Der Brief

Als mein Vater starb, ich sein Erbe antrat und in dem plötzlich stillen und staubigen Haus alles sichten und sortieren musste, da fiel mir eine Pappschachtel in die Hände. Sie war gefüllt mit Briefmarken, sortiert in Fächern, nach Werten und Motiven. Noch heute, eineinhalb Jahre später, zehre ich von diesem Bestand. Unter anderem besitze ich einen größeren Vorrat von Zwei- und Drei-Cent-Marken, von meinem Vater damals gekauft, um den Portoerhöhungen zu begegnen, die die Deutsche Post eine Zeit lang in möglichst unauffälligen Schrittchen beschlossen hat.

Mein Vater wurde 91 Jahre alt. Seinem Portovorrat zufolge hatte er aber noch einiges vor, brieflich. Goethe, habe ich mal gelesen, kaufte noch im Greisenalter 90 000 Flaschen für seinen Weinkeller. Wenn das stimmt, wenn man drei Flaschen am Tag verlötet, reichte der Vorrat für 82 Jahre. Optimistisch. Bewundernswert! Die Briefmarkenstory ist nicht ganz so spektakulär; aber mein Vater war ja auch nicht Goethe.

Allerdings war er ein eifriger Briefeschreiber. Während er Telefonate, besonders Ferngespräche, vor allem, wenn er sie selbst bezahlen musste, sein Leben lang für Geldverschwendung hielt, schickte er zuverlässig und ein-, zweimal pro Woche einen Umschlag, oft prall gefüllt mit Zeitungsausschnitten, Fotokopien, Hinweisen, die er für bedeutsam hielt. Ich hätte mich mehr darüber freuen sollen. Aber das konnte ich nicht.

Ich fand die Sendungen, nun ja, enttäuschend. Sie waren gespickt mit Ermahnungen, die mich ärgerten, zum Beispiel, mir endlich ein anderes Auto mit günstigerem Benzinverbrauch zuzulegen, am besten genau jenes Modell, das mein Vater selbst fuhr. Außerdem versorgte er mich mit unsinnigen Hinweisen, meine Arbeit betreffend. Ich hatte in meiner Heimatstadt, bei den „Wolfsburger Nachrichten“, angefangen, als Journalist zu arbeiten, von da an war es, befand mein Vater offenbar, bergab gegangen. Jedenfalls schickte er mir hartnäckig Lokalzeitungsartikel über Parkplätze, Ampelanlagen und Podiumsdiskussionen mit dem Stadtkämmerer, mit roten Unterstreichungen, und er ließ es auch nicht an Ausrufezeichen fehlen: Warum schreibst du nicht mal über so etwas?!!!

Zu jener Zeit arbeitete ich bereits für überregionale Medien, auch fürs Fernsehen, und ich weiß, wenn er daheim auf irgendwas von mir angesprochen wurde, dann freute ihn das. Aber mir gegenüber konnte er das nicht zugeben.

Natürlich sind das, von heute aus betrachtet, Kleinigkeiten. Aber als er noch lebte, war ich gekränkt. Mein Gott, so wenig kennt er mich, dachte ich. So wenig weiß er von mir! Und ich von ihm.

Und eigentlich wartete ich all die Jahre auf den einen Brief, der all die falschen Briefe auslöschen würde. Den Brief, der unser Verhältnis, Vater und Sohn, neu begründen würde.

Aber das war, so seh ich’s heute, eine Hollywood-Erwartung: Mein Sohn, was ich dir immer schon sagen wollte … Der Brief kam nicht; so wenig wie das große Gespräch, die Aussprache. Nicht etwa, dass es an Gelegenheiten gefehlt hätte. Mein Vater besuchte uns oft, Feiertage, Geburtstage, er spielte mit seinen Enkeln Monopoly und ließ sich gutmütig beschummeln, und abends hielt er Vorträge über Autos und die CDU. Er hielt Helmut Kohl für eine historische Persönlichkeit. Wir schwiegen dazu höflich, alles andere wäre zu anstrengend gewesen. Aber so vieles blieb ungesagt. So viele Fragen, die zu stellen ich nie Gelegenheit fand. Fürchtete er den Tod? Wie waren die ersten Jahre mit meiner Mutter? Wie waren die letzten Jahre mit meiner Mutter gewesen? Was für ein Mensch war er? Ich erwartete so viel von ihm, klar, dass er mich nur enttäuschen konnte.

Heute denke ich, dass das ziemlich ungerecht war. Dass ich etwas erwartete, was er nicht geben konnte.

Er war die Generation Krieg, 1923 geboren, und die Nazis hatten ihn, fast noch ein Kind, in eine soldatische Ausbildung gesteckt, und er hätte kurz vor dem Ende noch in eine Schlacht ziehen sollen, als Kanonenfutter. Er desertierte, haute ab, er wurde Kriegsgefangener, kehrte zurück in ein zertrümmertes Deutschland, ging ins Ausland – und erst mit Anfang vierzig konnte er daran denken, eine Familie zu gründen, ein eigenes Leben zu leben. Normalität war für ihn ein kostbares, erkämpftes Gut.

Alle schlimmen Erfahrungen waren versiegelt, unantastbar. Mein Vater, bei aller Leutseligkeit, sprach nie oder fast nie über Gefühle, Erinnerungen. Ich glaube, er hatte gelernt, daran nicht zu rühren, um zu funktionieren, zu einem Vater und Ehemann zu werden, der etwas taugte.

Darum gab es auch nie den Brief der Briefe. Es gab nur die vielen Briefe voller unerbetener Ratschläge und Ermahnungen, die mich nervten. Heute wünschte ich mir, ich hätte sie aufgehoben.