Fünf Tage, fünf Nächte

Rivano wollte nicht mit zur Kirche, wieder mal, die Großmutter wurde wütend: „Wasch‘ die Hände, zieh ein Hemd an, wir warten …“

„Nee, muss noch trainieren“, murrte er.

Rivano Cabenda: elf Jahre alt, dunkle Locken, dunkle Haut. Ein freundliches Gesicht, afro-indianisch, ein Lächeln mit Zahnlücke; den Schneidezahn hat er bei einem Fußballspiel verloren. Ein stämmiger Junge, Mittelstürmer, nicht groß für sein Alter, aber muskulös. Seine Vorbilder: Ronaldo, Ronaldinho, Rijkaard, Kluivert, Seedorf, Roberto Carlos, in genau dieser Reihenfolge. Sein Lieblingsessen: „pepre watra“, Fischsuppe mit Tomaten, Bananen, Peperoni, schön scharf, eine Spezialität in Surinam. Niemand, fand er, kochte das besser als seine Großmutter, er liebte sie sehr, aber die Kirche hasste er. „Langweilig dort“, sagte er.

Es war noch hell, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Bananenplantagen dampften. Es war der 31. Mai.

„Langweilig? Du willst deinem Schöpfer nicht mal danken, der dich leitet und behütet, der dir Schutzengel schickt …?“

Rivanos Onkel mischte sich ein, ein kräftiger Mensch, gutmütig, Antonius van der Bosch. Surinam ist das ehemalige Niederländisch-Guayana, und die holländischen Namen erinnern heute noch daran, dass hier Nachkommen von Sklaven leben. „Der Junge kann doch mit zum Fischen gehen. War Jesus nicht auch ein Fischer?“

„Du verwechselst alles“, sagte Rivanos Großmutter, „aber gut, meinetwegen, seid vorsichtig.“

Rivano und sein Onkel brachen um sechs Uhr abends von Boskamp aus auf. Etwa eine Stunde Fußmarsch ist es bis zur Mündung des Coppename. Dort lag van der Boschs Boot, ein Kanu mit Außenbordmotor, acht Meter lang, eineinhalb Meter breit, der blaue Anstrich verblichen. Rivano war zum ersten Mal dabei. „Es wird dir gefallen“, sagte sein Onkel, „wirst sehen, es ist jedes Mal anders.“

Der Coppename entspringt im Süden, im Wilhelmina-Gebirge, vier Breitengrade über dem Äquator. Er fließt in nordöstlicher Richtung und mündet in den Atlantik. Das Delta ist mehr als einen Kilometer breit, das Wasser braungrün, an den Ufern Mangroven, der Regenwald. Unter Sportpiloten ist das Coppename-Delta gefürchtet: Wolkenbänke, Luftwirbel, Sturmböen.

Sie warfen gegen acht Uhr die Netze aus. Das Wasser war kabbelig. Rivano wurde übel, speiübel. „Dann leg dich hin und schlaf“, sagte sein Onkel. Das war gegen elf Uhr.

Rivano erwacht etwa eine Stunde später, ein Schlag zertrümmert das Boot, eine Welle kracht auf ihn, schleudert ihn fort, er wird runtergedrückt, kommt hoch, schluckt Wasser, salziges, hustet, schwimmt verzweifelt, schreit. Ruft nach seinem Onkel. Hört ihn antworten. Aber er kann nichts verstehen, ihn nicht sehen, um ihn nur Dunkelheit und Wasser, und bald hört er ihn auch nicht mehr. Er spürt, wie er fortgetrieben wird.

Irgendwas ist neben ihm, ein Stück Bootsplanke, er packt es, einen Meter lang, 30 Zentimeter breit, ein Stück vom Kanu, daran klammert er sich fest: sein einziger Halt in diesem Tosen und Klatschen, in der Neumondnacht des 31. Mai. Es regnet.

In Boskamp wachen Rivanos Großeltern, sie kümmern sich um ihn, seit Rivanos Vater starb und seine Mutter einen anderen Mann heiratete. Draußen stürmt es. Sie sitzen da, krank vor Sorge, sie warten.

Der nächste Morgen. Die Sonne geht auf, Rivano erschrickt. Das Wasser ist blau: Er ist auf dem offenen Meer. Rivano ist kein schlechter Schwimmer, aber die Wellen sind meterhoch. Er hat auch keine Ahnung, in welche Richtung er schwimmen sollte, Himmelsrichtungen, Geografie, das sagt ihm nichts. Er versucht, sich hochzustemmen, aber da ist nur Wasser, überall. Rivano kann nur eines: sich festhalten.

So treibt er dahin. Die Wassertemperatur des Guayana-Stroms vor der Küste von Surinam liegt bei 28 Grad, aber Rivano zittert, sein Körper wehrt sich gegen die schleichende Auskühlung. Es wird Abend, Nacht, es regnet, brausend, die See ist der Himmel, der Himmel die See, kein Unterschied. Und Rivano mittendrin, ein Molekül, dabei entsetzlich durstig. Irgendwo unter ihm, in der blauen Tiefe, ziehen Schwarznasenhaie, Glatthaie, paddeln Lederschildkröten. Er hält sich fest an seinem Stück Holz. Denkt an seine Großmutter. Ab und zu ruft er krächzend um Hilfe, „me begi yep“, einfach nur so.

Der Onkel hat sich retten können, zwei Tage später ist er zu Hause. Ein Suchtrupp zieht los, aber der findet nichts. Die Großmutter betet und weint. Betet und weint.

Am dritten Morgen sieht Rivano Fregattvögel, anscheinend jagen sie Fische, aber genau kann er es nicht erkennen, das Salz und die Sonnenreflexe haben ihn halb blind gemacht. Er hört ihre hohen Schreie, er denkt: Ich will heim.

Fünf Tage, fünf Nächte. Zittern, frieren, dämmern. Das Schlimmste ist der Durst. Wenn es regnet, reißt Rivano den Mund auf, leckt die Tropfen von seinen Schultern. Aber er trinkt kein Salzwasser. Wenn er einzuschlafen droht, reißt ihn der Schreck immer wieder hoch: Ich muss heim, die Großmutter!

Der Guayana-Strom hat eine Geschwindigkeit von zwei Knoten, knapp vier Stundenkilometer. Am Morgen des sechsten Tages treibt Rivano in die Mündung des Corentyne, etwa 130 Kilometer westlich. Er krabbelt ans Ufer, rasende Kopfschmerzen, die Nieren schmerzen, aber er lebt. Er fällt hin, schläft ein und träumt, er träumt von seiner Großmutter.