiligte aus den unteren Kasten. Und sie haben inzwischen gesehen, wie es der Mittelschicht ergeht, sie sehen im Fernsehen, wie die Reichen leben, sie wollen ihren Anteil.

Ihre Winzigkeit gereicht Jyoti möglicherweise sogar zum Vorteil, dank der indischen Kultur, die noch greller und exotischer ist, als man es vermutet, mit ihren 22 000 Dialekten, 330 Millionen Göttern und 300 Arten, Kartoffeln zuzubereiten. In Indien gehört das Unglaubliche zur Grundausstattung; je schräger jemand, desto besser. Und Jyoti Amge steht für die, die zu kurz gekommen sind.

Wer könnte das, schon durch ihre Existenz, besser ausdrücken?

Jyoti, würden Sie, wenn Sie einen Wunsch hätten, am liebsten normal sein?

„Früher war das ein Gedanke – warum bin ich nicht so wie die anderen? Man will dazugehören. Aber inzwischen will ich vor allem ich selbst sein.“

Der Auftritt beim „Tag des Kindes“, ihre Rede dort, war eine erste Fingerübung im politischen Geschäft, um ihre Bekanntheit auszubauen. Es war ein Erfolg. Trotzdem ist sie erschöpft und froh, wieder im Auto zu sitzen, nach Hause zu fahren. Es dunkelt. Vorbei am Kanal, wo es Stände mit Gur gibt, billigem Schnaps, wo Straßenkinder an den Kreuzungen bettelnd ihre verstümmelten Hände ans Autofenster halten oder Kränze mit Ringelblumen verkaufen. Jyotis Vater, am Steuer, blickt durch sie hindurch.

Dort hinten liegt der Slum, eine Hüttenstadt im Schlamm. Jeden Tag kommen stinkende Lastwagen und laden Tonnen von Müll ab. Die Frauen und Kinder dort durchwühlen den Abfall mit Stäben, an die sie Magnete gebunden haben, auf der Suche nach Metallstückchen.

Jyoti sitzt auf dem Schoß ihrer Schwester, der die Augen zufallen. Jyoti schaut aus dem Fenster, sieht die Welt, in die sie geboren ist, eine grobe, schmutzige und ziemlich mitleidlose Welt, und so viel größer als sie.