Der Brief

Als mein Vater starb, ich sein Erbe antrat und in dem plötzlich stillen und staubigen Haus alles sichten und sortieren musste, da fiel mir eine Pappschachtel in die Hände. Sie war gefüllt mit Briefmarken, sortiert in Fächern, nach Werten und Motiven. Noch heute, eineinhalb Jahre später, zehre ich von diesem Bestand. Unter anderem besitze ich einen größeren Vorrat von Zwei- und Drei-Cent-Marken, von meinem Vater damals gekauft, um den Portoerhöhungen zu begegnen, die die Deutsche Post eine Zeit lang in möglichst unauffälligen Schrittchen beschlossen hat.

Mein Vater wurde 91 Jahre alt. Seinem Portovorrat zufolge hatte er aber noch einiges vor, brieflich. Goethe, habe ich mal gelesen, kaufte noch im Greisenalter 90 000 Flaschen für seinen Weinkeller. Wenn das stimmt, wenn man drei Flaschen am Tag verlötet, reichte der Vorrat für 82 Jahre. Optimistisch. Bewundernswert! Die Briefmarkenstory ist nicht ganz so spektakulär; aber mein Vater war ja auch nicht Goethe.

Allerdings war er ein eifriger Briefeschreiber. Während er Telefonate, besonders Ferngespräche, vor allem, wenn er sie selbst bezahlen musste, sein Leben lang für Geldverschwendung hielt, schickte er zuverlässig und ein-, zweimal pro Woche einen Umschlag, oft prall gefüllt mit Zeitungsausschnitten, Fotokopien, Hinweisen, die er für bedeutsam hielt. Ich hätte mich mehr darüber freuen sollen. Aber das konnte ich nicht.

Ich fand die Sendungen, nun ja, enttäuschend. Sie waren gespickt mit Ermahnungen, die mich ärgerten, zum Beispiel, mir endlich ein anderes Auto mit günstigerem Benzinverbrauch zuzulegen, am besten genau jenes Modell, das mein Vater selbst fuhr. Außerdem versorgte er mich mit unsinnigen Hinweisen, meine Arbeit betreffend. Ich hatte in meiner Heimatstadt, bei den „Wolfsburger Nachrichten“, angefangen, als Journalist zu arbeiten, von da an war es, befand mein Vater offenbar, bergab gegangen. Jedenfalls schickte er mir hartnäckig Lokalzeitungsartikel über Parkplätze, Ampelanlagen und Podiumsdiskussionen mit dem Stadtkämmerer, mit roten Unterstreichungen, und er ließ es auch nicht an Ausrufezeichen fehlen: Warum schreibst du nicht mal über so etwas?!!!

Zu jener Zeit arbeitete ich bereits für überregionale Medien, auch fürs Fernsehen, und ich weiß, wenn er daheim auf irgendwas von mir angesprochen wurde, dann freute ihn das. Aber mir gegenüber konnte er das nicht zugeben.

Natürlich sind das, von heute aus betrachtet, Kleinigkeiten. Aber als er noch lebte, war ich gekränkt. Mein Gott, so wenig kennt er mich, dachte ich. So wenig weiß er von mir! Und ich von ihm.

Und eigentlich wartete ich all die Jahre auf den einen Brief, der all die falschen Briefe auslöschen würde. Den Brief, der unser Verhältnis, Vater und Sohn, neu begründen würde.

Aber das war, so seh ich’s heute, eine Hollywood-Erwartung: Mein Sohn, was ich dir immer schon sagen wollte … Der Brief kam nicht; so wenig wie das große Gespräch, die Aussprache. Nicht etwa, dass es an Gelegenheiten gefehlt hätte. Mein Vater besuchte uns oft, Feiertage, Geburtstage, er spielte mit seinen Enkeln Monopoly und ließ sich gutmütig beschummeln, und abends hielt er Vorträge über Autos und die CDU. Er hielt Helmut Kohl für eine historische Persönlichkeit. Wir schwiegen dazu höflich, alles andere wäre zu anstrengend gewesen. Aber so vieles blieb ungesagt. So viele Fragen, die zu stellen ich nie Gelegenheit fand. Fürchtete er den Tod? Wie waren die ersten Jahre mit meiner Mutter? Wie waren die letzten Jahre mit meiner Mutter gewesen? Was für ein Mensch war er? Ich erwartete so viel von ihm, klar, dass er mich nur enttäuschen konnte.

Heute denke ich, dass das ziemlich ungerecht war. Dass ich etwas erwartete, was er nicht geben konnte.

Er war die Generation Krieg, 1923 geboren, und die Nazis hatten ihn, fast noch ein Kind, in eine soldatische Ausbildung gesteckt, und er hätte kurz vor dem Ende noch in eine Schlacht ziehen sollen, als Kanonenfutter. Er desertierte, haute ab, er wurde Kriegsgefangener, kehrte zurück in ein zertrümmertes Deutschland, ging ins Ausland – und erst mit Anfang vierzig konnte er daran denken, eine Familie zu gründen, ein eigenes Leben zu leben. Normalität war für ihn ein kostbares, erkämpftes Gut.

Alle schlimmen Erfahrungen waren versiegelt, unantastbar. Mein Vater, bei aller Leutseligkeit, sprach nie oder fast nie über Gefühle, Erinnerungen. Ich glaube, er hatte gelernt, daran nicht zu rühren, um zu funktionieren, zu einem Vater und Ehemann zu werden, der etwas taugte.

Darum gab es auch nie den Brief der Briefe. Es gab nur die vielen Briefe voller unerbetener Ratschläge und Ermahnungen, die mich nervten. Heute wünschte ich mir, ich hätte sie aufgehoben.

Kreuzbergs Wotan

Er hatte 64 Freundinnen, kleine, scharfe Biester, und nachts stieg er hinab zu ihnen. Er stieg in den Keller der Kloedenstraße 1 a, Berlin-Kreuzberg, vier Stufen unter der Stadt, Fenster in Bordsteinhöhe. Hier, im Schein der Arbeitslampe, betrachtete und streichelte er seine Freundinnen, „das waren Momente“, sagt er, „da war ich glücklich“. Er grinst schief. „Hat nicht jeder Mensch irgendwo sein Geheimnis?“

Das Geheimnis des Werner Brockhoff: 64 Pistolen, davon 20 auf Waffenschein, jedoch 44 selbst gebaut, illegal, Dekorationswaffen, die er scharf machte. 349 Handgranaten, eigene Herstellung, 176 Kilo Sprengstoff, selbst angemischt, die Maschinenpistole hinterm Kühlschrank, die Winchester, Kaliber 7.62, aus dem Fach hinter der Anrichte – und jetzt war alles dahin, lagerte in der Asservatenkammer des Landeskriminalamtes Berlin. Mehr als 130 000 Euro, sagt Brockhoff, seien futsch. „Hab mich in die Scheiße geknallt, auf Deutsch gesagt.“

Brockhoff, 59 Jahre alt, grinst schief, das Lächeln tut weh, die Gesichtshaut ist dünn wie Butterbrotpapier, seine Finger purpurrot und geschwollen, als hätte man sie aufgeblasen. Die Haut stammt von seinen Oberschenkeln und Waden. „Verbrennungen zweiten und dritten Grades“, sagt Brockhoff.

Vor sieben Monaten sprengte Werner Brockhoff sich in seiner Werkstatt beinahe in die Luft, die Polizei kam, alles flog auf. Vier Wochen lag er im Unfallkrankenhaus Marzahn. Im September dann der Prozess, vorm Landgericht Berlin. Brockhoff wurde nach politischen, rechtsradikalen Neigungen gefragt, er verneinte, nur das Technische fasziniere ihn. Der Richter fragte: Sind Sie ein Waffennarr? Brockhoff zögerte, sagte leise: ein Liebhaber.

Das Urteil: drei Jahre, drei Monate.

Brockhoffs Liebe zum Knall begann im Osten. Der Junge, geboren in Gera-Kaimberg, sein Vater in Russland gefallen, seine Mutter Verkäuferin, war ein durchschnittlicher Schüler. Bis ein neues Fach auf den Stundenplan kam: Chemie. Die anderen Schüler stöhnten, Brockhoff konnte sein Glück kaum fassen. „Dass so viel Energie in den Stoffen steckt“, sagt Brockhoff andächtig, „war eine Erleuchtung.“

Die Scheune seiner Großeltern baute er zum Labor um. Er sparte für Erlenmeyerkolben, bezog aus der Drogerie Kaliumchlorat und Gallussäure, er legte sich ein Arbeitsbüchlein an, in das er jedes Experiment eintrug. „Am liebsten natürlich solche, wo es rumste.“ Das Buch hat er 47 Jahre lang aufgehoben, es ist konfisziert worden. „Stand wohl zu viel Gefährliches drin.“

Brockhoffs Vorbilder: Justus von Liebig, Alfred Nobel.

Zu gern hätte Brockhoff Chemie studiert. Doch er hasste den verordneten Sozialismus der DDR. Stattdessen: eine Maurerlehre, später eine Ausbildung als Dreher. Er heiratete, zwei Töchter kamen; seine wahre Liebe aber galt den Explosivstoffen.

Im Jahr 1977 wollte Brockhoff fliehen. Sein Plan: eine Sprengung im Streckmetallzaun zwischen Thüringen und Bayern. Minen und Selbstschussanlagen würden unschädlich, und er könnte in die Freiheit spazieren. „Die Ladung war einwandfrei, Ammoniumperchlorat und Nitratgemisch, aber das Menschliche hatte ich nicht bedacht – ich wurde verpfiffen.“ Nach sechs Jahren Haft wurde Brockhoff nach West-Berlin abgeschoben, 1983, und hier arbeitete er als Truppführer bei einer Firma für Munitionsbergung, wo sonst.

Brockhoff zieht ein Fotoalbum aus der Schrankwand. Die Aufnahmen sind akkurat beschriftet: „Hier, ’ne 500-Kilo-Bombe in Tiergarten, mit Säure-Langzeitzünder. Und da – Panzerabwehrgranaten mit Kugelsicherung.“ Brockhoff auf den Fotos: klein, stämmig, steht er neben den Funden, mit Helm und Haltung eines Archäologen.

Brockhoff, der Bombenflüsterer.

„Aber befriedigend war’s nicht: Nie durften wir dabei sein, wenn gesprengt wurde.“

Befriedigend war sein Hobby. Waffen bauen, technisch perfekt, und Silvester in den Wald fahren, um es krachen zu lassen. Nach außen unscheinbar, gebot Werner Brockhoff insgeheim über Urgewalten; über Blitz, Donner, Kriegsgetöse – der Kreuzberger Wotan.

Am Nachmittag des 31. März, um 16.30 Uhr, ging Brockhoff in die Werkstatt, Handgranaten bauen. Er hatte gerade ein Gewinde geschnitten, das Schneidöl mit Benzin abgewaschen, er knipste die Lötflamme an, das war ein Fehler: Brockhoff hatte vergessen, die Benzindose zu schließen. Lötfunken spritzten, das Benzin fing Feuer, explodierte mit lautem Puff. Eine Flamme stand lodernd über der Werkbank, Brockhoffs Gesicht, Arme, Hände wurden im Nu geröstet. Rechts oben, auf dem Schrank, lag Schwarzpulver – es explodierte. „Mir fiel natürlich gleich ein, was da sonst noch hochgehen könnte.“ Nämlich, auf zweieinhalb mal dreieinhalb Quadratmetern: Nitratpulver, Schwefel, Magnesium, Aluminiumpulver, 18 000 Schuss Munition.

Zutaten zum Urknall.

Brockhoff taumelte zum Wassereimer, „den sollte man übrigens immer gefüllt in der Werkstatt haben“. Er löschte das Feuer, obwohl seine Haut in Fetzen hing, er fast nichts mehr sah. Als Feuerwehr und Polizei eintrafen, wollte er die Angelegenheit noch als kleines Bastler-Malheur darstellen, aber er fiel in Ohnmacht.

„Explosionen sind Urkräfte, da kannste nichts vertuschen“, sagt Brockhoff düster; aber auch stolz.

Drei Fischer für Hollywood

Joe Kissack schiebt die Moskitotür auf, tritt auf den Balkon. Die Balkons in dem Hotel sind winzig, doch sie gehen wenigstens aufs Meer hinaus. Sturm ist aufgekommen, der Wind biegt die Palmen, Wolken jagen über den Nachthimmel, trotzdem ist es heiß hier in San Blas. Joe öffnet eine Cola light, stützt sich auf dem Balkongeländer auf und erzählt.

Morgen also der große Tag.

Die Präsentation in Tepice, er hat das beste Hotel gemietet, zwei Autostunden von San Blas entfernt, in der Kreisstadt. Angemeldet haben sich die brasilianische „TV Globo“, „Televisa“ aus Mexico City, ein spanischer Sender, „TV5“, dazu ein Dutzend mexikanischer Zeitungen, deren Namen er sich beim besten Willen nicht merken kann, außerdem hat ein Typ vom „New Yorker“ sich gemeldet, die „Sun“ aus London, ein Filmproduzent aus Mexico City, die Sache kommt in Gang.

Zwei Dutzend Interviewanfragen, die Jungs müssen ordentlich ran morgen. Seine Jungs, die Fischer.

Er bewundert sie. Sie haben das Härteste durchgemacht, was Menschen durchmachen können. Was sie wohl über ihn denken? Aber mit Leuten, die einem wildgewordenen Hai in den Schwanz beißen, spricht man besser nicht über endogene Depressionen und Burn-out. Aber jetzt ist er einer von ihnen, und Ruhm und Dollars wird er ihnen bescheren, sich selbst natürlich auch, Paramount hat geantwortet, Warner Brothers auch, mal sehen. Aus

  1. A. liegen Angebote vor, von Drehbuchautoren, zwei davon klingen ganz gut.

Eine große Geschichte vermag alles zu verwandeln, seine drei Fischer, das Leben der Leute hier, dieses ganze Kaff, San Blas.

Man kann die Helden der globalen StoryIndustrie nach zwei Typen unterscheiden: den klassischen und den modernen. Die Klassiker, erfundene Figuren wie Achilles oder Superman, sind Heroen aus innerer Bestimmung. Sie können nicht anders, also suchen sie sich eine Aufgabe und legen los.

Der moderne Held hingegen lebt wirklich, er wird erst durch die Umstände zum Helden. So wächst er über sich hinaus, findet sich selbst. Die globalen Märchenerzähler, Hollywood und seine Agenten, die Joe Kissacks dieser Welt, suchen nach solchen Helden. Und je globaler die Welt, je verflochtener die Kulturen, desto schneller und leichter werden die Storys international vermarktbar. „Der Sturm“, die Geschichte von verschollenen Fischern, spielte 330 Millionen Dollar ein, „Cast Away“, die Story eines gestrandeten Flugzeugpassagiers, 430 Millionen.

Joe trinkt den letzten Schluck, knüllt die Dose, geht wieder rein. Zieht die quietschende Balkontür hinter sich zu, draußen orgelt der Sturm, ächzen die Palmen. Joe knipst seinen Laptop an. Er wird sich an seine Drehbuch-Skizze setzen, die Nacht durcharbeiten, hier auf Zimmer 31, und sie noch einmal polieren, die Geschichte seines Lebens, die in Wahrheit die Geschichte von fünf Fischern ist – so, wie sie sie erzählten, Joe, ihrem Agenten, und den Journalisten, die nach San Blas gereist sind, an die mexikanische Pazifikküste, 2000 Kilometer südlich von Los Angeles.

Die Geschichte ist die wohl unglaublichste Story des Jahres; doch wenn man die Männer, denen sie widerfahren ist, kennenlernt, nach stundenlangen, tagelangen Interviews, wird das, was sie erzählen, plausibel.

Die Geschichte beginnt am 29. Oktober 2005, um halb fünf Uhr morgens, als sich am Hafen von San Blas an der Westküste Mexikos fünf Männer treffen. Es ist noch dunkel.

Die ersten beiden heißen Salvador Ordoñez und Lucio Rendón. Salvador, mit 35 der Ältere, ist ein kleiner, sehniger Kerl mit freundlichen Augen. Mit vier hat er schwimmen gelernt. Seit er zwölf ist, arbeitet er als Fischer.

Sein Freund Lucio, 27, ist ein Mädchen-Typ: dunkle Locken, groß, fröhlich und ein guter Fußballer, defensives Mittelfeld. An diesem Morgen ist er unruhig. Zwei Polizisten waren in Lucios Dorf, suchten nach ihm, nächtlicher Einbruch in eine Shrimps-Farm, jemand muss ihn verpfiffen haben. Ein paar Tage auf dem Meer zu sein, denkt er, kann nicht schaden.

Der Dritte heißt Jesús Vidaña, der einzige der Männer, der verheiratet ist. Jesús trinkt und kifft zu viel, aber nüchtern ist er ein gewissenhafter Arbeiter, der sich nicht schont.

Der Vierte heißt Miguel Fercera, ein junger Kerl ohne Erfahrung auf dem Meer. Zuletzt kommt Juan David, der Kapitän. Er trägt eine schwarze Baseball-Kappe, ist muskulös und barsch.

Kapitän wird jeder, der Geld hat, um ein Boot zu mieten oder zu kaufen. Man holt sich Leute, besorgt Sprit, ein Netz oder eine Leine, bekommt die Hälfte oder zwei Drittel vom Fang, der im Schnitt bei 600 bis 800 Kilogramm liegt.

Juan, der Käpt’n, treibt seine Leute zur Eile. Sie beladen das Boot mit Wasserkanistern, Lebensmitteln und Getränkedosen. Zwei Säcke, prall gefüllt mit Eis, gehüllt in Decken. Zwei Messer, ein gusseiserner Fischhaken, zwei Kanister Benzin, insgesamt 45 Liter. Die Männer verstauen ihre Seesäcke und Taschen. Noch vor Sonnenaufgang tuckern sie hinaus.

Von diesen fünf Männern, die San Blas verlassen, werden nur drei zurückkehren.

Die 5000 Fischer von San Blas und Umgebung stehen am unteren Ende der sozialen Skala, ihr Monatsgehalt liegt bei etwa 150 Euro, weniger als ein Bauarbeiter oder Bauer verdient. Kaum ein Fischer arbeitet mit Lizenz, manche erledigen hier und da einen Drogentransport Richtung Norden. Dennoch haben sie ein trotziges Selbstbewusstsein. Ihnen gehört mehr als nur ein Stück Land, ein paar Reihen blöder Stangenbohnen. Ihnen gehört das Meer.

Juan, der Käpt’n, hat die beiden Yamaha-Außenbordmotoren angeworfen, sie machen etwa drei Knoten Fahrt. Die „Leviathan“ ist etwa achteinhalb Meter lang, drei Meter breit, ein plumpes, hochbordiges Gefährt aus Fiberglas, mit eingeschweißtem Schwimmkörper, der das Boot selbst im vollgelaufenen Zustand noch eine Handbreit über Wasser halten kann. Es gibt keine Kajüte, nur einen Stauraum im Bug. Die anderen vier Männer hocken auf dem Bootsrand.

Die ersten 40 Seemeilen, rund 70 Kilometer, vor der Küste von San Blas ist das Wasser flach, um die 20 Meter tief. Dann fällt das Kontinentalschelf steil ab. Das Wasser wechselt die Farbe, von Grün zu Blau. An den unterseeischen Hängen und Canyons gibt es ein Dutzend Hai-Arten, Goldmakrelen, Spanische Makrelen, Muränen, Barsche, Gelbflossen-Thunfische. Juan stoppt den Motor. „Fangen wir Haie“, sagt er.

Die fünf Männer auf der „Leviathan“ arbeiten mit einer sogenannten Langleine. Sie misst ungefähr sechs Kilometer, wird mit Bojen oben gehalten, hat rund 300 Ausleger, Vorfächer genannt – neun Meter lange Schnüre, besetzt mit schweren Haken. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sitzen die Männer in der Abendsonne, spießen die Köder, spulen die Leine ins Wasser. Sie setzen fünf Leuchtbojen, um größere Schiffe vor der Leine zu warnen. Dann lassen sie sich treiben. Nachts treibt das Plankton an die Oberfläche, die kleinen und größeren Fische folgen. Die Männer dösen.

Sie fangen nichts, am nächsten Tag auch nicht. Am Abend des zweiten Tages zeigt Salvador auf eine Wolkenbank. Die sieht nach Problemen aus.

Fünf geostationäre Satelliten sind über dem Äquator positioniert, alle halbe Stunde machen sie ein Bild, tagsüber im sichtbaren Spektral-, nachts im Infrarotbereich. Über dem östlichen Pazifik steht der Satellit

GOES-W; an diesem 30. Oktober 2005 fotografiert er ein Tiefdrucksystem mit ausgeprägten Cumulonimbus-Clustern, im Randbereich kleinere, kreisförmige Gebiete mit Schauer- und Gewitterwolken. Die östlichen Ausläufer werden am Nachmittag des kommenden Tages die Küste erreichen, mit Wind der Stärke drei und Druckabfall um sechs Hektopascal. Ein Dutzendsturm.

Es sei denn, man ist mittendrin.

Das schwarze Wolkenband, vom Meer aus gesehen, ist schätzungsweise zwölf Kilometer hoch; eine Wand, die alles Licht schluckt. Gegen zwei Uhr morgens bricht das Gewitter los. Gischtfetzen fliegen, Blitze zucken. Die Luft ist wie elektrisch, die See gleißend hell, für Bruchteile von Sekunden. „Hast du die Leine gesichert?“, brüllt Salvador zu Juan hinüber, der am Motor steht. „Kümmer du dich um deine Arbeit“, schreit Juan, der Käpt’n. Die Fischer kauern am Boden des Boots.

Die Wogen tragen die „Leviathan“ auf Höhen von acht bis zehn Metern. Die Fischer werden gegeneinandergeschleudert wie Kugeln in der Schachtel. Mehrmals hocken sie bis zur Brust im Wasser, müssen Sturzseen ausschöpfen. Sie zittern vor Kälte, ihre Augen brennen.

Plötzlich ein scharfer Knall.

Joe Kissack hatte kaum seinen Uni-Abschluss in Marketing, da fand er einen Job bei Columbia Tristar Television. Er war charmant, optimistisch und von ganzem Herzen geldgierig, er war wie geschaffen für die Entertainment-Branche. Joe landete in der Syndication-Abteilung, verkaufte Filme, Serien, Shows an Fernsehsender. Bald war er Chef für den Südosten der USA. Dann bekam er den Südwesten dazu; dann den Mittelwesten; nach zwölf Jahren war Joe Executive Vice President, er hatte 250 Leute unter sich, und vor sich einen Schreibtisch, über den Milliarden-Verträge gingen.

Inzwischen war er sechs Tage die Woche unterwegs, rauchte täglich zwei Päckchen Marlboro, trank zu viel, besaß ein Haus, ein Boot, drei Autos. Es war das Leben, das er sich erträumt hatte. Bis er depressiv wurde.

Es begann schleichend, vor fünf, sechs Jahren. Er begriff nicht, was los war mit ihm. Er verheimlichte die Schübe, die heftiger wurden, Joe vernachlässigte seine Arbeit, seine Familie, sich selbst. Wurde entlassen, mit hoher Abfindung, fand einen anderen Job, wurde entlassen. Eines Nachts im Jahr 2002, erinnert sich Joe, war seine Frau so weit, sich scheiden zu lassen, er selbst hatte die Wahl zwischen Einweisung in eine teure Privatpsychiatrie oder Selbstmord. Er bevorzugte Selbstmord.

In dieser Nacht lag Joe im Ehebett im ersten Stock seines schönen Hauses in Atlanta, und zwischen ihm und seiner Frau Carmen stand eine Mauer, und er wusste, alles, wofür er gekämpft hatte, würde er verlieren.

In jener Nacht, so stellt es Kissack dar, geschah etwas mit ihm, was ihn offenbar rettete – Gott begegnete ihm. Am nächsten Tag jedenfalls sagte er seine Termine beim Psychiater ab, er fuhr stattdessen zur Kirche, hörte von nun an auf zu saufen, zu rauchen, zu fluchen, trat in einen Fitnessclub ein.

Von da an wurde viel gebetet bei den Kissacks. Er las die Bibel durch, dreimal. Kaufte sich bei „August House“ ein, einer verschlafenen Firma, die Bücher, Hörbücher, folkloristische Märchen produzierte. Morgens spielte er Tennis, nachmittags krempelte er die Firma um. Aber irgendwas fehlte. Ein Coup. Eine Story, wuchtig, voller Drama und Schicksal, ein Märchen, in dem Gott vorkommt.

Als sich der Sturm gelegt hat, am späten Nachmittag, sehen die Männer auf der „Leviathan“, dass sie ihre Langleine verloren haben. Das zweifingerdicke Tau ist gerissen, der Knall.

Einen gebrauchten Yamaha-Außenbordmotor kriegt man schon für etwa 3000 bis 4000 Euro, ebenso ein einfaches Fiberglasboot von rund acht Meter Länge. Für ein Netz oder eine Langleine mit Bojen hingegen muss man an die 8000 Euro zahlen – der Verlust kann Juan ruinieren.

„Wir finden die Leine“, sagt Juan, er wirft den Motor an, nimmt West-Kurs, „wir müssen sie finden.“

Sie suchen das Meer ab, finden nichts. Juan vermutet, dass die Leine aufs Meer getrieben wurde. Suchen weiter. Dann geht ihnen das Benzin aus.

Juan hat sich verkalkuliert.

Sie haben kein Segel, keine Ruder. Sie treiben, mehr können sie nicht tun.

Auf den „Routeing Charts“, herausgegeben vom britischen Hydrographic Office, lassen sich die Wind- und Strömungsverhältnisse jener Tage rekonstruieren. Es ist jetzt Anfang November, und die Männer haben vorwiegend Nordostwind, Windstärken meist zwischen vier und sechs.

Die „Leviathan“ kreuzt die großen Schifffahrtsstraßen zwischen San Francisco und Valparaiso. Aber die fünf Fischer sehen kein Schiff.

Sie rationieren die letzten Sandwiches. Ihre Wasser-Ration: morgens zwei Esslöffel, abends einer.

Ein Yamaha-Außenbordmotor besteht aus etwa 3500 Teilen, drei Hauptgruppen. Am Vergaser befinden sich die Rückholspiralfedern, etwa acht Zentimeter lang, Edelstahl. Um an die Antriebswelle des Motors zu gelangen, muss man sechs Sechskantschrauben lösen, dann die Antriebsritzelmutter. Die Welle steckt in einer Manschette, eine Stange, vergüteter Stahl, 92 Zentimeter lang.

Lucio schleift und glättet die Federn, er fertigt Angelhaken. Salvador schleift die Stange zu einem Speer. Sie teilen sich den Schleifstein, arbeiten sechs Tage und Nächte daran, sobald einem die Hände zu sehr zittern, reicht er den Schleifstein weiter.

Die anderen drei Männer liegen im Boot, verkriechen sich vor der brennenden Sonne. Lucios Casio-Armbanduhr geht noch, sie haben einen Bleistift, einen Kalender. Lucio macht jeden Tag eine Notiz.

Am 27. November kritzelt er: Seit 15 T. nichts gegessen, 5 T. ohne Wasser.

Am 28. November geht mittags leichter Regen nieder, sie können einen halben Liter auffangen, für jeden einen Schluck.

Der junge Miguel trinkt Salzwasser.

Jesús isst die Zahncreme.

Sie haben die Angelhaken ausgehängt, aber keine Köder, nur Stoff-Fetzen.

Salvadors Speer ist fertig, als Schaft hat er ein Stück aus der hölzernen Sitzbank herausgeschnitzt. Anfang Dezember nähert sich eine Dorade dem Boot. Salvador wirft den Speer, aber die Dorade weicht mit einer fließenden Bewegung aus. Der Speer versinkt, von der schweren Spitze gezogen, als dunkler Punkt im Blau; Salvador hat vergessen, eine Schnur an den Schaft zu binden. Er bricht, zornig auf sich selbst, die Triebwelle aus dem zweiten Motor, macht sich ans Schleifen. Etwa am 5. Dezember verirren sich ein paar fliegende Fische ins Boot, auf der Flucht vor Doraden. Salvador kann die zappelnden Tiere erhaschen, er schneidet sie in fünf gleiche Stücke, jeder der Männer kriegt ein fingerlanges Stück Fisch. Die Gräten verwendet Jesús als Angelköder, ergebnislos.

Um den 15. Dezember, sie sind nun 47 Tage auf See, kommt abermals ein Sturm auf, härter als der erste. Immer wieder wird das Boot vom Grund eines Wellentals emporgerissen, acht, zehn, zwölf Meter. Auf dem Wellenkamm klebt die „Leviathan“ dann sekundenlang wie auf dem Rücken eines tobenden Riesen, um im nächsten Moment fast senkrecht, so kommt es ihnen vor, abwärtszurasen, in eine Implosion aus Schaum und Dunkelheit. Sie verlieren eine Decke, Teile des zerlegten Motors gehen über Bord, die Angelhaken.

Irgendwann beugt sich Juan David, der Käpt’n, über die Bordwand und schreit ins Meer: „Was willst du? Hol uns, dann ist endlich Schluss!“

„Hör auf“, brüllt Jesús, „du machst das Meer nur noch wilder!“

„Betet, verdammt“, befiehlt Salvador.

Etwa 500 Seemeilen entfernt, im Hafen von San Blas, werden die fünf Männer nicht vermisst. Jesús‘ Frau weiß nicht, wo ihr Mann steckt, doch in ihrer Schicksalsergebenheit unternimmt sie nichts. Es kommt außerdem oft vor, dass Fischer in einem anderen Hafen an Land gehen, dass sie rasch wieder ausfahren, dass sie falsche Angaben darüber machen, wo sie fischen, um ihre Fischgründe nicht zu verraten.

Lucios uralte Großtante, Señora Panchita, die in einem schiefen Häuschen in dem Dorf Limon lebt, stellt jeden Tag für Lucio einen Teller auf den Tisch.

„Er lebt“, sagt sie.

Zwei oder drei Tage nach dem Sturm, das Wetter hat aufgeklart, sehen die fünf Männer eine grüne Meeresschildkröte. Salvador springt ins Wasser, eine Schnur ums Handgelenk, die ihn mit dem Boot verbindet. Er kann die Schildkröte hinten am Panzer fassen. Sofort beginnt sie mit heftigen Flossenschlägen abwärtszuschwimmen. Salvador drückt sie mit aller Kraft hinten herunter, lenkt ihre Schwimmbewegungen aufwärts. Vom Boot aus wirft Lucio eine Schlinge um eine Vorderflosse. So können sie das Tier, das mit seinen krallenbewehrten Flossen schlägt, ins Boot hieven. Sie drehen sie um. Die Schildkröte zieht Kopf und Flossen ein. Salvador drückt das Messer schräg in die Kopföffnung, schlägt es mit dem Schleifstein tief in die Hautwülste. Der Reptilienkopf schnellt vor, beißt um sich. Jesús hat das zweite Messer parat, schneidet den Kopf ab, legt ihn beiseite, wo er noch eine Weile wie erstaunt blinzelt und um sich schnappt. Für jeden ein Blechbecher Blut, es muss getrunken werden, solange es warm ist, es gerinnt schnell.

„Will nicht“, sagt Juan, der Käpt’n, als Salvador ihm eine Blechtasse hinhält.

„Nein“, sagt Miguel.

Die anderen drei Männer lösen den Panzer von der Bauchplatte, sie verschlingen die noch zuckenden, dampfenden Muskeln, die Därme, das Fett, sie knacken die Knochen, lutschen sie aus. Mehrmals, erinnern sich Salvador und die anderen heute, bieten sie Juan und Miguel etwas an, vergebens.

Weihnachten sind sie beinahe zwei Monate unterwegs und haben vermutlich mehr als 650 Seemeilen zurückgelegt. Gelegentlich Regen, nicht viel, doch genug, um nicht zu verdursten. Tagsüber kauern sie an der Bordwand. Frühmorgens und in der Abenddämmerung angeln sie. Salvador hat die zweite Harpune fertig.

Diese ersten drei Monate ihrer Reise, November bis Januar, überleben drei von den Männern nur knapp. Zwei schaffen es nicht. Am 20. Januar stirbt Juan, der Kapitän, wenig später der junge Miguel. Es ist kein dramatischer Todeskampf, eher ein unmerkliches Hinübergleiten. Die drei Überlebenden sind schon zu zermürbt, um viel zu empfinden. Lucio macht eine Notiz im Kalender. Sie nehmen Juans Gürtel, Miguels Hose, dann hieven sie die Leichen über Bord. Salvador hat in seinem kleinen Seesack eine Bibel, verschnürt in einer Plastiktüte. Er wickelt sie aus, versucht vorzulesen, aber er ist zu erschöpft.

In den nächsten Tagen fällt Regen.

Die Fischer von San Blas waren kaum gerettet, da tauchten Zweifel auf, Gerüchte: Hatten sie die anderen beiden Männer womöglich getötet, gegessen? Vor allem die mexikanischen Medien mochten den schaurigen Touch. Salvador, Lucio und Jesús beschworen zornig ihre Unschuld, boten an, sich einem Lügendetektor zu stellen. Auch jetzt wirken sie glaubwürdig, wenn sie ihre Geschichte erzählen, doch nur sie wissen, was sich wirklich abgespielt hat.

Die kommenden Monate, von Februar bis Juni, werden für die Fischer eine Zeit, da sich so etwas wie Routine einstellt. Die „Leviathan“ befindet sich Anfang Februar wahrscheinlich etwa auf Höhe des 132. Längengrades, bereits mehr als 1400 Seemeilen von San Blas entfernt. Ein treibendes Boot in dieser unermesslichen Weite ist für Meerestiere eine Art Erlebnispark. Kleine Fische interessieren sich brennend für die Algen, Würmer und winzigen Muscheln, die sich am Rumpf festsetzen; die kleinen Tiere locken größere an. Haie nutzen den Schatten, den das Boot wirft, als Deckung. Manche rempeln das Boot an, wie um herauszufinden, was es damit auf sich hat, ob es als Beute taugt.

Haie sehen die Fischer fast täglich. Blauhaie, schmal, schlank, nervös; Sandhaie,

mit spitzer Schnauze; auch große Weißflossenhaie, stämmige Ungetüme mit Längen bis zu vier Metern. Eines Nachmittags Anfang Februar schwimmt ein Sandhai nur wenige Handbreit unter der Oberfläche backbords neben dem Boot. Salvador greift zum Speer, und er trifft den Hai, von vorn und kurz hinterm Kopf. Der Hai versucht abzutauchen. Aber die Speerspitze sitzt in einem für das Tier ungünstigen Winkel, der Hai kann nicht fliehen. Aus der Wunde strömt eine dunkle Blutfahne.

„Halt ihn, lass ihn nicht entkommen!“

Salvador übergibt den Speerschaft an Jesús, reißt sich das Hemd herunter.

„Das Messer!“

Die Messer der Fischer sind bessere Küchenmesser, die Klinge etwa 20 Zentimeter lang. Salvador klemmt sie quer zwischen die Zähne. Springt über Bord, packt den Hai mit beiden Händen an der Schwanzflosse, dreht sie mit aller verbliebenen Kraft, wie man einen riesigen Schlüssel drehen würde. Der Hai ist etwa eineinhalb Meter lang, in der Körpermitte dick wie ein junger Baum. Aber er könnte mühelos einen Arm abbeißen.

Jesús hängt an der Bordwand, bemüht, den Speer tiefer ins Muskelfleisch zu bohren. Salvador muss die peitschende Schwanzflosse festhalten, mit der linken Hand hat er jetzt eine der Seitenflossen gepackt. Die Schwanzflosse darf er auf keinen Fall loslassen; doch wie den Stich führen?

„Mehr Haie“, brüllt Lucio, „da!“

Salvador, Kopf unter Wasser, hört nichts, sieht fast nichts, das Wasser schaumig und aufgewirbelt, aber er muss die Hand freihaben, er nimmt das Messer aus dem Mund und beißt zu, mit aller Kraft. Er beißt in die raue, mit zahllosen kleinen Widerhaken besetzte Schwanzflosse des Sandhais. Von den Flossenschlägen wird sein Kopf hin- und hergeworfen.

Salvador holt mit der rechten Hand aus. Sticht zu, das Messer rutscht ab, sein Kopf fliegt, er sticht wieder, hat Glück diesmal, die Klinge dringt ins Auge, nahe dem kleinen Gehirn des Tieres, dessen Bewegungen schlagartig ruhig werden, der Körper weich, schlapp. Lucio beugt sich über die Bordwand, packt die Rückenfinne und zieht, zusammen mit Jesús, erst den Hai, dann Salvador ins Boot. Das Messer steckt im Auge, die Kiefer schnappen noch. Lucio dreht die Klinge ins Hirn.

Salvador bekommt das Herz und die Leber, die anderen beiden bestehen darauf. Sein Gesicht, Arme und Brust sind zerkratzt, die Lippen aufgerissen, zwei Zähne locker. Zusammen essen sie den Mageninhalt, das Hirn, die Augen, sie lutschen an den Knorpeln, brechen das Rückgrat, um an die gelbe, krümelige Gelatine zwischen den Wirbeln zu kommen. Sie legen Streifen aus, um sie an der Salzluft zu dörren.

Anfang Februar sehen sie ein Schiff.

Wilde Hoffnung. Sie winken, schreien, doch der Wind verweht ihre Rufe. Hätten sie ein Feuerzeug, um ein qualmendes Feuer zu entzünden, oder wenigstens einen Spiegel, um Reflexe auf die Brücke zu schicken – doch sie können nur winken. Schiffe dieser Größe sind wie menschenleer, werden über weite Strecken per Autopilot gesteuert, die Crew sitzt die meiste Zeit unter Deck und schaut Pornofilme. So dröhnt der Frachter vorüber, mit entsetzlicher Bugwelle, die das Boot tanzen lässt.

Und dann ist er weg.

Stille.

Salvador betet heimlich, ein Deal: „Herr, ich opfere mich, wenn du meine Freunde rettest, Amen.“

Von März an regnet es fast täglich. Immer öfter kommen Vögel – die keinen Schlafplatz an Land brauchen – und lassen sich auf dem Boot nieder, vor allem Tölpel, drollig aussehende Vögel mit bläulichen Füßen, ausdauernde Flieger und hervorragende Taucher. Das Pech dieser Tölpel ist, dass sie offenbar kaum Erfahrung mit Menschen haben. Die Männer ducken sich, sind reglos, sobald ein Vogel heranfliegt. Der Tölpel watschelt übers Deck, inspiziert eine Weile, und sobald er seinen Schnabel unters Gefieder schiebt, springen sie auf und erschlagen ihn mit dem Speerschaft.

In den neun Monaten ihrer Reise fangen sie etwa 60 bis 70 Vögel. Die Männer essen die Knochen und knabbern die Schwimmfüße. Sie erbeuten etwa ein halbes Dutzend Schildkröten, Doraden, drei oder vier kleinere Haie, dazu Muscheln, Algen, Würmer, die sie regelmäßig vom Bootsboden pflücken – so kommen sie pro Kopf auf vielleicht 200 oder 300 Gramm rohes Fleisch beziehungsweise Fisch täglich. Sie haben rostige Nägel, an denen sie lutschen, der Mineralien wegen.

Die Ernährung ist einseitig, aber erhält sie am Leben. Mit regelmäßigerem Essen kehrt ihr Stuhlgang zurück, ungefähr alle zwei Wochen, eine Prozedur, die sie verkrampft vor Schmerzen an der Bordwand erledigen.

Wenn man schon in einer Nussschale einen Ozean überquert, dann ist der Pazifik ziemlich ideal, und zwar genau jene Breiten zwischen dem 5. und 25. Breitengrad. Die Strömung ist gleichmäßig, das Wetter im Passatwindgürtel verlässlich. Das Boot aus Fiberglas hält dem Salzwasser stand. Ab dem 136. Längengrad kreuzt die „Leviathan“ die Schifffahrtsrouten zwischen Australien und Nordamerika, Honolulu und Valparaiso. In den folgenden Wochen erblicken sie mehr als 20 Schiffe, ein Auf und Ab von wilder Hoffnung, wilder Enttäuschung, Lucio macht Kerben.

Im April schneiden sie sich gegenseitig die Haare und den Bart. Werfen die Büschel in den Wind.

Im Mai erfinden sie ein Spiel: Jeder darf sein Lieblingsmenü erzählen. Sie malen sich’s aus, reden stundenlang von Eisbomben, Obst, Hühnchen, Bananenbrot.

„Bananenbrot“, stöhnt Lucio.

„Erinnert ihr euch – an den Duft, wenn es ganz frisch ist?“, fragt Jesús.

Manchmal hält Salvador eine kleine Ansprache: „Gott prüft uns, aber er rettet uns immer wieder. Und ist nicht alles viel einfacher als zuvor? Wir haben zu trinken, zu essen, und wir haben unsere Freundschaft. Gott will, dass wir Freunde sind!“

Die Fischer von San Blas verbrachten 284 Tage auf dem Meer. Die britische Familie Robertson, deren Motorsegler „Lucette“ am 15. Juni 1972 von zwei Killerwalen attackiert wurde, nahe den Galapagos-Inseln, trieb 38 Tage durch den Pazifik. Der Amerikaner Steven Callahan trieb, nachdem sein Segelboot leckgeschlagen war, 76 Tage auf dem Atlantik, in einer Rettungsinsel. Solche Berichte sind unfassbar und dennoch wahr und faszinierend: Der Mensch hält viel aus.

Den drei Männern aus San Blas hilft ihr Stoizismus und dass sie das Meer von Kindheit an kennen – und dass sie zusammenhalten.

Doch im neunten Monat, im Juli, scheinen ihre Reserven aufgezehrt. Sie leiden an Muskelschwund. Jesús hat Nierenkoliken. Aus Lucios Ohren sickert Blut. Salvadors Augen haben schon länger gejuckt, im Juli sieht er einen dunklen Fleck, der jeden Tag größer wird. Sie dämmern oft.

Der Juli ist der Monat, wo das langsame Sterben beginnt.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt Salvador eines Abends, „nicht mit euch.“ Die Männer weinen, umarmen sich.

Doch dann – sie sind zu jenem Zeitpunkt zu apathisch, um sich an Details zu erinnern -, am 9. August, werden sie von einem Thunfisch-Fänger der taiwanesischen Koo’s Fishing Company gefunden, westlich der Marshall-Inseln.

Die Männer werden an Bord medizinisch behandelt und mit Suppen und Frühlingsrollen gepäppelt. Sie können nicht schlafen. Wenn sie ein paar Schritte gehen wollen, dann nur an der Kajütenwand. Es dauert Tage, bis sie begreifen, dass ihnen keine Gefahr mehr droht.

Über Honolulu und Los Angeles werden sie nach Mexiko geflogen, zwei Pressekonferenzen sind arrangiert, mit Hunderten Journalisten.

Anfang September sind die drei Fischer wieder in San Blas. Man gibt ihnen zu Ehren eine Party – Musik, Freibier, der Bürgermeister hält eine Rede, in der das Wort „Wunder“ vorkommt. Doch im Grunde ist die wunderbare Wiederkehr peinlich: verlorene Söhne, die kaum einer vermisste. Bis auf Señora Panchita, Lucios Großtante, die jeden Tag einen Teller für ihn hinstellte, sie lässt ihren Großneffen die ersten Tage kaum aus dem Haus.

Wegen des Vorwurfs, ihre zwei Leidensgenossen verspeist zu haben, wird das Wunder ihrer Rettung von Staatsanwalt Luiz Gomez Sanchez geprüft, der unter 013232850615 eine Akte anlegt, Vernehmungen macht, die Akte schließt.

Und dann reist ein Gringo an. Er trägt eine „Maui Jim“-Sonnenbrille, hat riesige Schalenkoffer, vollgestopft mit Laptops und Unmengen schicker Klamotten, er schmeißt mit Dollars um sich und fragt überall nach den Fischern. Sein Name: Joe Kissack.

Freundschaft, Abenteuer, Gott – alles war enthalten in der Story. Joe flog nach Mexico City, fuhr nach San Blas. Er staunte beklommen über den Schmutz, die Armut.

In San Blas überzeugte Joe den Bürgermeister. Der trommelte die Honoratioren zusammen, den Pfarrer, einen pensionierten Obsthändler, den Gewerkschaftssekretär, sie gründeten ein Komitee, um im Namen der Fischer zu verhandeln.

Joe hatte den Speisesaal vom Hotel „Casa Manana“ gemietet, alle eingeladen, einen Beamer aufgestellt. Dann machte er das Deckenlicht aus, ließ den Laptop aufleuchten, projizierte Charts und Listen. Sprach von potentiellen Partnern: Coca-Cola, Casio, Red Bull, Corona, CNN, Daimler-Chrysler, Lacoste und so weiter. Möglicherweise erst die werbliche Vermarktung und dann das Buch, den Film; vielleicht auch umgekehrt.

Die Fischer nickten.

„Die Strategie“, verkündete Joe, „ist entscheidend.“ Doch bei professioneller Vermarktung seien für jeden der drei Fischer in den nächsten acht Jahren 1,3 Millionen Dollar drin, konservativ geschätzt.

Die Fischer nickten.

Und jetzt schon würde Joe ihnen eine Art Gehalt zahlen, 2000 Dollar im Monat. Er holte Verträge hervor. Salvador stand auf und fragte, ob Joe ihnen Glauben schenke – wegen des Kannibalismus-Vorwurfs. Klar, sagte Joe. Salvador fragte, woher er so sicher sei, dass die Welt diese Geschichte hören wolle. Jedes große Projekt, sagte Joe, beginne damit, dass einer daran glaubt. „Außerdem ist es eine Geschichte, in der Gott vorkommt“, sagte Joe.

Die Fischer nickten.

Die Nacht vor der großen Präsentation ist stürmisch, doch Joe, auf seinem Zimmer, merkt nichts von dem rasenden Wind da draußen. Er trinkt Cola light und schreibt die Nacht hindurch an der Drehbuch-Skizze.

Am nächsten Morgen holt er den schnarchenden Jesús aus dem Bett und füllt ihn mit Kaffee auf. Salvador und Lucio sind frisch rasiert und pünktlich. Alle steigen in den riesigen dunkelgrünen Geländewagen, einen Ford Excursion. Joe schwingt sich hinters Lenkrad, sagt: „Freunde, die Show beginnt!“

Das gierige Gehirn

Keine Freunde, keine Kinder, keine Frau, er hatte noch nie Sex in seinem Leben, Kim Peek weiß gar nicht, was das ist. Er ist 51 Jahre alt. Seine Waden sind dürr wie zwei Stöcke, an einen Führerschein war nie zu denken, sein Vater kutschiert ihn. Kims Hände sind weich, weiß und eiskalt. Er würde in jedem Swimmingpool ertrinken, er könnte keinen Koffer tragen, niemals ein Spiegelei braten. Aber er ist glücklich. Er hat etwas, das alles aufwiegt, mehr wert ist als Sex oder Geld oder etwa Liebe.

Kim Peek hat Antworten.

In der Lobby des Marriott-Hotels von Salt Lake City gibt es einen offenen Kamin, riesengroß, marmorgetäfelt. Morgens um acht werden die Gasflammen angeknipst und züngeln bis Mitternacht akkurat um die Holzscheitimitate. Vor dem Kamin stehen cremefarbene Sessel, und darin sitzen jetzt Kim Peek und sein Vater Francis, ein weißhaariger Herr, mittlerweile 74, mit freundlichem, dabei stets besorgtem Gesicht. Der Kellner bringt zuckerlosen Saft und treibt sogar salzarme Cracker für Kim auf; aber der will weder essen noch trinken, er stöhnt.

Stülpt die Unterlippe vor, ein Speichelfaden hängt daran, er merkt es nicht. Immer wieder versucht er, sich aus seinem Sessel hochzudrücken, immer wieder sackt er zurück, sein Vater redet beschwichtigend auf ihn ein, Kim verschränkt die Hände vor dem Kinn, er wiegt den Oberkörper, schnauft. Vor, zurück, vor, zurück.

„Baaaaah – aaaah …“ Er stöhnt jetzt sehr laut und starrt ins Feuer.

Der Kellner schaut besorgt herüber.

„Fragen Sie ihn irgendwas“, sagt Francis Peek, der Vater, „das beruhigt ihn – etwa nach dem Wochentag, an dem Sie geboren sind.“

„Kim, ich bin am 26. Dezember 1959 geboren …“

„Samstag“, sagt er, „danke schön, dein Vater, Vater, Vater, Kinder, deine Kinder?“ Er blinzelt durch seine schwere Hornbrille, seine Augen sind klein und rötlich entzündet.

„Er will noch mehr Geburtsdaten“, sagt Francis Peek. Er betrachtet seinen Sohn, besorgt, zärtlich, stolz.

„Okay, Kim, mein Vater wurde im Jahr 1923 geboren, am 16. Juni …“

„Ein Samstag, danke schön.“

„… und mein älterer Sohn am 13. Februar 1996 …“

„Dienstag“, sagt Kim Peek, „und wenn er in Rente geht, 13. Februar 2061, wird es ein Sonntag sein.“ Die Antworten kommen schnell, anscheinend mühelos – und sie stimmen.

„Kim, wie viel ist 4397 mal 8915?“

„Baaaah – aaah – ich rechne nicht gern“, er schnauft, „vielen Dank, drei, neun, eins, doppel-neun, zwei, doppelfünf, aber uuuuh – ich rechne nicht gern.“ Der Kellner ist leise näher getreten; er wird heute Abend was zu erzählen haben.

39 199 255: Kim Peek hat dieses Ergebnis nicht ausgerechnet, sondern hervorgeholt, so als sähe er es. Seine taschenrechnerhafte Fähigkeit, vor allem in der Kalenderkalkulation, umfasst einen Zeitraum von etwa 4000 Jahren, sie ist unzählige Male getestet und verglichen worden; Kim vertut sich praktisch nie, und er ist viel schneller als ein Mathematiker.

„Erzählen Sie ihm, wo Sie leben“, sagt Francis Peek.

„Kim, ich komme aus Hamburg, das liegt im Norden von Deutschland …“

„Danke schön, Hamburg: Mitglied der Hanse, 1510 Reichsstadt, 1558 Börsengründung, 1678 die erste Oper, 1871 Beitritt zum Deutschen Reich, 17 Jahre später zum Zollverein, aber vorher, 1842, ein Feuer, nicht so wie hier …“ Er deutet zum Kamin.

„Sondern ein schreck-, schreck-, schreckliches Feuer, es brach aus am 5. Mai 1842 …“

Seine Stimme wird schrill, das Stöhnen setzt wieder ein.

„Welcher Wochentag war das, Kim?“ Sein Vater unterbricht ihn.

„5. Mai 1842, Donnerstag, danke schön.“

Kim Peek ist plötzlich ganz ruhig. „Schöne Flammen hier“, sagt er, „bewegen sich regelmäßig, es ist ein, ein, ein …“

„Ein Muster?“

„Danke schön.“

Er schaut in die Flammen, seine Augen zucken, aber er sieht glücklich aus.

„Kim, wie rechnest du diese Kalenderdaten aus – wie machst du das?“

Er schweigt. Scheint gar nicht zugehört zu haben. Sein Vater antwortet: „Niemand kann das erklären, er am wenigsten – für ihn ist es wahrscheinlich seltsam, dass wir diese Fähigkeit nicht haben. Er speichert Informationen aus etwa 14 Gebieten, neben Kalenderrechnen kennt er auch Geschichtsdaten, Busverbindungen, das Straßennetz in den USA und Kanada, die Telefonvorwahlen, Postleitzahlen, aber er braucht dringend Output, er will gefragt werden …“

„Kim, ich fliege morgen nach Boston …“

„Ah, gut, morgen, Donnerstag.“

Seine Stimme klingt monoton.

„Genau. Von dort fahre ich in einen Ort namens Lovell, bei Fryeburg im Bundesstaat Maine …“

Er unterbricht, schnarrt: „Lovell, von Boston, Logan Airport, die Route 128 nach Norden, bis zur Route 95 nach New Hampshire, vielen Dank, Route 16, 113, die Orte heißen Conway, Fryeburg, Lovell, Vorwahl 207, P-P-Postleitzahl 04051, vielen Dank.“

Francis Peek lächelt. „Sie können alles nachprüfen, es wird stimmen. Er kann auch Baseball-Ergebnisse, etwa 40 Jahre zurück, oder Geografie, afrikanische Städte …“

Der Kellner steht jetzt direkt neben uns, er starrt Kim Peek an wie den menschlichen Routenplaner, wie ein Wunder.

„Sie nennen ihn Kimputer“, sagt Francis Peek genüsslich, „er liest einfach alles, liest bis zu zehn Stunden am Tag. Und sein Gehirn ist ein Lagerhaus. Aber ein sortiertes: Er hat Zugang zu allem, es strengt ihn nicht im Geringsten an.“

Kim starrt in das Kaminfeuer, Francis Peek streichelt die Hand seines Sohns.

„Stimmt’s Kim, du gibst gern Antworten?“

„Morgen ist Donnerstag“, sagt Kim, seine Stimme ist leiernd, „i-i-ich liebe Fragen, ich liebe Antworten, vielen Dank.“

Doktor Darold Treffert hat eine Menge Freunde, vier wohl geratene Kinder und eine charmante Frau. Sie heißt Dorothy, sie spielt konzertreif Klavier und erfüllt das Haus am See von morgens bis abends mit Polonaisen von Chopin und mit Brahms-Sonaten. Nichts fehlt Darold Treffert zu seinem Lebensglück, fast nichts.

Außer einer Antwort. Einer Antwort, Kim Peek betreffend – zum Beispiel.

Treffert ist 67 Jahre alt; bis vor kurzem war er Chef der psychiatrischen Abteilung am St.-Agnes-Hospital in dem Städtchen Fond du Lac, im Bundesstaat Wisconsin, dreieinhalb Flugstunden von Salt Lake City und Kim Peek entfernt. Er ist groß, schlank und immer noch sportlich, und in seinem Arbeitszimmer hängt eine goldene Plakette, die ihn als einen von hundert „Best Doctors in America“ ausweist. Aber es gibt Tage, da sitzt er in seinem Arbeitszimmer, oben im Musikzimmer bearbeitet Dorothy den schwarzen Steinway-Flügel, und er blickt hinaus auf den kleinen Wasserfall auf seinem Grundstück und grübelt, ob er noch ein Buch schreiben sollte – über die Kim Peeks dieser Welt. Behinderte mit einer Inselbegabung, so genannte Savants: Sie sind das Thema seines Lebens.

Früher sagte man unfreundlich „idiots savants“, also „wissende Idioten“: Leute, die keine Straße überqueren können, aber 26 Sprachen sprechen; die einen Zeichentrickfilm wie „Das Dschungelbuch“ nie im Leben kapieren könnten, aber für einen Zeitraum von etwa 40 000 Jahren den Wochentag errechnen können. Schaltjahre inbegriffen. Menschen, die Mühe haben, ihren Namen zu krakeln, aber das British Museum in allen Details nachzeichnen können.

Treffert hat sie fast 40 Jahre lang studiert, behandelt, gefilmt. Er weiß, dass das Savant-Syndrom oft mit Autismus einhergeht, dass es Männer sechsmal so häufig wie Frauen trifft, dass es nicht mehr als schätzungsweise 100 Savants gibt.

Die Kim Peeks dieser Welt – Treffert findet sie immer noch wunderbar, sie sind so arglos, schutzlos, so weltentrückt und talentiert.

„Savants“, sagt er leise, „zeigen uns die Empfindsamkeit des Gehirns und seine Schönheit.“

Aber wie? Wie etwa speichert Kim Peek seine unzähligen Antworten, die ihn so glücklich machen? „Das ist die 65-Millionen-Dollar-Frage“, sagt Treffert und blickt aus dem Fenster.

Auch Kim Peeks Biografie hat Treffert minutiös dokumentiert, vor allem die beiden großen Tage in Kims Leben: sein Coming-out und den „Dustin-Tag“, wie Kim sagt, die Begegnung mit Dustin Hoffman.

Sein Coming-out ereignet sich Weihnachten 1962. Bis dahin haben Francis Peek, der erfolgreich eine Werbeagentur in Salt Lake City betreibt, und seine Ehefrau sich damit abgefunden, dass ihr erstes von drei Kindern so alptraumhaft behindert ist.

Kims Kopf ist seit der Geburt um ein Drittel größer als bei normalen Kindern, die Nackenmuskeln können das Gewicht nicht halten, er scheint ständig Schmerzen zu haben und schreit als Säugling, bis er nur noch krächzen kann. Beim Laufen und Sprechen liegt er um Jahre zurück, dafür hat er sonderbare Gewohnheiten wie Papierschnipsel sortieren, und dabei darf man ihn nicht stören, sonst wird er hysterisch.

Am Weihnachtsabend 1962, Tanten und Onkel sind da, Kims Geschwister sagen artig Verslein her, da tritt plötzlich Kim vor. Ohne Warnung rezitiert er die Weihnachtsgeschichte, Lukas, Kapitel 2, von Kaiser Augustus bis zu den Hirten – und zwar wortgetreu. „Er hatte den Text in der Kirche gehört und abgespeichert“, sagt Francis Peek. „Als ob er uns sagen wollte, hey, Leute, bitte unterschätzt mich nicht.“

Das tun sie nicht. Seine Eltern fördern ihn, versorgen ihn mit Fakten. Bis heute hat Kim etwa 7600 Sachbücher gelesen – Romane sind für ihn völlig unverständlich -, dazu Fahrpläne, Adress- und Telefonbücher, das Allermeiste hat er sich gemerkt, es entspricht dem Inhalt von etwa 190 Umzugskartons voller Bücher. Nebenbei hat er 17 große Kladden gefüllt mit seiner pedantischen, linksgestellten Bleistiftschrift: Amerikaner, quer durchs Land, mit denselben drei Endziffern ihrer Telefonnummer. Kims Gehirn giert nach Arbeit.

Und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Hollywood ihn entdeckte.

Kim ist 33, als er dem Drehbuchautor Barry Morrow über den Weg läuft, auf einer Tagung der National Association for Retarded Citizens, des amerikanischen Behindertenverbands. Morrow hat schon eine TV-Serie über einen Behinderten geschrieben, aber so etwas wie Kim hat er noch nie erlebt. Was für ein Mensch! Und welch ein Stoff! Zwei Jahre später liegt das Drehbuch vor, Arbeitstitel: „Rain Man“. Sechs Monate darauf fliegen Francis und Kim Peek erster Klasse nach Los Angeles, zu einer Verabredung mit Dustin Hoffman.

Für die beiden ist es eine Reise ins Märchenreich; für den Schauspieler ist es Arbeit. An Kim studiert er Gesten, Ticks, er fühlt sich ein in das Dasein eines Savant. „Bei der Filmpremiere“, sagt Francis Peek, „dachte ich, dass Dustin meinen Sohn besser begriffen hat als ich.“

Am Ende bedankt sich der Oscar-Gewinner Hoffman mit einer charmanten Wendung: „I may be the star“, sagt er zu Kim, „but you are the heavens.“ Übersetzt heißt das: Ich bin vielleicht der Stern, aber du bist der Himmel.

Als Schauspieler das Denken und Fühlen eines Savant abzubilden ist eine brillante Leistung. Nur eins ist womöglich noch schwieriger: einen Savant zu verstehen. In sein Gehirn zu blicken.

Hirnforscher kennen zwar die Regionen des Hirns und können sie kartografieren; Kortex, Thalamus, Amygdala, Substantia nigra und so weiter. Sie können auch Wüstenmäuse konditionieren oder in Computern neuronale Netze designen, die das Lernverhalten eines Gehirns simulieren. Aber das System als Ganzes bleibt ihnen ein Rätsel. „Uns fehlt das Big Picture“, sagt Treffert, „trotz 15 Jahren angestrengter Forschung.“

Was man immerhin weiß: dass dieses graue, wattige Organ, durchschnittlich 1300 Gramm schwer, seit 30 000 Jahren fast unverändert, durchsetzt mit chemischen und elektrischen Synapsen, abgefüllt mit Neuromodulatoren wie Dopamin, Serotonin, Acetylcholin und Noradrenalin – dass das Gehirn demokratisch organisiert ist. Wobei es wahrscheinlich eher umgekehrt ist: Demokratie und Staatenbildung als soziale Umsetzung von Hirnstrukturen.

Jedenfalls funktioniert das Gehirn wie ein idealer Staat, mit Checks und Balances, Exekutive und Aufsichtsgremien. Bewusstes Denken ist ein exekutiver Vorgang, mit Planung, Vorbereitung, Kontrolle. Wie etwa das Aufstellen einer Einkaufsliste fürs Wochenende: Tee, Brot, Käse.

Dieser Prozess findet vor allem auf der Großhirnrinde statt, vorwiegend auf dem präfrontalen Kortex, in Stirnhöhe. Der Vorgang umfasst Einzelvorgänge wie den prüfenden Blick in den Kühlschrank, den Check-up im Erinnerungsspeicher, wie viel Brot man übers Wochenende brauchen wird; dieser banale Denkvorgang ist in Wahrheit eine große Vernetzungsleistung. Und er ist zudem gefährlich: Denn die Nervenzellen, einmal erregt, haben die Neigung, immer weiter zu funken, sie wollen andere Nervenzellen erregen – wollen sich synaptisch verzweigen, Assoziationen bilden, kaskadenweise.

Man notiert „Tee“ und denkt: Was braucht man sonst noch? Vielleicht ein neues Teeservice? Und eine dazu passende Vase, aber in eine Vase gehören Blumen, apropos Blumen, der Garten sieht trübe aus, ein neuer Rasenmäher wäre nicht schlecht, oder kann man den alten reparieren, wo bekommt man eigentlich Zündkerzen für Rasenmäher …? Und so würde, ohne Bremse, das Gehirn immer weiter rattern. „Epileptisch“, sagt der Tübinger Neurobiologe Niels Birbaumer, „der Cortex cerebri will denken, denken, bis er auseinander kracht, bis er explodiert – also muss er kontrolliert werden.“

Diese Denkhemmung läuft über Substanzen, die von Arealen wie Thalamus, Striatum und Nucleus niger ausgeschüttet und über das Basalgangliensystem geleitet werden, wo nochmals sortiert, selektiert, kontrolliert wird. Ein gesundes Gehirn hält sich eine Art Magazinverwalter: Was man benötigt, wird ins Ausgabefach gelegt; mehr nicht. Die Savants hingegen, vermutet man, kennen weder Ausgabefach noch Magazinverwalter, sie leben ständig im Lagerhaus ihrer Erinnerung, umgeben von ihren Schätzen. Zahlen, mathematischen Strukturen, Bildern. So lebt Kim Peek – oder auch Stephen Wiltshire.

An einem warmen, sonnigen August-Tag 2001 steigen zwei BBC-Reporter und ein junger Schwarzer mit einer Basecap in einen Hubschrauber. Sie planen ein Experiment: eine Sightseeing-Tour über London.

Die Versuchsperson ist der junge Mann mit der Basecap, Stephen Wiltshire, 29 Jahre alt, geistig zurückgeblieben. Sein Job: aus dem Fenster gucken. Der Hubschrauber steigt auf, knattert über die Innenstadt. Wiltshire sitzt links am Fenster, noch nie hat er London von oben gesehen, aber er kennt die Sehenswürdigkeiten: Da hinten, zählt er mit leiernder Stimme auf, ist die St. Paul’s Cathedral, die Themse, die Tower Bridge und so weiter. Sekündlich etwas Neues, ständig wechselt die Perspektive.

Anschließend verfrachtet man Wiltshire auf eine Wiese. Dort steht unter Obstbäumen ein kleiner Klapptisch. Wiltshire kriegt ein großes Blatt Papier, einen Bleistift, einen Filzstift.

Und in den folgenden drei Stunden zeichnet er – ohne ersichtliche Mühe – ein exaktes Luftbild von London. Er beginnt rechts oben und arbeitet sich von der hinteren Horizontlinie nach vorn, schon das ist ungewöhnlich, mit hypnotischem Gleichmut kritzelt die Filzstiftspitze übers Papier, quietschend fügt sich Detail an Detail, Fenster, Türme, Simse, Streben. Er zeichnet nicht, er druckt das Bild aus.

Der Ausschnitt umfasst eine Fläche von etwa zehn Quadratkilometern mit 12 Sehenswürdigkeiten, etwa 200 weiteren Gebäuden, alles am richtigen Platz, in der korrekten Perspektive.

Wie bei jedem Menschen waren auch bei Stephen Wiltshire die wahrgenommenen Bilder im Hinterkopf gespeichert, und zwar im visuellen Cortex, einem Rindenareal von etwa drei Quadratzentimetern, mit drei bis vier Milliarden Zellen. Während des Hubschrauberflugs sind von der Netzhaut zahllose Einzelbilder dorthin gesendet worden, Stephen Wiltshires Gehirn hat diese Eindrücke mit seinen Gedächtnisaufzeichnungen von London verglichen und mit Hilfe des Hippocampus-Areals zu einem räumlichen Gesamtbild zusammengesetzt. Was Stephen Wiltshire von Normalsterblichen unterscheidet, ist der frappierende Zugriff auf sein Gedächtnis. Er sieht dauerhaft, was er gespeichert hat.

Dieser Gedächtniszugang ist nur die Folge, der Nebeneffekt, einer bei jedem Savant unterschiedlichen Behinderung; nicht zu verwechseln mit der Krankheit selbst. Ein Savant-Gehirn kann die unterschiedlichsten Leistungen erbringen: Geschichtsdaten, Verkehrsanbindungen und Kalenderrechnen wie bei Kim Peek, visuelle wie bei Wiltshire – oder auch sprachliche wie bei Christopher Taylor.

Taylor ist 40 Jahre alt, er lebt in einer beschützten Wohngruppe in einer Kleinstadt im Nordosten Englands. Hier arbeitet er gern im Garten, und freitags setzt er seine graue Lieblings-Pudelmütze auf und marschiert in den Pub, auf ein kleines Guinness, höchstens zwei. Der Pub ist 200 Meter von seinem Wohnheim entfernt, ohne Begleitung würde er sich wahrscheinlich verlaufen, jedenfalls ängstigen. Aber er spricht, liest, schreibt Dänisch, Holländisch, Finnisch, Französisch, Deutsch, Griechisch, Hindi, Italienisch. Außerdem Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Schwedisch, Türkisch und etwas Walisisch. Er freut sich über Besucher, vor allem, wenn sie ihm eine griechische Tageszeitung mitbringen oder ein polnisches Taschenbuch oder den aktuellen SPIEGEL, dann begrüßt er die Besucher mit röhrendem Jubel: „Wörter, Wörter, gebt mir Wörter!“

Woher nehmen die Savants ihre Fähigkeit? Die Frage ist nahe liegend und trotzdem falsch. Hirnforscher fragen anders herum: Warum können wir Normalsterblichen nicht, was Savants können?

Schließlich ist der Gedächtnisaufbau bei allen Menschen derselbe, angelegt in der Großhirnrinde, die etwa 100 Milliarden Nervenzellen umfasst, so dass deren Ausleger, die synaptischen Dornen, auf schätzungsweise eine Trillion Kombinationen kommen: eine Eins mit 18 Nullen, ein organischer Mega-Store.

Hier hat alles Platz, was wir erleben: Jeder Tag, jede Szene, jedes Bild, von der Kindheit bis heute, ist gespeichert – die Bilder sind nur nicht abrufbar, sie sind so dicht komprimiert, dass sie unzugänglich bleiben. Das macht Sinn. Um unwichtige von wichtigen – also überlebenstauglichen – Informationen zu trennen, hat das Gehirn im Laufe seiner Evolution vor allem drei Methoden entwickelt.

Wiederholung, Verknüpfung und – vor allem – emotionale Bedeutung: So funktioniert die Markierung wichtiger Bits. Kein Mensch würde sich den Namen seines Flugkapitäns merken, der ihn von Frankfurt nach New York befördert. Doch würde dieser Pilot unterwegs eine dramatische Notlandung hinlegen müssen, auf einem Eisberg, verknüpft mit den Sensationen einer nächtlichen Bergung, würde das Passagiergehirn Tausende von Zellkernen aktivieren, Proteine produzieren, und jedes Mal, wenn man die Geschichte erzählte, würde der Name des Flugkapitäns aufgerufen, das Gehirn würde die Verbindung verstärken, noch im Altersheim könnte man mit der Story Eindruck machen.

Emotionale Bedeutung ist eine clevere Strategie. Die Filterung von Gedächtnis-Bits gewährleistet Auswahl und da mit Präzision, trotz ungeheurer Kapazitäten.

Andererseits macht dieser Mechanismus das Lernen mühevoll. Könnte man diesen Filter manipulieren, nach Bedarf dimmen, könnte jeder Normalsterbliche womöglich im Handumdrehen Französisch lernen, mühelos Chopin klimpern, vielleicht ein kreatives Potenzial freilegen.

Zu schade, dass es nicht geht.

Es kann gehen, sagen Wissenschaftler.

Ein normaler Arbeitstag im Leben des Physikprofessors Allan Snyder sieht so aus: gemütlich ausschlafen, dann 1200 Meter Brustschwimmen, und nach dem Frühstück wird gearbeitet bis drei Uhr nachts. Snyder, preisgekrönt und einer der originellsten Forscher Australiens und Direktor des Centre for the Mind in Sydney, interessiert sich für praktisch alles auf dieser Welt. Für hoch komplexe Lichtwellenmodelle, Thema seiner Habilitation, ebenso wie für Mode und Imitationsverhalten. Am meisten aber, seit nunmehr 16 Jahren: für Savants.

Snyder ist ein schlanker, temperamentvoller Mann von Mitte 50. Mit Vorliebe trägt er eine schwarze Kappe, die ihm seine Freundin auf dem Pariser Gare de l’Est geschenkt hat; er ist ein bisschen kauzig, ziemlich fröhlich und wie sein Mentor, der Neurologe und Bestsellerautor Oliver Sacks, betont, „absolut brillant“.

Allan Snyder ist der Mann, der die Genie-Formel sucht.

Seine Vision: dass wir, die Normalsterblichen, von den retardierten Genies lernen sollen. „Savants zeigen uns“, sagt Snyder, „wer wir wirklich sind – wer wir sein könnten.“ Snyders These deckt sich in weiten Teilen mit dem, was auch renommierte Verhaltensphysiologen und Neurobiologen wie Gerhard Roth oder Manfred Spitzer inzwischen über das Gehirn des Menschen wissen: Die Strategie, sich nur an bedeutende Ereignisse zu erinnern, verhindert den Zugriff auf den vollen Datensatz, auf das, was der Mensch eigentlich weiß.

Snyders Problem ist nur: Wie kann man diese Filter und Hemmungsmechanismen reduzieren, ohne die chemisch-elektrische Balance des Hirns zu gefährden? „Dieses Problem“, sagt Snyder, „werden wir lösen.“

Vor kurzem haben Snyder und sein Sechsmannteam ein aufwendiges Forschungsprojekt hierzu beendet. Sie haben ein Jahr lang im Keller der University of Sydney einige hundert Probanden mit „Transkranialer Magnetstimulation“ (TMS) behandelt, einer seit einigen Jahren gebräuchlichen Diagnose- und Forschungsmethode, die bestimmte Hirnregionen stimuliert und andere verlangsamt.

Snyders Ziel: bestimmte neuroelektrische Muster zu unterdrücken und dafür andere freizusetzen – und dabei wurden die geistigen Fähigkeiten getestet. Beispielsweise mussten die Versuchspersonen Tiere zeichnen, Primzahlen erkennen, Lesetests absolvieren. „Ihre Kreativität“, berichtet Snyder, „stieg um 40 Prozent, die Versuchspersonen unter TMS-Einfluss dachten weniger vernunftgesteuert, weniger konzeptuell und in festen Bahnen. Sie hatten besseren Zugriff auf ihre unbewussten Reservoire.“

Er zögert, sagt dann: „Sie waren für einen Moment wie Savants.“ Und Oliver Sacks, der sich auch selbst den Stimulationshelm aufsetzte, formuliert es so: „Das Ganze könnte auf eine Sensation hinauslaufen.“

Snyder träumt von einer Denk-Kappe, mit der kreatives Potenzial und Lernvorgänge verbessert werden. „Klingt nach Science-Fiction“, gibt er zu, „aber wer hätte sich vor 30 Jahren etwas wie das Internet vorstellen können? Außerdem, wenn man etwas Neues macht, sagen alle: unmöglich. Wenn man zeigt, dass es möglich ist, heißt es: ist doch nicht bewiesen. Wenn man es beweist, heißt es: ist alles nichts Neues.“

Noch gibt es keine Snydersche Denk-Kappe zu kaufen, noch fehlt den Hirnforschern das Big Picture vom Gehirn, und noch sitzt Darold Treffert, der Savant-Forscher aus Wisconsin, in seinem behaglichen Arbeitszimmer in Fond du Lac, schaut auf das Wäldchen und den kleinen Wasserfall auf seinem Grundstück, während er eine CD in den Händen hält.

Er hat die CD neulich zugeschickt bekommen, von der Mutter eines Savant, eines kleinen Jungen, der Klavier spielt. Treffert kennt viele Klavier-Savants, sie können Tausende von Stücken auswendig vortragen, aber fast alle spielen hölzern, mechanisch, ausdruckslos. Was das Klavierspiel angeht, ist Treffert von seiner Ehefrau Dorothy verwöhnt; er hegt also keine hohen Erwartungen, als er die CD einlegt. Doch dann hält er den Atem an.

Und denkt: wow.

Aufgeregt holt er seine Frau: „Dorothy, das musst du dir anhören.“ Es ist ein Jazz-Trio: Piano, begleitet von Bass und Schlagzeug. Die rechte Hand perlt über die Tastatur, dazwischen prächtige, auftrumpfende Akkordfolgen, und dann wieder improvisiert der Pianist zart und transparent, wie in Trance.

Die beiden hören zu. „Das ist gut“, sagt Dorothy nach einer Weile. „Nicht nur gut, es ist – phantastisch. Wer ist das?“

„Ein Savant“, sagt Treffert.

„Das glaube ich nicht“, sagt sie.

„Na ja, es ist eigentlich nur ein kleiner Junge“, sagt Treffert, „elf Jahre alt.“

Und so beschließt Darold Treffert, vielleicht doch noch ein Buch zu schreiben: ein Buch über den kleinen, knochigen, bebrillten Jungen Matt Savage, der das absolute Gehör hat, mit sechs Jahren Klavier spielen lernte und schon mit neun so farbig und leuchtend komponiert und improvisiert, dass Dave Brubeck und Chick Corea ihn zum Jahrhunderttalent erklären.

Vielleicht findet Treffert hier die Antwort, die er sucht.

Er hört die CD, wo er kann, vor dem Frühstück und abends im Auto. Er hört zu und sieht so zufrieden aus, als hätte er die Antwort schon gefunden.

Ein ganzer Kerl

Er war auf der Hälfte der Strecke, letzte Etappe, als er fürchtete, dass er es nicht schaffen würde. Das Meer war wie Eisbrei. Die Wellen prügelten auf ihn ein, als wäre er ihr ganz persönlicher Feind. Er war aber nur Philippe Croizon, ein Mann ohne Arme und Beine.

Der Schauplatz: die Beringstraße, zwischen Alaska und Sibirien. Wassertemperatur: vier Grad.

Croizon war 44 Jahre alt, hatte Jahre brutalsten Trainings hinter sich, an seinen Beinstümpfen waren Prothesen befestigt, daran die Flossen, eine Spezialanfertigung. Vor allem aber hatte er einen Joker: Er fürchtete den Tod nicht. Er kannte ihn.

Man begegnet Philippe Croizon, wenn man ihn kennenlernt, mit Befangenheit. Er und seine Freundin wohnen zweieinhalb Stunden südlich von Paris, in einem Bungalow, behindertengerecht, größtenteils finanziert von dem Geld, das die Versicherung damals zahlen musste. Sehr sauber, sehr ordentlich: Hier wohnen zwei, die ihr Leben organisieren müssen, damit es ihnen nicht entgleitet.

Croizon sitzt in einem Rollstuhl, festgegurtet. Er hebt den rechten Armstumpf zur Begrüßung. Es ist ein Händeschütteln ohne Hand: warm, weich, knochenlos. Croizon lächelt, als wollte er sagen: keine Angst. Er rollt an den Tisch. „Wovon soll ich erzählen? Von dem Mann, der ich jetzt bin? Oder von dem Mann, der ich vorher war?“

Am 5. März 1994, einem Samstag, leiht sich Philippe Croizon bei seinem Großvater eine Aluminiumleiter aus und macht sich daran, seine Fernsehantenne abzubauen. Croizon wohnt mit seiner Familie in einem grauen Haus in dem Dorf Saint-Rémy-sur-Creuse, seine damalige Frau und er haben einen Sohn, Jeremy. Sie wollen umziehen. Die Antenne will Croizon mitnehmen.

Croizon ist damals 25, Vorarbeiter bei einem Autozulieferer. Ein eher schmaler Mann, 60 Kilogramm bei 1,76 Metern, er gilt als freundlich, umsichtig. An diesem Morgen jedoch begeht er einen Fehler.

Er hat sich am Kamin festgebunden und die Schrauben der Antennenhalterung gelöst, er hievt die Antenne aus der Verankerung, als er merkt, dass er sie nicht mehr halten kann. Sie ist zu schwer. Es ist eine dieser altmodischen Antennen, mit einer Querstange obenauf. Sie kippt nach hinten, Croizon lässt nicht los, die Antenne verfängt sich in der Starkstromleitung, die in einem Abstand von etwa eineinhalb Metern – viel zu nah, wie die Untersuchung später erweisen wird – am Haus vorüberführt. Jetzt jagen etwa 20 000 Volt von der Leitung durch die Antenne, durch Croizons Körper, in die Leiter. Croizon ist augenblicklich gelähmt. Die Hitze ist überwältigend, sein Fleisch fängt an zu schmoren. Die oberen Holme der Leiter schmelzen. Dreimal, werden Ärzte später sagen, bleibt Croizons Herz stehen, aber der Strom setzt es immer wieder in Gang.

„Ich sah mein Leben vorüberziehen, mein erstes Fahrrad, meinen Vater, der mich zum Fluss mitnimmt, meine Heirat, Geburt meines Sohnes, alles im Zeitraffer. Ich weiß, das ist ein Klischee. Aber es ist wahr. Ich weiß es.“

Croizons Hände und Füße sind beinahe verkohlt. Die Operationen, erst in Tours, dann in Paris, dauern zusammen etwa hundert Stunden, Croizon erwacht aus der Narkose als Rest von sich, als Rumpf.

In den Tagen und Wochen danach, sagt er heute, habe sich sein Schicksal entschieden. Erst wollte er sterben, schließlich entschied er sich für das Leben. Aber er würde nicht jener sein, der er war. Also musste er ein anderer werden. Dann sah er, noch im Krankenhausbett, im Fernsehen eine Sendung über Ausdauerschwimmer. Und erkannte: Das ist mein neues Leben.

Das bin ich.

Ich werde durch Meere schwimmen.

Im Wasser ist sein Handicap mit entsprechenden Hilfen nahezu ausgeglichen. Mit eigens gefertigten Prothesen, mit langen Flossen etwa, ist er einem normalen Schwimmer sogar überlegen.

Vier Jahre dauert es, bis er so weit ist, dass er mit dem Schwimmen beginnen kann. Es folgen zehn Jahre Training. Die Suche nach Sponsoren. 400 000 Euro treibt er auf. Zwischendurch verlässt ihn seine Frau, er lernt Susanna kennen. Sie liebt und unterstützt ihn. Er schreibt ein Buch. Sie starten das Projekt. Jeden Tag legt er sich in seine Badewanne, nachdem er sie mit Eiswürfeln gefüllt hat. Philippe Croizons Programm reicht für mehrere Leben.

Am 18. September 2010 durchschwimmt er den Ärmelkanal. Dann die Passage zwischen Papua-Neuguinea und Indonesien. Die Meerenge zwischen Ägypten und Jordanien. Die Straße von Gibraltar. Schließlich die Beringstraße.

Es war die anstrengendste Etappe von allen, wegen der Brecher, der Kälte. Er hatte auf der Hälfte der Strecke das Gefühl, es nicht zu schaffen, erzählt er heute. Man kann nicht erklären, wie er es schaffte. Man kann nur annehmen, dass Philippe Croizon irgendwo in sich Reserven an Willenskraft fand, von denen er nichts ahnte, wie er sagt. Er sagt auch, es habe mit dem Tod zu tun.

Ab und zu ein Wal

Aleksander Doba springt auf von seinem Stuhl. „Hab ich von der Begegnung mit dem Pottwal erzählt? Es war an einem Abend. Glatte See. Schöne Luft. Plötzlich spüre ich eine Präsenz. Da ist was. Und ich drehe mich um, und da war er, ganz ruhig, ganz nah …“ Doba schluckt, macht eine Pause, ein Mann von 67 Jahren. Er trägt im Sommer kurze Hosen und wohnt in der Ulica Roweckiego, in Police, im Norden Polens. Er hat kräftige Hände, wenig Sitzfleisch und einen langen Bart. Von Beruf Ingenieur, inzwischen in Rente, verheiratet, Söhne, Enkel – ein ganz normales Leben, einerseits.

Andererseits ging die jüngste Reise des Mannes quer über den Atlantischen Ozean, in einem Kanu. Ein Mann, ein Meer. Über sechs Monate. Und ab und zu ein Wal.

„Die Schwanzflosse war so breit wie dieses Zimmer“, sagt er, er schaut sich in seinem Wohnzimmer um, blickt zum Fenster hinaus. Dann, leise: „War ein sehr schöner Moment.“

Am 5. Oktober 2013, um 16.08 Uhr Ortszeit, kletterte Aleksander Doba am Jachthafen von Lissabon, Portugal, in sein Kajüt-Seekajak aus Karbonfaser und Epoxidharz mit Schaumkern, ergriff sein Paddel, winkte kurz, und los ging’s, Richtung Westen, Amerika. An Bord hatte er Fleisch- und Kartoffelkonserven für 100 Tage, 220 Liter Trinkwasser sowie ein Meerwasserentsalzungsgerät. Drei Flaschen selbst gemachten Wein, 200 Tafeln Schokolade. Vier Zahnbürsten, fünf Leinenhüte, Nähzeug, Handschuhe, Schraubenzieher, Batterien, Handbücher, GPS-Gerät.

Etwa 8000 Kilometer lagen vor ihm. Er fuhr allein, klar. Weniger klar sind Sinn und Zweck der Sache. Warum über den Atlantik paddeln, wenn man zu Hause bleiben kann?

Zu Hause sei er lange genug gewesen, sagt Doba. Als junger Mann kannte er vor allem die Restriktionen in Polen; nirgends durfte man hin, alles Mögliche war verboten. Sehr spät erst habe er die Freiheit des Reisens entdecken können.

Doba sitzt an dem kleinen, polierten Esstisch im kleinen Wohnzimmer der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, Ulica Roweckiego 82, Wohnung Nummer 4, er wohnt hier mit seiner Frau, aber die will übrigens nur, dass dies seine letzte Reise war.

Er hat Kaffee gekocht. Er holt ein Schälchen Karamellbonbons und erzählt von Weite und Aufbruch. Von Lissabon aus paddelte er zunächst Richtung Süden, die afrikanische Küste entlang. Auf der Höhe von Casablanca bog er rechts ab. Von nun an ging es stur geradeaus. Links, rechts, er und der Atlantik, links, rechts, schätzungsweise 30 000-mal am Tag tauchte er das Paddel ein, und er kam von der Stelle, aber eben sehr, sehr langsam; der Paddler, Pilger der Meere.

Doba folgte erst dem Kanarenstrom, dann dem Nordäquatorialstrom, am 20. nördlichen Breitengrad entlang. Oft war die See glatt. Tagelang nichts als Stille, Einsamkeit. Das Glucksen des Wassers am Kanu. Manchmal kamen Fische, der Schatten des Kanus hatte sie womöglich angelockt. Er habe mit ihnen geredet. „Ich sagte Dinge wie: ,He, dich kenne ich! Warst du schon mal hier? Was hast du für eine schöne Flosse!'“

Albatrosse am Himmel. Fregattvögel kamen, landeten auf dem Boot, ruhten sich aus, putzten ihr Gefieder. Ein kleines Exemplar landete auf Dobas ausgestrecktem Zeigefinger. Er habe, sagt er, noch lange das hauchzarte Gewicht dieses Tieres auf seinem Finger gefühlt.

Eines Abends, auf der Hälfte der Reise, traf ein Hieb das Kanu; ein Tigerhai hatte das Boot gerammt. „Er blieb nur wenige Handbreit unter der Oberfläche, war angriffslustig. Aber wozu hab ich ein Paddel? Zwei kräftige Schläge gegen den Kopf, tack-tack, so, fertig!“ Der Hai, erzählt Doba, sei dann unter dem Boot hindurchgeglitten, in mörderischer Anmut. Wegen der Haie traute sich Doba übrigens nicht, sich schwimmend abzukühlen. Auch seinen Darm zu entleeren, was nur alle paar Tage nötig war, wagte er nur, wenn er zuvor lange das Wasser beobachtet hatte, denn er musste sich dazu über die Bordwand hängen. Wochen vergingen. Links, rechts. Beim Paddeln trug er Hemd, Hut, Halstuch; untenherum: nic totalny, nichts.

Er geriet in Stürme. Aber was für welche, sagt Doba. „Gibt ja auf dem Meer keinen Schutz.“ Tage und Nächte hindurch trommelte der Regen, und die Wellen türmten sich, hochgeschoben wurde das winzige Kanu, tanzte auf dem Wellenkamm, raste abwärts auf der Welle. Blitze schlugen ins Wasser ein, und dort, wo sie eingeschlagen hatten, war die Luft erhitzt, wie elektrisch. Es war, sagt Doba, als wäre man mittendrin im Urknall.

Nach jedem Sturm: Erschöpfung. Trotzdem paddeln, immer westwärts. Links, rechts. Jeden Tag acht Stunden. Dann an die Entsalzungspumpe, drei Stunden lang, um Trinkwasser zu erzeugen. Anschließend Trockennahrung, zwei oder drei Tassen Wasser, Schokolade. Und schlafen.

Die Zähigkeit, den Willen für diesen Kraftakt – diese Eigenschaften musste Doba erst ausfindig machen. Äußerlich überquerte er den Atlantik, tatsächlich ging seine Reise nach innen. Irgendwo in den Ressourcen seiner Persönlichkeit muss er etwas entdeckt haben, was er daheim nicht entdeckt hätte – Mut vielleicht, das Gefühl, alles schaffen zu können.

Am 19. April 2014, nach 167 Tagen auf See, kam er an in New Smyrna Beach, Florida. Er war dehydriert, taumelte, sein Körper war bedeckt mit schmerzenden Salzwassergeschwüren. Die Augenlider waren entzündet, die Hände geschwollen, die Nägel aufgequollen, er war sehr glücklich.

Kauai ‚o ‚o

Der nette Mr Prentice, er möchte übrigens, dass man ihn bei seinem Vornamen, Will, nennt, – Will also steht in Tonstudio 3, er beugt sich über den Rechner und – ah, da ist sie, die gesuchte Datei, Will klickt sie an, man hört einen Vogel mit einem hellen, simplen Ruf, piep-piep-flöt. Drei Töne, mehr oder weniger. Das Ganze dauert 29 Sekunden. Nicht sehr aufregend.

Oh, sagt Will, diese Aufnahme ist etwas ganz Besonderes!

Das Tondokument, erzählt er, stammt aus dem Jahr 1983, aufgenommen auf Kauai, einer der acht Hauptinseln von Hawaii. Und der Vogel ist der „Kauai ‚o ‚o“ aus der Familie Mohoidae, ein Nektar liebender, aber auch Insekten nicht verschmähender kleiner Kerl, den sein aufwendiger Name nicht vor einem sang- und klanglosen Aussterben bewahrte: Sein Lebensraum wurde umgewandelt, ausradiert, hinzu kamen diverse Krankheiten und Ratten, die die Nester plünderten – und, jedenfalls, im Jahr 1982 gab es auf der ganzen Insel nur noch ein einziges Pärchen, das unzertrennlich war, verständlicherweise. „Und dann“, sagt Will, „kam ein Hurrikan.“

Bei der Aufnahme, die im Jahr darauf entstand, hört man den allerletzten Vogel seiner Art, das Männchen. Es fahndet nach seinem Weibchen. „Aber dieses Weibchen wurde beim Hurrikan getötet“, sagt Will, und darum sei, bei allem Engagement des Männchens, das Ganze ein „uphill battle“, ein aussichtsloser Kampf. Es sei, als würde der letzte Mensch auf Erden sich noch bei Parship.de eintragen.

Die Aufnahme ist eines von sechseinhalb Millionen Dokumenten – manche währen nur Sekunden, andere gehen über Stunden -, die Will und sein Team archivieren, hier im Norden von London, in der Euston Road 96. Hier residiert das Sound Archive des Königreichs, Unterabteilung der British Library, im zweiten Stock die Werkstätten und Labors, drei unterirdische Geschosse beherbergen das Archiv, Zugang nur mit Sonderausweis. Nur die Library of Congress in Washington, D. C., sagt Will, habe einen ähnlichen Bestand.

In London haben sie den verzweifelten Kauai ‚o ‚o, aber sie haben auch Hitler, Stalin, Churchill, und sie haben ein grollend anrückendes Gewitter über dem Meer vor Schottland. Es gibt das Geschepper von Kirchenglocken aus der Normandie, es gibt eine australische Radioshow aus den Zwanzigerjahren, es gibt das Dröhnen der deutschen Bombenangriffe auf London.

Sie haben das Hämmern und die derben Witze im Cockney-Slang der Werftarbeiter, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Docks, wo sie an den aufgedockten Schiffsrümpfen schufteten. Sie haben einen Buschmann aus der Kalahari-Wüste, der einen girrenden Gesang anstimmt. Pete Townshend von The Who spielt eine Frühversion seines „Pinball Wizard“ ein – es ist, alles in allem, der Soundtrack von fast eineinhalb Jahrhunderten, ein toller Schatz, ein Rheingold der Klänge, und Will und seine Kollegen, eine Truppe nett verschrobener Sound-Ingenieure und Tonband-Bastler, sie sind die Hüter.

Aber sie plagt auch ein Problem. Das Material zerfällt gerade zu Staub. Das Alter, sagt Will.

Die ersten Tonaufzeichnungen sind sehr betagt; die Geschichte dieser Technik beginnt im Jahr 1857 mit der Erfindung eines Pariser Buchhändlers und Freizeitgenies namens Édouard-Léon Scott de Martinville. Der bastelte aus einem Horn nebst Membran eine Art Mikrofon. Als Schwingungsschreiber nahm er eine Schweinsborste. Und als Aufzeichnungsmedium benutzte er eine mit Ruß beschichtete Walze; später wird der Ruß durch Wachs ersetzt werden. Im klimatisierten Keller in der Euston Street lagern 3500 solcher Wachszylinder aus der Zeit um 1880. Will gibt ihnen nur noch wenige Jahre.

Und das gelte, sagt er, auch für viele der Zinnfolien, für das Hartgummi der Grammophonplatten, für die Tonbänder, Kassetten, Minidisks, Floppy-Disks, Dat-Bänder, Betamax-Bänder – Material besteht eben, wie der Name sagt, aus Materie, es zerfällt, und Will und seine Kollegen überspielen alles auf vier im Land verteilte Server. Fünf Aufnahmestudios sind ständig in Betrieb; in der Werkstatt und im Labor lagern rund 2500 Geräte – einige Dutzend Grammophone, Studer-Tonbandgeräte, Kassettenrekorder. Und natürlich gibt es eine Prioritätenliste, und natürlich schuften Will und seine Leute – aber es reicht nicht. „Wir haben noch etwa 15 Jahre Zeit, dann wird der Großteil des Materials nicht mehr zu retten sein. Im bisherigen Tempo brauchen wir aber noch 48 Jahre. Uns fehlen also 33 Jahre.“

Oder 40 Millionen Pfund. Wenn sie die bekämen, zusätzlich zu ihrem sonstigen, gerade fünfstelligen Budget, wären ihre Probleme gelöst. Doch die Haushaltslage in Großbritannien ist nicht gerade glänzend; im Parlament, Unter- und Oberhaus, regnet es durchs Dach, im Tea Room gibt es eine Mäuseplage, und nicht mal dafür ist Geld da.

Und so haben sie zwar zahllose Berichte verfasst, Briefe geschrieben, sich an die Presse gewandt – vergebens. Natürlich gibt Will nicht auf, wie auch der Kauai ‚o ‚o, der kleine Vogel, zäh kämpfte, kein Wunder, dass Will ihn mag.

Aber ist es wirklich wichtig, die Klänge von eineinhalb Jahrhunderten zu retten? Ist das 20. Jahrhundert nicht ohnehin rauf und runter dokumentiert – durch Fotos, Filme, Romane, Gedichte, Malerei? Und ist es nicht auch mal wohltuend, anregend, manches nicht zu wissen? Hätte Büchner „Dantons Tod“ verfasst, wenn er die Sitzungen der Jakobiner und des Wohlfahrtsausschusses auf seinem Smartphone gehabt hätte?

Aber Will und seine Leute denken eben anders. Sie sind Archivare. Das Sammeln und Systematisieren ist ihre Mission. Sie arbeiten für künftige Generationen, sie glauben an die Menschheit und an die Zukunft, und vielleicht sind es solche Leute, die die Welt zusammenhalten.

Streit

Als der Landarbeiter Juacelo Nunes de Oliveira am Abend des 28. Dezember 2014 in die Notaufnahme der Unfallklinik „Professor Zenon Rocha“ kommt, ist er bei klarem Bewusstsein, er kann sogar mit seiner Frau sprechen, was nicht selbstverständlich ist, denn in seinem Kopf steckt, bis zum Anschlag, ein Messer.

Juacelo, auf einer Trage liegend, erklärt seiner Frau in abgerissenen Worten, dass es ihm leidtue, sie möge die Kinder in seinem Namen küssen, was sie unter Tränen verspricht.

Das Messer ist an der linken Schläfe eingedrungen, es steckt schräg im Schädel, bis an den rechten Unterkiefer. Länge der Klinge: 30 Zentimeter, ein Grill- und Küchenmesser.

Die Klinik „Professor Zenon Rocha“ liegt an der Bundesstraße 343, am südlichen Stadtrand von Teresina. Die Stadt ist Verwaltungssitz des Bundesstaates Piauí im Nordosten Brasiliens. Die „Rocha“ ist ein dreistöckiger Bau, erst seit 2008 in Betrieb, 289 Zimmer, und in der Notaufnahme herrscht an diesem Abend wieder mal Hochbetrieb – zwischen Weihnachten und Neujahr gibt es überdurchschnittlich viele Unfälle, Schlägereien, die Ärzte haben alle Hände voll zu tun. Einer von ihnen ist Salomão Oka; jung, tüchtig, freundlich. Oka ist gerade dabei, einem Mädchen das Kinn zu bandagieren, als ein Kollege die Tür zum Behandlungszimmer aufreißt, sinngemäß sagt er: Komm, ein hammerharter Fall!

Wenige Stunden zuvor, am frühen Abend des 28. Dezember, hatte Juacelo, trotz Monatsende, immer noch etwas Geld übrig, er beschloss, zur Bar do Zanzão zu fahren, dort würde Seresta gespielt werden, weiche Folkmusik aus dem Nordosten, die Songs von Chico Paulo oder Chico Seresteiro, und er würde zwei, drei Bier trinken, auf keinen Fall mehr, Juacelo nahm sich selbst das Versprechen ab.

Juacelo und seine Familie, Frau und vier Kinder, leben in der Kleinstadt Agua Branca, anderthalb Autostunden von Teresina entfernt. In Juacelos Gegend haben die Straßen keine Namen: Straße 3, Block 3. Juacelo bebaut dort ein kleines Stück Land, Mais, Süßkartoffeln, Gemüse, außerdem gehört ihm ein schwarzes Honda-Motorrad, 125 Kubikzentimeter, mit dem er Leute kutschiert und gelegentlich Besorgungen macht. Die Kinder heißen Jardel, Jardiel, Jardeana, Ismael. Die Frau arbeitet auf dem Feld mit. Sie kommen gerade so durch. Es ist ein hartes, eintöniges Leben.

Bei Zanzão lief erstklassige Musik, Juacelo trank ein schnelles Bier, mit dem zweiten ließ er sich mehr Zeit, er fühlte sich gut. Irgendwann musste er pinkeln, wollte zur Toilette, da verstellte ihm E. den Weg, ein großer, dunkler, muskulöser Mann, der vor der Toilettentür stand und ihn anschnauzte. Warum?

„Ach, weil er mich hasst, das war schon immer so!“

So geht Juacelos Version, er erzählt sie später am Telefon. Es gibt aber auch eine andere Version, die die Leute von Agua Branca sich erzählen, eine, die erklärt, woher der Hass gekommen sein könnte: Juacelo habe mit E.s Freundin angebandelt. Und in der Macho-Welt, in der Juacelo lebt, wird aus Eifersucht und Wut schnell Gewalt.

E., so erzählen es Augenzeugen, schubste Juacelo vor sich her. Er schlug nach ihm. Juacelo wich den Fausthieben aus, wollte fliehen, so bestätigt es auch die Polizei nach Zeugenbefragungen, aber plötzlich hatte E. ein Messer in der Hand, er stach viermal zu, plötzlich war das Messer weg.

Der Griff ragte aus Juacelos Kopf, der stöhnend zusammenbrach, während E. aus der Bar hastete. Und seitdem fehle von E. jede Spur, sagt die Polizei.

Im Krankenhaus in Teresina ordnet Oka jetzt eine Computertomografie an; das Gehirn ist unverletzt, der Sehnerv ebenfalls. Oka lässt Juacelo in den OP 9 bringen. Die Operation ist heikel: Beim Herausziehen der Klinge könnten Blutgefäße verletzt werden, die dann sofort versorgt werden müssten. Außerdem wollen die Ärzte Juacelo keine Vollnarkose geben, Grund: Sie können ihn nicht künstlich beatmen, die breite Klinge blockiert den Nasenrachenraum, dort, wo der Tubus in die Luftröhre eingeführt werden müsste. Das heißt, Juacelo ist zwar sediert, muss die Operation aber bei Bewusstsein durchstehen. Zum Glück, denkt Oka, steht Juacelo unter Schock, und die Hormone, die ausgeschüttet werden, vor allem Adrenalin und Kortison, bewirken, dass er die Schmerzen nicht so stark verspürt.

Sie legen Juacelo auf den Rücken, eine Schwester hält seine Hand. Sie ziehen die Klinge jetzt heraus, sehr langsam, sehr behutsam, immer nur etwa einen halben Zentimeter, dann schauen sie nach, ob es Blutungen gibt.

Noch ein halber Zentimeter.

Zu Juacelos Glück befanden sich an jenem Abend, als er verwundet wurde, zwei Freunde in Zanzãos Bar: José Souza Amorim und Leo Gonçalves de Souza. Sie halfen Juacelo hoch, besprachen sogar, ob sie selbst das Messer aus seinem Schädel ziehen sollten, entschieden sich aber dagegen, eine auf jeden Fall richtige Entscheidung. Sie halfen dem Verletzten auf ein Motorrad und nahmen ihn zwischen sich. Sie fuhren ihn zu der kleinen Klinik von Agua Branca, etwa 15 Minuten holpriger Fahrt. Von dort brachte ihn eine Ambulanz nach Teresina, schließlich auf den Behandlungstisch in Zimmer 9.

Noch ein halber Zentimeter.

Noch ein kleines Stück.

Wenige Tage später wurde Juacelo als geheilt entlassen. Er ist wieder daheim, bei seiner Familie, eine Narbe ist ihm geblieben. Er wolle jetzt sein Leben ändern, sagt er, seiner Frau keinen Kummer mehr machen, das habe er aus der Geschichte gelernt.

Während der Operation, erzählt er, habe er kaum Schmerzen gespürt, nur das Knirschen und Reiben des Metalls auf Knochen sei unangenehm gewesen. Er habe gebetet während der Operation, und es sei gut gewesen, dass da jemand seine Hand hielt.

Der Mann, der Pi war

Paris, um die Mittagszeit. Ein junger Engländer, seit fünf Jahren in Frankreich lebend, sitzt in einem Restaurant im Stadtteil Saint Germain. Er hat sich einen Platz etwas abseits von den anderen Gästen ausgesucht, die schwatzen, essen, lachen, er jedoch schweigt. Er hat die Augen geschlossen. Seine Hände liegen auf dem weißen Tischtuch. Die schmalen Finger sind ineinanderverflochten, die Knöchel treten weiß hervor.

Der Mann heißt Daniel Tammet. Er beherrscht Dinge, die kein anderer hier im Restaurant beherrscht, und wahrscheinlich auch nicht in ganz Paris, zum Beispiel auf Anhieb und im Kopf fünfstellige Primzahlen zu multiplizieren, und er kann sich 22 514 Nachkommastellen der Zahl Pi merken – aber er könnte niemals einen Führerschein machen. Zu viele Verkehrsschilder, Zahlen, Befehle, Geräusche. Er konnte auch nie einen Ball treten oder ein Glas Wein trinken oder eine Familie gründen.

Er steht jeden Morgen um sieben Uhr auf. Er macht sich jeden Morgen eine Schüssel Porridge. Er trinkt dazu genau eine Tasse Tee. Er hat sich antrainiert, im Gespräch zu lächeln, zu nicken, soziale Interaktion ist wichtig. Er lebt. Aber die Balance ist prekär.

In den achtziger Jahren, im Vorort Dagenham, im Osten Londons, wo Daniel Tammet aufwuchs, wurde er täglich verspottet, verprügelt, ausgegrenzt. Zahlen waren seine Freunde. Die 12 277 zum Beispiel, eine Primzahl, er kennt ihre Stimme, ihre Farbe. Oder die Zahl Elf. Sie hat nicht dieses Schwere, dieses Griesgrämige wie die Sechs.

„Ach, die Elf ist wirklich nett“, er lächelt.

Ein paar Tische weiter lässt ein Kellner Besteck fallen, die Messer und Löffel rasseln auf den Boden – Tammet zuckt zusammen, seine Augen flackern.

Er hat den Ort ausgesucht, beziehungsweise man hat ihm gesagt, dieses Restaurant sei geeignet für ein Interview. Tammet wirkt befangen. Er mag wahrscheinlich keine Interviews, er mag wahrscheinlich keine Fragen.

Dabei hat er so viele Antworten.

Daniel Tammet: 35 Jahre alt, Autist, Rechengenie – vor allem aber ein Buchautor, dessen Werke sich millionenfach verkauften, in 18 Sprachen übersetzt wurden.

In diesen Tagen erscheint sein neues Buch, es heißt „Die Poesie der Primzahlen“. Es ist eine Episodensammlung, wie nebenbei nähert sich Tammet seinen Themen: Wahrscheinlichkeitsrechnung, Sym-metrie, die Unendlichkeit. Immer wieder ist von Schönheit die Rede. Eigentlich ist es eine Liebeserklärung an seine Freunde, die Zahlen.

Seit einigen Jahren gibt es so etwas wie einen Trend, Bücher kommen auf den Markt, die den Normalsterblichen die Wunder der Mathematik, die Rätsel des Denkens erklären – origineller geschrieben als zuvor.

Im vergangenen Jahr erschienen beispielsweise „Homers letzter Satz“, ein Kompendium über die in den „Simpsons“ verborgenen mathematischen Anspielungen und Nerd-Witze; außerdem „Die Zahl, die aus der Kälte kam“, ein geistesgeschichtlicher Mathematik-Galopp – beide Bücher, so der Hanser-Verlag, verkauften sich auf Anhieb mehr als 100 000-mal. „Diese Bücher haben einen ganz neuen Stil“, sagt Christian Koth, Sachbuch-Cheflektor bei Hanser.

Manche tragen ihren frommen Wunsch im Titel: „Warum Mathematik glücklich macht“ heißt eine Anekdotensammlung, die Kuriosa interessanter verrührt, als jede Mathe-Stunde es vermochte. Oder: „Die Theorie, die nicht sterben wollte“, halb Biografie, halb Lehrbuch über Wahrscheinlichkeitstheorie. Und hin und wieder stößt man auf Werke von beunruhigender, glühender Intensität wie David Foster Wallaces Buch „Die Entdeckung des Unendlichen“ über den deutschen Mathematiker Georg Cantor.

„Dass Mathematik eines Tages solche Erfolge feiern würde, hätte ich nie gedacht“, sagt Lektor Koth.

Tatsächlich, die Fronten verschwimmen. Früher waren die Lager sauber sortiert. Eine Kluft von zuverlässiger Tiefe trennte die Rechner von den Romantikern, die Nerds von den Geisteswissenschaftlern, und den Mathe-Typen konnte man schon an der Uni unwidersprochen das Image anhängen, Sonderlinge zu sein. Schlau, aber schräg. Es waren Typen, die große grüne Tafeln eng mit Formeln vollschrieben, aber vergaßen, Socken anzuziehen. Die Abneigung war gegenseitig: Die Mathematiker langweilten sich wahrscheinlich mit Leuten, die Germanistik oder Kunstgeschichte oder Orientalistik studierten.

Diese Trennung in zwei Lager, in zwei Kulturen, hat Tradition, sie setzte ungefähr mit der Aufklärung ein, mit der Spezialisierung. Nun konnte oder musste man als Dichter und Denker wählen, wohin man gehörte, es gab zwei Türen. Auf der einen Tür stand: „Achtung, hier zählt nur, was man vernünftig begründen und beweisen kann“, auf der anderen Tür war zu lesen: „Sinn & Werte, Sozialtechniken“.

Die Geisteswissenschaftler wollen die Welt ergründen, indem sie die Werke des Menschen studieren, die Benutzeroberfläche des Lebens. Shakespeare und das Mittelalter, Monotheismus, Max Weber, Punk.

Mathematiker denken weiter. Der Mensch und sein zivilisatorisches Gedöns interessieren sie nicht, Gedichte, Utopien, Interpretationen, wozu soll das gut sein? Mathematiker wollen universelle Wahrheiten ergründen.

Vielleicht ist das sogar das härtere Los: ein einsames Tüfteln und Herumdenken im Steinbruch der Abstraktionen.

Aber dafür sind die Erkenntnisse der Mathematik unkaputtbar. Sie können nicht umgedeutet, in einem anderen Licht gesehen, anders interpretiert werden. Sie können gar nicht interpretiert werden. Der Satz des Pythagoras, a² + b² = c², für das rechtwinklige Dreieck, ist seit Tausenden Jahren im Umlauf und wird höchstwahrscheinlich gelten, solange das Universum existiert. Oder die jüngst bewiesene Poincaré-Vermutung. Oder die Erfindung der Null. Oder der Euklidische Algorithmus. Die Beständigkeit dieser Entdeckungen erwies sich als unschlagbarer Vorteil. Ohne Pythagoras, ohne die Möglichkeit, einen rechten Winkel zu konstruieren, hätte man kein vernünftiges Fenster bauen können, ohne Algorithmen könnte man keinen Satelliten betreiben.

Falls es so etwas wie ein Rennen gab zwischen Mathematikern und Geisteswissenschaftlern, so haben die Mathematiker gewonnen. Und auch noch auf einem Gebiet, auf dem doch eigentlich die Geisteswissenschaftler regieren wollten – im Koordinatensystem der Gesellschaft.

Mathematiker durchdringen und formen die moderne Gesellschaft stärker als alle Essayisten, Soziologen und Orientalisten zusammen. Wobei nicht sie regieren; sondern ihre Resultate. Vor allem Algorithmen sind die Zauberformeln unserer Zeit. „Algorithmen“, sagt auch Daniel Tammet, „haben echte Macht.“

Dabei sind Algorithmen zunächst nur Rechenanweisungen, eine möglicherweise sehr lange Kette von Wenn-dann-Befehlen. Doch mit der Leistungsexplosion der Computer begann auch der Siegeszug der Algorithmen. Algorithmen lenken Autos, suchen Terroristen, kaufen Aktien. Oder sie tun nur so, als ob sie Aktien kauften, sogenannte Raubtier-Algorithmen, die den Markt mit Kaufordern ködern, um Fehlreaktionen zu provozieren. Der US-Fernsehsender NBC berichtete unlängst, dass bei den Drohnen-Programmen in Pakistan in den Jahren 2009 und 2010 etwa die Hälfte der Tötungen lediglich auf Verhaltensmustern beruht haben soll – ohne Beweis, ohne Verhör. Ein Algorithmus kommt zu einem Ergebnis, und irgendwo in Peschawar stirbt ein Mensch. Vielleicht war es ein Terrorist, vielleicht auch nicht. Google entwickelt derzeit ein Auto, das selbständig fährt, mit Hilfe von Algorithmen. Google selbst ist ein Imperium aus Algorithmen.

Die Mathematiker mögen gewonnen haben; doch zum Glück braucht die Welt auch Verlierer, Deuter, Romantiker. Menschen sind mutig, heiter, grausam, depressiv, schwatzhaft – das lässt sich nicht codieren. Das Leben selbst ist unberechenbar und sinnlich. Wer Spanien verstehen will, muss Goya verstehen, wer Goya verstehen will, sollte Feuchtwanger lesen oder Robert Hughes. Höchste Zeit also, den Krieg zwischen den zwei Kulturen beizulegen, Brücken zu bauen, Bücher zu schreiben.

Einer der begabtesten Brückenbauer ist dieser schüchterne, bebrillte Engländer, der im Restaurant in Paris sitzt. Daniel Tammet, der Autist, hat die Hälfte seines Lebens damit verbracht, sich zu verkriechen; die zweite Hälfte, um aus seinem Gehäuse auszubrechen, die Einsamkeit zu überwinden.

Tammet wurde geboren als Sohn eines Fabrikarbeiters, der seinen Job verlor, Daniel war das erste von neun Kindern, die unter heldenhafter Verleugnung der Umstände auf die Welt kamen. Ein schreckhafter, scheuer Junge sei er gewesen, sagt er, oft angeraunzt von seinem Vater, wegen seiner zwei linken Hände und weil er Erwartungen nicht erfüllte. Aber er wurde geliebt von seiner Mutter. Diese Liebe muss für ihn wie eine Nährstofflösung gewesen sein, die ihn am Leben hielt – dort, wohin er sich verkroch.

Um sein bedrückendes, seltsames Leben wenigstens zu verstehen, betrieb er Mathematik: Er versuchte sich an einem mathematischen Modell seiner Mutter, um ihr Verhalten vorherzusagen. In seinem Buch verknüpft er solche Erlebnisse mit Ausflügen in die Zahlentheorie, in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Geschichten sind lustig, traurig und anrührend.

Irgendwann entdeckte er die Zahl Pi, die das Verhältnis von Kreisumfang zu Durchmesser angibt, 3,14 und so weiter, eine verschrobene Zahl, nicht periodisch, irrational, transzendent, wunderbar. Pi war wie Daniel, er beschloss, ihre Ziffernfolge auswendig zu lernen, wenigstens auf rund etwa 22 000 Stellen.

„Ich druckte sie mir auf frische, briefbogengroße Blätter, jeweils 1000 Ziffern pro Seite, und schaute sie mir an, wie ein Maler in eine seiner Lieblingslandschaften eintaucht“, schreibt er. „Aus den Hunderten und später Tausenden formte sich, sorgfältig dargestellt und abgewogen, allmählich eine Zahlenlandschaft.“

Und dann machte Pi ihn zum Star.

Vor ziemlich genau zehn Jahren fuhr Daniel Tammet zum Museum for the History of Science der Universität von Oxford. Fünf Stunden und neun Minuten lang sagte er 22 514 Nachkommastellen von Pi korrekt auf, vor staunendem Publikum und unter strenger Aufsicht von sieben Mathematikern. Dieser europäische Rekord, die Anerkennung, war für ihn eine Art Befreiung, brachte den Durchbruch.

Seitdem ist Daniel Tammet unterwegs. Die Zahlen bleiben seine Freunde; aber er will jetzt auch mit Menschen umgehen können. Drei Bücher hat er geschrieben, zurzeit übersetzt er Gedichte ins Französische, er lernt Sprachen, schreibt sich lange Briefe mit dem Romanautor Paulo Coelho, den er bewundert.

Es sieht leicht aus, aber es war ein langer Weg aus der Einsamkeit und Kälte. Das großartige Porträt zum Beispiel des französischen Fotografen Patrick Swirc, das diesen Artikel hier illustriert und das Daniel mit geschlossenen Augen zeigt – so sieht er sich nicht, so will er nicht sein, kein in sich versunkener Gedächtnis- und Zahlenfreak.

Daniel Tammet ist 35 Jahre alt. Er wird in den kommenden Jahren schreiben, von Zahlen, Schach und Mathematik erzählen, er wird auf diese Weise versuchen, seine Einsamkeit zu überwinden, Brücken zu bauen. Er kämpft um sein Glück, und um mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu sprechen: Seine Chancen sind größer als 0,5.

Käse aus dem Off

Käseforschung ist kein Spaziergang, kein Kinderspiel, all die Testreihen, Nächte und Wochenenden, die man im Labor verbringt, brütend über Chromatografie-Resultaten, Protease-Sequenzen, Peptid-Formationen, Kefir-Kulturen; aber nach drei Jahren hatten sie ein Ergebnis, und sie veröffentlichten es im „Oxford Journal of Archaeology“, was für einen Biochemiker fast schon ein bisschen unter seiner Würde ist.

Dann kam die Mail, der Triumph.

Die Redaktion der Zeitschrift „Nature“ teilte mit, die Resultate aus Dresden seien als „Highlight“ für die nächste Nummer vorgesehen; mehr Anerkennung war kaum denkbar. Sie hatten einen Käse erforscht. Ein Sturm von Anfragen brach über sie herein.

„Also – am Ende steht Sieg“, sagt Andrej Shevchenko. Er sitzt in seinem Büro, Max-Planck-Institut, Dresden, Zimmer 139/Nord, er kratzt sich den Bizeps, wackelt mit den Zehen. Seine Straßenschuhe stehen unter dem Tisch, während der Arbeit trägt er Birkenstock-Sandalen, ein formloses T-Shirt, Dreitagebart. Geboren ist er im damaligen Leningrad, seit 1996 lebt er in Deutschland. In einem staubigen Regal eine Urkunde: Preis der „Deutschen Gesellschaft für Massenspektrometrie“.

Auf dem Weg zu ihm geht man vorbei an lichtdurchfluteten Labors, die mit piependen, rauschenden, tuckernden, summenden Geräten ausgestattet sind, wo seine Leute an Proben von Fruchtfliegen, Spulwürmern, Maden arbeiten; Shevchenko holt einen Stuhl für seine Frau Anna, sie arbeitet auch hier. Er ist bärig-brummig, sie klein, schmal, lebhaft.

Die beiden kennen sich aus Russland, vor 26 Jahren haben sie sich in einem Labor ineinander verliebt, wo sonst. Sie haben zwei Kinder, außerdem die Angewohnheit, sich gegenseitig ins Wort zu fallen, vor allem aber haben sie eine Leidenschaft – die Proteinanalyse. Was immer das sein mag.

„Was ist Proteinanalyse? Wichtige Frage! Proteine werden untersucht mittels Massenspektrometrie“, sagt er.

„Du erklärst nicht gut“, sagt sie.

„Bitte, dann du“, er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Man kann sagen, Proteinanalyse ist Abenteuer“, sagt sie und lächelt.

Das Abenteuer begann, als sich 2011 ein chinesischer Archäologe namens Dr. Yang Yimin meldete. Ob sie den Halsschmuck der „Schönen von Xiaohe“ entschlüsseln könnten?

Bei der „Schönen“ handelt es sich um eine 4000 Jahre alte, mumifizierte Frau aus der Wüstenregion im Westen Chinas. Um ihren Hals fanden die Archäologen kleine, braune Bröckchen. Eine Kette? Ein magisches Irgendwas? Menschenfleisch? Wie lebten diese Leute? Woran glaubten sie? Yang hatte viele Fragen, große Fragen.

Die Shevchenkos hingegen bewegen sich in der Welt der sehr kleinen Zusammenhänge. Sie finden: Gott ist in den Details.

Wäre eine Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, so groß wie ein Passagierflugzeug, wäre ein durchschnittliches Bakterium im Vergleich dazu ein Tennisball. Dieses tennisballgroße Bakterium bestünde auch aus Proteinen, Eiweiß-Bausteinen. Würde man sich nun ein Bakterium von der Größe eines Hochhauses denken, dann wäre ein mittleres Protein so groß wie ein Streichholzkopf. Das sind die Größenverhältnisse, in denen die Shevchenkos unterwegs sind.

Mit Massenspektrometrie bestimmt man die Masse eines Moleküls. Allerdings nicht, indem man es wiegt. Sondern indem man das Molekül spaltet, es in Bewegung versetzt, zum „Fliegen“ bringt. Das geschieht, indem man die Molekülteile ionisiert, elektrisch lädt. Vom „Flugverhalten“ lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Beschaffenheit der Substanz, Kohlenstoff oder Eiweiß, Salz oder Fett.

Zunächst reinigten die Shevchenkos die Bröckchen, indem sie Fette und Salze auskämmten. Dann spalteten und ionisierten sie die Proteine, verglichen sie in einer Datenbank von 35 Millionen anderer Substanzen. Bis sie sicher waren: Bei den Bröckchen handelt es sich um Käse. Aber was für Käse? Immer neue Vergleichsmessungen. Immer neue Labordaten.

Die Geschichte der erforschten Käseklümpchen müsste eigentlich in Schulbüchern nachgedruckt werden – als Beispiel, wie Naturwissenschaft funktioniert, als Lehrstück, wie Neugier, Intelligenz, Sturheit und Akribie zu einem Resultat führen können. Einerseits sinnlos, andererseits großartig.

Am Ende wussten sie, dass die Bröckchen vor 4000 Jahren eine Art Kefir-Käse gewesen waren, wahrscheinlich eine Grabbeigabe, Wegzehrung für die letzte Reise. Die Archäologen, Yang und seine Kollegen, waren sehr aufgeregt. Was bedeutet es, wenn man Käse als Grabbeigabe verwendet? Waren diese Menschen womöglich die Ahnen der heutigen Chinesen? Waren sie eine frühe Hochkultur?

Die Shevchenkos beteiligten sich nicht an diesen Spekulationen. Ihr Job war es gewesen, ein Rätsel zu lösen, eine präzise Antwort zu geben. Erledigt. Sie arbeiten am nächsten Projekt: 4000 Jahre altes Lampenöl. Woraus es gewonnen wurde. In ein paar Jahren wissen sie mehr.