Der Zahlenflüsterer

Plötzlich ist er verschwunden, obwohl er noch am Tisch sitzt, aber er hat sich aufgelöst in einer Welt dekadischer Logarithmen und 40-stelliger Primzahlen. Sein Mund ist verzerrt. Die Augenlider flattern, er streckt den Zeigefinger, malt Zahlen in die Luft, unsichtbare, nur er kann sie sehen, und dann schnipst er sie nach links und dividiert und flüstert mit ihnen, die Zahlen scheinen zu gehorchen – ihm und seinem Zeigefinger, der beinahe so weiß ist wie die gefaltete Serviette auf dem Tisch des Steakrestaurants.

Das Wesen der Wirklichkeit ist die Zahl, sagten die Pythagoräer.

Es ist früh am Nachmittag. Im „Maredo“ in der Bonner Innenstadt ist der mittägliche Ansturm vorüber. Die Luft ist dick von Rauch und Essensgeruch. Zwei Tische weiter sitzt ein Pärchen beim Kaffee, die Frau stupst ihren Begleiter, nun schauen sie beide herüber, auch die Kellnerin ist stehen geblieben, wischt sich die Hände ab und starrt her.

Was kritzelt er da in die Luft, dieser unrasierte Mann? Und was murmelt er?

„Ähem, schauen Sie bitte – die Vier und die Eins als Anfangsziffern einer sehr großen Zahl liefern uns vorzügliche Anhaltspunkte, dass die Lösungszahl zwischen 45 975 000 und 46 060 000 liegt – das ist schon mal ausgezeichnet, jetzt allerdings bitte ich um Aufmerksamkeit, nun wird es ein bisschen unübersichtlich …“

Und rechnet weiter.

Und stimmt, es wird unübersichtlich.

Der Mann im Steakrestaurant heißt Gert Mittring. Er ist 38 Jahre alt, studierter Informatiker, zwei Doktortitel, gemessener IQ von 145, geschätzter IQ: 170, wahrscheinlich ein Genie. Mitglied der Bach-Gesellschaft sowie im „Klub Langer Menschen“. Er ist 1,90 Meter groß, hat einen eingetrockneten Saucenfleck auf der Krawatte und eine Mission.

Er will uns zum Denken bringen.

Und so stand Mittring am Vormittag des 23. November 2004 um elf Uhr auf, putzte sich die Zähne und frühstückte: eine Tafel Schokolade. Dann zog er sich an und verließ seine kleine Wohnung am Bonner Adenauer-Platz, wo er am Abend zuvor noch lange Bach gelesen hatte – um Musik zu hören, leiht er sich Partituren aus und liest sie. Er stieg in seinen roten Citroën und fuhr gen Gießen.

Wo man ihn erwartete. Wo er einen Weltrekord aufstellen sollte.

Albrecht Beutelspacher, Gießener Geometriepro-fessor, ist ein umtriebiger Mensch. Er schreibt Kolumnen, er hat in Gießen ein Mathematik-Museum gegründet, und er veranstaltet dort populäre Rechenshows.

Um 18 Uhr betritt Mittring also die kleine Bühne im Hörsaal 1. Rotes Sofa, Flasche Wasser, Kameras, ein Laptop ist eingestöpselt. 170 Zuschauer. Man nimmt Platz. Mittring und Beutelspacher machen Small Talk, magische Quadrate, punktsymmetrische Strukturen – worüber Mathematiker halt plaudern.

Um 18.30 Uhr setzt Mittring sich um, Rücken zum Publikum, Gesicht zur Leinwand. Der Laptop wird gestartet, sein Zufallsprogramm wird gleich eine hundertstellige Zahl ermitteln und auf die Leinwand projizieren. Mittrings Job: die 13. Wurzel ziehen*. Jene Zahl also, die, zwölfmal mit sich selbst multipliziert, die projizierte Zahl ergibt. Und bitte im Kopf.

Bereit? Mittring nickt. Es erscheint:

7066437381674286102234008830240157375704233170702632731269721516000 395709065419973141914549389684111.

Im Publikum atmen Leute scharf aus.

Hundert Stellen halt.

Die Zeit läuft.

Mittring starrt. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden.

Als er vier war, nahm Mittrings Mutter, eine Kirchenmusikerin, ihn zum Einkaufen mit. Er saß im Kindersitz und addierte die Preise all dessen, was Mama in den Wagen legte. Anschließend staunte er, dass die Frau an der Kasse alles nochmals eintippte – er hatte doch die Lösung längst genannt.

Mit zwölf ersann er Formeln, mit denen man endlich mal Wochentage schnell 4000 Jahre rückwärts berechnen kann. In der Oberstufe wählte er Mathe als Leistungsfach, was sonst, schließlich waren ihm Lösungen immer auf den Schoß gesprungen. Trotzdem schrieb er ständig Sechsen – weil er nicht begriff, was an der gestellten Aufgabe eigentlich das Problem war.

Sieben Sekunden. Beutelspacher starrt auf Mittring. Acht Sekunden. Der starrt auf die Zahl. Sitzt vorgebeugt, malt Nebenrechnungen in die Luft.

Neun Sekunden. Mittring hat zunächst das Zahlenungetüm gleichsam abgeschritten. Vor allem die ersten sechs Ziffern sind wichtig, er befühlt sie so, wie ein Orthopäde ein krankes Knie betastet, er ermittelt die Mantisse, die an die logarithmische Kennziffer 99 angehängt wird, er dividiert, delogarithmiert, sein auf Vereinfachung komplexer Operationen trainiertes Hirn arbeitet auf Hochtouren.

Es hilft ihm, dass er zum Beispiel 7,68 x 13 nicht „rechnet“, sondern weiß – Mittring, Meister der Trillionen, aber auch ein Freund kleiner Zahlen. Die Fünf zum Beispiel mag er, sie ist so balancierend. Auch die Sieben hat er gern um sich, ein eigensinniges Ding.

Elf Sekunden. Die Gießener Studenten tippen noch. Stopp! Mittring hat gebrüllt. Er ist fleckig im Gesicht. Verliest seine Lösung. 47 941 071. Im Hörsaal ist es einen Moment lang sehr, sehr still.

Die Lösung stimmt, errechnet in knapp zwölf Sekunden. Mit zwei Sekunden unterm bisherigen also neuer Weltrekord. Applaus, Mittring muss Hände schütteln, Autogramme geben, Bücher signieren. Es ist spät und dunkel, als er wieder Richtung Bonn fährt.

Macht Rechnen glücklich, Herr Mittring?

Mittring sitzt im Maredo-Steakhaus und spielt mit dem Wasserglas. Er zögert, dann lächelt er. Sein Gießener Auftritt liegt einige Wochen zurück. „Rechnen heißt durchdringen, es ist ein ästhetischer Genuss – und, ja: Es macht mich glücklich, sehr.“ Er schweigt. Dann beginnt er zu essen, leert seinen Teller methodisch von rechts nach links.