Ein Fall für Papa
Ein Kind fällt aus dem Himmel. Es ist der Himmel über Paris, über dem 20. Arrondissement, unweit der Metro-Station Porte de Vincennes. Der Himmel ist an diesem Tag grau und fahl, und der Körper dreht sich im Fallen, es ist ein kleiner Junge, an den Füßen blaue Stoppersocken, 17 Monate, öligschwarz die Haut, die Eltern stammen aus Zentralafrika, er hat auf dem Balkon gespielt, und dann ist er durch die Gitterstäbe geglitten. Sie haben die Dachwohnung in der 7. Etage, hinter einer zerschrappten Holztür. Im Treppenhaus Geruch von Hirse und Knoblauch.
Der Name des Jungen: Idris S. Auf dem Balkon sitzt noch seine Schwester, vier Jahre alt. Die Eltern sind nicht zu Hause. Die Uhrzeit: etwa 16.35 Uhr.
Vom Balkon bis zum Asphalt sind es rund 20 Meter. Zwei Sekunden wird der Fall also dauern, etwa so lange wie man braucht, diesen Satz zu lesen. Der Körper wird, unabhängig von seiner geringen Masse, eine konstante Beschleunigung erfahren, jener Formel gemäß, die auf Newton und seine Erkenntnisse zur Gravitation zurückgeht; sobald Idris auf dem Asphalt aufschlägt, wird er etwa 72,3 Stundenkilometer schnell sein und sterben, er braucht jetzt ein Wunder.
Es wird bald dunkel. Kaum ein Mensch ist draußen zu sehen, ein Feiertag, Allerheiligen. Das Haus, aus dem Idris fällt, steht an einem freien Platz, im Erdgeschoss ein Café, geschlossen. Im Fernsehen läuft „Terminator 2“, France 2 hat für später „Mein Vater der Held“ ins Programm gesetzt, mit Gérard Depardieu.
Drei Menschen werden gleich ins Leben von Idris treten: Raphaël, ein aufgeweckter Junge, siebenjährig, der gern escargots isst, Schnecken, und den Film mit Depardieu gern sehen würde; dann dessen Vater, Dr. Philippe Bensignor, ein freundlicher Herr, 58 Jahre alt, melancholisch; und drittens Monsieur Hacéne, geboren in Algerien, Vater von vielen Kindern, Patron im Cours de Vincennes, Kneipe, Café, Tabakladen.
Vor dem Cours de Vincennes befindet sich ein Briefkasten. Davor stehen jetzt drei Personen, der Mann ist der melancholische Dr. Bensignor, er steht neben seiner Ex-Frau, Catherine, und steckt einen Stapel Briefe ein, Formulare für Krankenkassen, sein Sohn Raphaël zupft ihn am Hosenbein.
„Papa! Papaa! Da oben!“
Dr. Bensignor hat sich bei Catherine gerade nach dem Befinden seiner Ex-Schwiegermutter erkundigt, und während sie antwortet und er kaum zuhört, denkt er: Warum frag ich? Und warum zerrt Raphaël an mir rum?
Dr. Bensignor bekam nach der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen. Raphaël ist wochentags bei ihm, Dr. Bensignor bringt ihn morgens zur Ganztagsschule, eilt dann in seine Praxis, er ist Arzt, abends holt er ihn ab, das Kochen ist ihr Zeremoniell, Raphaël liebt Schnecken, Dr. Bensignor liebt Raphaël. Die Wochenenden verbringt der Junge bei seiner Mutter. Soeben hat sie ihn zurückgebracht.
Dr. Bensignor weiß nicht, warum, aber seit ein paar Wochen ist er schwermütig. Vor kurzem starb sein Onkel, immer öfter kommen ihm jetzt Zweifel am Sinn des Lebens, vielleicht ist es die Midlife-Crisis, sagt er. Er war nie sehr religiös, aber neulich lag er im Bett und konnte nicht einschlafen.
Wenn es dich gibt, Gott – dann gib mir ein Zeichen, dass das hier unten auf der Erde alles hier nicht sinnlos ist, merci.
Gib mir ein Zeichen. Ich bräuchte es wirklich.
Für Monsieur Hacéne, den Wirt, den Algerier, besteht die ganze Welt aus Zeichen – „alles ist Maktoub, Schicksal“. Vor zwei Jahren verkaufte er sein Taxi, kaufte ein Café, ließ eine schicke Markise anbringen, knallrot, jeden Abend wird sie eingefahren, damit sie geschont wird. Monsieur Hacéne wollte mit Menschen zu tun haben, sie bewirten, unterhalten, dem Leben auf diese Art Bedeutung verleihen.
Am Vorabend von Idris‘ Sturz ging Monsieur Hacéne früher heim. Er überließ es Gabié, seinem Angestellten, gegen 20 Uhr abzuschließen. Gabié rief ihn an. Die Markise lasse sich nicht zurückfahren. Was jetzt? Mechaniker? Nein, entschied Monsieur Hacéne, nicht nötig, bleibt sie eben ausgefahren.
Das war Maktoub, sagt er heute. Ein Zeichen.
Dr. Bensignor, vor dem Briefkasten, erblickte endlich, was Raphaël, der an ihm zerrte, längst gesehen hatte – ein Kind fiel aus dem Nichts. Er verfolgte die Bahn. Plötzlich ganz konzentriert. Idris fiel, fiel, prallte auf die rote Markise, auf den Stoff. Plopp! Der Stoff riss. Aber nur etwas. Der Körper hüpfte hoch. Wie von einem Trampolin. Fiel wieder. Dr. Bensignor hatte die Arme ausgestreckt. Sah nichts als die Flugbahn. Catherine neben ihm schrie, er hörte sie nicht, als wäre der Ton abgestellt, er machte einen Ausfallschritt, hatte es.
Das Kind lag in seinen Armen. Er sah es an, staunte, untersuchte es, alles okay. Irgendwann kam der Rettungswagen.
Noch am Abend ging Dr. Bensignor in die Église Saint-Gabriel, wo er sich für das Zeichen bedankte, er ist übrigens nicht mehr melancholisch seit jenem Nachmittag. Idris geht es blendend. Seine Eltern allerdings haben ein Verfahren am Hals. Monsieur Hacéne will sein Café umbenennen, in „Café des Wunders“. Raphaël verpasste in all der Aufregung den Depardieu-Film, aber das war egal.