Das gierige Gehirn
Keine Freunde, keine Kinder, keine Frau, er hatte noch nie Sex in seinem Leben, Kim Peek weiß gar nicht, was das ist. Er ist 51 Jahre alt. Seine Waden sind dürr wie zwei Stöcke, an einen Führerschein war nie zu denken, sein Vater kutschiert ihn. Kims Hände sind weich, weiß und eiskalt. Er würde in jedem Swimmingpool ertrinken, er könnte keinen Koffer tragen, niemals ein Spiegelei braten. Aber er ist glücklich. Er hat etwas, das alles aufwiegt, mehr wert ist als Sex oder Geld oder etwa Liebe.
Kim Peek hat Antworten.
In der Lobby des Marriott-Hotels von Salt Lake City gibt es einen offenen Kamin, riesengroß, marmorgetäfelt. Morgens um acht werden die Gasflammen angeknipst und züngeln bis Mitternacht akkurat um die Holzscheitimitate. Vor dem Kamin stehen cremefarbene Sessel, und darin sitzen jetzt Kim Peek und sein Vater Francis, ein weißhaariger Herr, mittlerweile 74, mit freundlichem, dabei stets besorgtem Gesicht. Der Kellner bringt zuckerlosen Saft und treibt sogar salzarme Cracker für Kim auf; aber der will weder essen noch trinken, er stöhnt.
Stülpt die Unterlippe vor, ein Speichelfaden hängt daran, er merkt es nicht. Immer wieder versucht er, sich aus seinem Sessel hochzudrücken, immer wieder sackt er zurück, sein Vater redet beschwichtigend auf ihn ein, Kim verschränkt die Hände vor dem Kinn, er wiegt den Oberkörper, schnauft. Vor, zurück, vor, zurück.
„Baaaaah – aaaah …“ Er stöhnt jetzt sehr laut und starrt ins Feuer.
Der Kellner schaut besorgt herüber.
„Fragen Sie ihn irgendwas“, sagt Francis Peek, der Vater, „das beruhigt ihn – etwa nach dem Wochentag, an dem Sie geboren sind.“
„Kim, ich bin am 26. Dezember 1959 geboren …“
„Samstag“, sagt er, „danke schön, dein Vater, Vater, Vater, Kinder, deine Kinder?“ Er blinzelt durch seine schwere Hornbrille, seine Augen sind klein und rötlich entzündet.
„Er will noch mehr Geburtsdaten“, sagt Francis Peek. Er betrachtet seinen Sohn, besorgt, zärtlich, stolz.
„Okay, Kim, mein Vater wurde im Jahr 1923 geboren, am 16. Juni …“
„Ein Samstag, danke schön.“
„… und mein älterer Sohn am 13. Februar 1996 …“
„Dienstag“, sagt Kim Peek, „und wenn er in Rente geht, 13. Februar 2061, wird es ein Sonntag sein.“ Die Antworten kommen schnell, anscheinend mühelos – und sie stimmen.
„Kim, wie viel ist 4397 mal 8915?“
„Baaaah – aaah – ich rechne nicht gern“, er schnauft, „vielen Dank, drei, neun, eins, doppel-neun, zwei, doppelfünf, aber uuuuh – ich rechne nicht gern.“ Der Kellner ist leise näher getreten; er wird heute Abend was zu erzählen haben.
39 199 255: Kim Peek hat dieses Ergebnis nicht ausgerechnet, sondern hervorgeholt, so als sähe er es. Seine taschenrechnerhafte Fähigkeit, vor allem in der Kalenderkalkulation, umfasst einen Zeitraum von etwa 4000 Jahren, sie ist unzählige Male getestet und verglichen worden; Kim vertut sich praktisch nie, und er ist viel schneller als ein Mathematiker.
„Erzählen Sie ihm, wo Sie leben“, sagt Francis Peek.
„Kim, ich komme aus Hamburg, das liegt im Norden von Deutschland …“
„Danke schön, Hamburg: Mitglied der Hanse, 1510 Reichsstadt, 1558 Börsengründung, 1678 die erste Oper, 1871 Beitritt zum Deutschen Reich, 17 Jahre später zum Zollverein, aber vorher, 1842, ein Feuer, nicht so wie hier …“ Er deutet zum Kamin.
„Sondern ein schreck-, schreck-, schreckliches Feuer, es brach aus am 5. Mai 1842 …“
Seine Stimme wird schrill, das Stöhnen setzt wieder ein.
„Welcher Wochentag war das, Kim?“ Sein Vater unterbricht ihn.
„5. Mai 1842, Donnerstag, danke schön.“
Kim Peek ist plötzlich ganz ruhig. „Schöne Flammen hier“, sagt er, „bewegen sich regelmäßig, es ist ein, ein, ein …“
„Ein Muster?“
„Danke schön.“
Er schaut in die Flammen, seine Augen zucken, aber er sieht glücklich aus.
„Kim, wie rechnest du diese Kalenderdaten aus – wie machst du das?“
Er schweigt. Scheint gar nicht zugehört zu haben. Sein Vater antwortet: „Niemand kann das erklären, er am wenigsten – für ihn ist es wahrscheinlich seltsam, dass wir diese Fähigkeit nicht haben. Er speichert Informationen aus etwa 14 Gebieten, neben Kalenderrechnen kennt er auch Geschichtsdaten, Busverbindungen, das Straßennetz in den USA und Kanada, die Telefonvorwahlen, Postleitzahlen, aber er braucht dringend Output, er will gefragt werden …“
„Kim, ich fliege morgen nach Boston …“
„Ah, gut, morgen, Donnerstag.“
Seine Stimme klingt monoton.
„Genau. Von dort fahre ich in einen Ort namens Lovell, bei Fryeburg im Bundesstaat Maine …“
Er unterbricht, schnarrt: „Lovell, von Boston, Logan Airport, die Route 128 nach Norden, bis zur Route 95 nach New Hampshire, vielen Dank, Route 16, 113, die Orte heißen Conway, Fryeburg, Lovell, Vorwahl 207, P-P-Postleitzahl 04051, vielen Dank.“
Francis Peek lächelt. „Sie können alles nachprüfen, es wird stimmen. Er kann auch Baseball-Ergebnisse, etwa 40 Jahre zurück, oder Geografie, afrikanische Städte …“
Der Kellner steht jetzt direkt neben uns, er starrt Kim Peek an wie den menschlichen Routenplaner, wie ein Wunder.
„Sie nennen ihn Kimputer“, sagt Francis Peek genüsslich, „er liest einfach alles, liest bis zu zehn Stunden am Tag. Und sein Gehirn ist ein Lagerhaus. Aber ein sortiertes: Er hat Zugang zu allem, es strengt ihn nicht im Geringsten an.“
Kim starrt in das Kaminfeuer, Francis Peek streichelt die Hand seines Sohns.
„Stimmt’s Kim, du gibst gern Antworten?“
„Morgen ist Donnerstag“, sagt Kim, seine Stimme ist leiernd, „i-i-ich liebe Fragen, ich liebe Antworten, vielen Dank.“
Doktor Darold Treffert hat eine Menge Freunde, vier wohl geratene Kinder und eine charmante Frau. Sie heißt Dorothy, sie spielt konzertreif Klavier und erfüllt das Haus am See von morgens bis abends mit Polonaisen von Chopin und mit Brahms-Sonaten. Nichts fehlt Darold Treffert zu seinem Lebensglück, fast nichts.
Außer einer Antwort. Einer Antwort, Kim Peek betreffend – zum Beispiel.
Treffert ist 67 Jahre alt; bis vor kurzem war er Chef der psychiatrischen Abteilung am St.-Agnes-Hospital in dem Städtchen Fond du Lac, im Bundesstaat Wisconsin, dreieinhalb Flugstunden von Salt Lake City und Kim Peek entfernt. Er ist groß, schlank und immer noch sportlich, und in seinem Arbeitszimmer hängt eine goldene Plakette, die ihn als einen von hundert „Best Doctors in America“ ausweist. Aber es gibt Tage, da sitzt er in seinem Arbeitszimmer, oben im Musikzimmer bearbeitet Dorothy den schwarzen Steinway-Flügel, und er blickt hinaus auf den kleinen Wasserfall auf seinem Grundstück und grübelt, ob er noch ein Buch schreiben sollte – über die Kim Peeks dieser Welt. Behinderte mit einer Inselbegabung, so genannte Savants: Sie sind das Thema seines Lebens.
Früher sagte man unfreundlich „idiots savants“, also „wissende Idioten“: Leute, die keine Straße überqueren können, aber 26 Sprachen sprechen; die einen Zeichentrickfilm wie „Das Dschungelbuch“ nie im Leben kapieren könnten, aber für einen Zeitraum von etwa 40 000 Jahren den Wochentag errechnen können. Schaltjahre inbegriffen. Menschen, die Mühe haben, ihren Namen zu krakeln, aber das British Museum in allen Details nachzeichnen können.
Treffert hat sie fast 40 Jahre lang studiert, behandelt, gefilmt. Er weiß, dass das Savant-Syndrom oft mit Autismus einhergeht, dass es Männer sechsmal so häufig wie Frauen trifft, dass es nicht mehr als schätzungsweise 100 Savants gibt.
Die Kim Peeks dieser Welt – Treffert findet sie immer noch wunderbar, sie sind so arglos, schutzlos, so weltentrückt und talentiert.
„Savants“, sagt er leise, „zeigen uns die Empfindsamkeit des Gehirns und seine Schönheit.“
Aber wie? Wie etwa speichert Kim Peek seine unzähligen Antworten, die ihn so glücklich machen? „Das ist die 65-Millionen-Dollar-Frage“, sagt Treffert und blickt aus dem Fenster.
Auch Kim Peeks Biografie hat Treffert minutiös dokumentiert, vor allem die beiden großen Tage in Kims Leben: sein Coming-out und den „Dustin-Tag“, wie Kim sagt, die Begegnung mit Dustin Hoffman.
Sein Coming-out ereignet sich Weihnachten 1962. Bis dahin haben Francis Peek, der erfolgreich eine Werbeagentur in Salt Lake City betreibt, und seine Ehefrau sich damit abgefunden, dass ihr erstes von drei Kindern so alptraumhaft behindert ist.
Kims Kopf ist seit der Geburt um ein Drittel größer als bei normalen Kindern, die Nackenmuskeln können das Gewicht nicht halten, er scheint ständig Schmerzen zu haben und schreit als Säugling, bis er nur noch krächzen kann. Beim Laufen und Sprechen liegt er um Jahre zurück, dafür hat er sonderbare Gewohnheiten wie Papierschnipsel sortieren, und dabei darf man ihn nicht stören, sonst wird er hysterisch.
Am Weihnachtsabend 1962, Tanten und Onkel sind da, Kims Geschwister sagen artig Verslein her, da tritt plötzlich Kim vor. Ohne Warnung rezitiert er die Weihnachtsgeschichte, Lukas, Kapitel 2, von Kaiser Augustus bis zu den Hirten – und zwar wortgetreu. „Er hatte den Text in der Kirche gehört und abgespeichert“, sagt Francis Peek. „Als ob er uns sagen wollte, hey, Leute, bitte unterschätzt mich nicht.“
Das tun sie nicht. Seine Eltern fördern ihn, versorgen ihn mit Fakten. Bis heute hat Kim etwa 7600 Sachbücher gelesen – Romane sind für ihn völlig unverständlich -, dazu Fahrpläne, Adress- und Telefonbücher, das Allermeiste hat er sich gemerkt, es entspricht dem Inhalt von etwa 190 Umzugskartons voller Bücher. Nebenbei hat er 17 große Kladden gefüllt mit seiner pedantischen, linksgestellten Bleistiftschrift: Amerikaner, quer durchs Land, mit denselben drei Endziffern ihrer Telefonnummer. Kims Gehirn giert nach Arbeit.
Und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Hollywood ihn entdeckte.
Kim ist 33, als er dem Drehbuchautor Barry Morrow über den Weg läuft, auf einer Tagung der National Association for Retarded Citizens, des amerikanischen Behindertenverbands. Morrow hat schon eine TV-Serie über einen Behinderten geschrieben, aber so etwas wie Kim hat er noch nie erlebt. Was für ein Mensch! Und welch ein Stoff! Zwei Jahre später liegt das Drehbuch vor, Arbeitstitel: „Rain Man“. Sechs Monate darauf fliegen Francis und Kim Peek erster Klasse nach Los Angeles, zu einer Verabredung mit Dustin Hoffman.
Für die beiden ist es eine Reise ins Märchenreich; für den Schauspieler ist es Arbeit. An Kim studiert er Gesten, Ticks, er fühlt sich ein in das Dasein eines Savant. „Bei der Filmpremiere“, sagt Francis Peek, „dachte ich, dass Dustin meinen Sohn besser begriffen hat als ich.“
Am Ende bedankt sich der Oscar-Gewinner Hoffman mit einer charmanten Wendung: „I may be the star“, sagt er zu Kim, „but you are the heavens.“ Übersetzt heißt das: Ich bin vielleicht der Stern, aber du bist der Himmel.
Als Schauspieler das Denken und Fühlen eines Savant abzubilden ist eine brillante Leistung. Nur eins ist womöglich noch schwieriger: einen Savant zu verstehen. In sein Gehirn zu blicken.
Hirnforscher kennen zwar die Regionen des Hirns und können sie kartografieren; Kortex, Thalamus, Amygdala, Substantia nigra und so weiter. Sie können auch Wüstenmäuse konditionieren oder in Computern neuronale Netze designen, die das Lernverhalten eines Gehirns simulieren. Aber das System als Ganzes bleibt ihnen ein Rätsel. „Uns fehlt das Big Picture“, sagt Treffert, „trotz 15 Jahren angestrengter Forschung.“
Was man immerhin weiß: dass dieses graue, wattige Organ, durchschnittlich 1300 Gramm schwer, seit 30 000 Jahren fast unverändert, durchsetzt mit chemischen und elektrischen Synapsen, abgefüllt mit Neuromodulatoren wie Dopamin, Serotonin, Acetylcholin und Noradrenalin – dass das Gehirn demokratisch organisiert ist. Wobei es wahrscheinlich eher umgekehrt ist: Demokratie und Staatenbildung als soziale Umsetzung von Hirnstrukturen.
Jedenfalls funktioniert das Gehirn wie ein idealer Staat, mit Checks und Balances, Exekutive und Aufsichtsgremien. Bewusstes Denken ist ein exekutiver Vorgang, mit Planung, Vorbereitung, Kontrolle. Wie etwa das Aufstellen einer Einkaufsliste fürs Wochenende: Tee, Brot, Käse.
Dieser Prozess findet vor allem auf der Großhirnrinde statt, vorwiegend auf dem präfrontalen Kortex, in Stirnhöhe. Der Vorgang umfasst Einzelvorgänge wie den prüfenden Blick in den Kühlschrank, den Check-up im Erinnerungsspeicher, wie viel Brot man übers Wochenende brauchen wird; dieser banale Denkvorgang ist in Wahrheit eine große Vernetzungsleistung. Und er ist zudem gefährlich: Denn die Nervenzellen, einmal erregt, haben die Neigung, immer weiter zu funken, sie wollen andere Nervenzellen erregen – wollen sich synaptisch verzweigen, Assoziationen bilden, kaskadenweise.
Man notiert „Tee“ und denkt: Was braucht man sonst noch? Vielleicht ein neues Teeservice? Und eine dazu passende Vase, aber in eine Vase gehören Blumen, apropos Blumen, der Garten sieht trübe aus, ein neuer Rasenmäher wäre nicht schlecht, oder kann man den alten reparieren, wo bekommt man eigentlich Zündkerzen für Rasenmäher …? Und so würde, ohne Bremse, das Gehirn immer weiter rattern. „Epileptisch“, sagt der Tübinger Neurobiologe Niels Birbaumer, „der Cortex cerebri will denken, denken, bis er auseinander kracht, bis er explodiert – also muss er kontrolliert werden.“
Diese Denkhemmung läuft über Substanzen, die von Arealen wie Thalamus, Striatum und Nucleus niger ausgeschüttet und über das Basalgangliensystem geleitet werden, wo nochmals sortiert, selektiert, kontrolliert wird. Ein gesundes Gehirn hält sich eine Art Magazinverwalter: Was man benötigt, wird ins Ausgabefach gelegt; mehr nicht. Die Savants hingegen, vermutet man, kennen weder Ausgabefach noch Magazinverwalter, sie leben ständig im Lagerhaus ihrer Erinnerung, umgeben von ihren Schätzen. Zahlen, mathematischen Strukturen, Bildern. So lebt Kim Peek – oder auch Stephen Wiltshire.
An einem warmen, sonnigen August-Tag 2001 steigen zwei BBC-Reporter und ein junger Schwarzer mit einer Basecap in einen Hubschrauber. Sie planen ein Experiment: eine Sightseeing-Tour über London.
Die Versuchsperson ist der junge Mann mit der Basecap, Stephen Wiltshire, 29 Jahre alt, geistig zurückgeblieben. Sein Job: aus dem Fenster gucken. Der Hubschrauber steigt auf, knattert über die Innenstadt. Wiltshire sitzt links am Fenster, noch nie hat er London von oben gesehen, aber er kennt die Sehenswürdigkeiten: Da hinten, zählt er mit leiernder Stimme auf, ist die St. Paul’s Cathedral, die Themse, die Tower Bridge und so weiter. Sekündlich etwas Neues, ständig wechselt die Perspektive.
Anschließend verfrachtet man Wiltshire auf eine Wiese. Dort steht unter Obstbäumen ein kleiner Klapptisch. Wiltshire kriegt ein großes Blatt Papier, einen Bleistift, einen Filzstift.
Und in den folgenden drei Stunden zeichnet er – ohne ersichtliche Mühe – ein exaktes Luftbild von London. Er beginnt rechts oben und arbeitet sich von der hinteren Horizontlinie nach vorn, schon das ist ungewöhnlich, mit hypnotischem Gleichmut kritzelt die Filzstiftspitze übers Papier, quietschend fügt sich Detail an Detail, Fenster, Türme, Simse, Streben. Er zeichnet nicht, er druckt das Bild aus.
Der Ausschnitt umfasst eine Fläche von etwa zehn Quadratkilometern mit 12 Sehenswürdigkeiten, etwa 200 weiteren Gebäuden, alles am richtigen Platz, in der korrekten Perspektive.
Wie bei jedem Menschen waren auch bei Stephen Wiltshire die wahrgenommenen Bilder im Hinterkopf gespeichert, und zwar im visuellen Cortex, einem Rindenareal von etwa drei Quadratzentimetern, mit drei bis vier Milliarden Zellen. Während des Hubschrauberflugs sind von der Netzhaut zahllose Einzelbilder dorthin gesendet worden, Stephen Wiltshires Gehirn hat diese Eindrücke mit seinen Gedächtnisaufzeichnungen von London verglichen und mit Hilfe des Hippocampus-Areals zu einem räumlichen Gesamtbild zusammengesetzt. Was Stephen Wiltshire von Normalsterblichen unterscheidet, ist der frappierende Zugriff auf sein Gedächtnis. Er sieht dauerhaft, was er gespeichert hat.
Dieser Gedächtniszugang ist nur die Folge, der Nebeneffekt, einer bei jedem Savant unterschiedlichen Behinderung; nicht zu verwechseln mit der Krankheit selbst. Ein Savant-Gehirn kann die unterschiedlichsten Leistungen erbringen: Geschichtsdaten, Verkehrsanbindungen und Kalenderrechnen wie bei Kim Peek, visuelle wie bei Wiltshire – oder auch sprachliche wie bei Christopher Taylor.
Taylor ist 40 Jahre alt, er lebt in einer beschützten Wohngruppe in einer Kleinstadt im Nordosten Englands. Hier arbeitet er gern im Garten, und freitags setzt er seine graue Lieblings-Pudelmütze auf und marschiert in den Pub, auf ein kleines Guinness, höchstens zwei. Der Pub ist 200 Meter von seinem Wohnheim entfernt, ohne Begleitung würde er sich wahrscheinlich verlaufen, jedenfalls ängstigen. Aber er spricht, liest, schreibt Dänisch, Holländisch, Finnisch, Französisch, Deutsch, Griechisch, Hindi, Italienisch. Außerdem Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Schwedisch, Türkisch und etwas Walisisch. Er freut sich über Besucher, vor allem, wenn sie ihm eine griechische Tageszeitung mitbringen oder ein polnisches Taschenbuch oder den aktuellen SPIEGEL, dann begrüßt er die Besucher mit röhrendem Jubel: „Wörter, Wörter, gebt mir Wörter!“
Woher nehmen die Savants ihre Fähigkeit? Die Frage ist nahe liegend und trotzdem falsch. Hirnforscher fragen anders herum: Warum können wir Normalsterblichen nicht, was Savants können?
Schließlich ist der Gedächtnisaufbau bei allen Menschen derselbe, angelegt in der Großhirnrinde, die etwa 100 Milliarden Nervenzellen umfasst, so dass deren Ausleger, die synaptischen Dornen, auf schätzungsweise eine Trillion Kombinationen kommen: eine Eins mit 18 Nullen, ein organischer Mega-Store.
Hier hat alles Platz, was wir erleben: Jeder Tag, jede Szene, jedes Bild, von der Kindheit bis heute, ist gespeichert – die Bilder sind nur nicht abrufbar, sie sind so dicht komprimiert, dass sie unzugänglich bleiben. Das macht Sinn. Um unwichtige von wichtigen – also überlebenstauglichen – Informationen zu trennen, hat das Gehirn im Laufe seiner Evolution vor allem drei Methoden entwickelt.
Wiederholung, Verknüpfung und – vor allem – emotionale Bedeutung: So funktioniert die Markierung wichtiger Bits. Kein Mensch würde sich den Namen seines Flugkapitäns merken, der ihn von Frankfurt nach New York befördert. Doch würde dieser Pilot unterwegs eine dramatische Notlandung hinlegen müssen, auf einem Eisberg, verknüpft mit den Sensationen einer nächtlichen Bergung, würde das Passagiergehirn Tausende von Zellkernen aktivieren, Proteine produzieren, und jedes Mal, wenn man die Geschichte erzählte, würde der Name des Flugkapitäns aufgerufen, das Gehirn würde die Verbindung verstärken, noch im Altersheim könnte man mit der Story Eindruck machen.
Emotionale Bedeutung ist eine clevere Strategie. Die Filterung von Gedächtnis-Bits gewährleistet Auswahl und da mit Präzision, trotz ungeheurer Kapazitäten.
Andererseits macht dieser Mechanismus das Lernen mühevoll. Könnte man diesen Filter manipulieren, nach Bedarf dimmen, könnte jeder Normalsterbliche womöglich im Handumdrehen Französisch lernen, mühelos Chopin klimpern, vielleicht ein kreatives Potenzial freilegen.
Zu schade, dass es nicht geht.
Es kann gehen, sagen Wissenschaftler.
Ein normaler Arbeitstag im Leben des Physikprofessors Allan Snyder sieht so aus: gemütlich ausschlafen, dann 1200 Meter Brustschwimmen, und nach dem Frühstück wird gearbeitet bis drei Uhr nachts. Snyder, preisgekrönt und einer der originellsten Forscher Australiens und Direktor des Centre for the Mind in Sydney, interessiert sich für praktisch alles auf dieser Welt. Für hoch komplexe Lichtwellenmodelle, Thema seiner Habilitation, ebenso wie für Mode und Imitationsverhalten. Am meisten aber, seit nunmehr 16 Jahren: für Savants.
Snyder ist ein schlanker, temperamentvoller Mann von Mitte 50. Mit Vorliebe trägt er eine schwarze Kappe, die ihm seine Freundin auf dem Pariser Gare de l’Est geschenkt hat; er ist ein bisschen kauzig, ziemlich fröhlich und wie sein Mentor, der Neurologe und Bestsellerautor Oliver Sacks, betont, „absolut brillant“.
Allan Snyder ist der Mann, der die Genie-Formel sucht.
Seine Vision: dass wir, die Normalsterblichen, von den retardierten Genies lernen sollen. „Savants zeigen uns“, sagt Snyder, „wer wir wirklich sind – wer wir sein könnten.“ Snyders These deckt sich in weiten Teilen mit dem, was auch renommierte Verhaltensphysiologen und Neurobiologen wie Gerhard Roth oder Manfred Spitzer inzwischen über das Gehirn des Menschen wissen: Die Strategie, sich nur an bedeutende Ereignisse zu erinnern, verhindert den Zugriff auf den vollen Datensatz, auf das, was der Mensch eigentlich weiß.
Snyders Problem ist nur: Wie kann man diese Filter und Hemmungsmechanismen reduzieren, ohne die chemisch-elektrische Balance des Hirns zu gefährden? „Dieses Problem“, sagt Snyder, „werden wir lösen.“
Vor kurzem haben Snyder und sein Sechsmannteam ein aufwendiges Forschungsprojekt hierzu beendet. Sie haben ein Jahr lang im Keller der University of Sydney einige hundert Probanden mit „Transkranialer Magnetstimulation“ (TMS) behandelt, einer seit einigen Jahren gebräuchlichen Diagnose- und Forschungsmethode, die bestimmte Hirnregionen stimuliert und andere verlangsamt.
Snyders Ziel: bestimmte neuroelektrische Muster zu unterdrücken und dafür andere freizusetzen – und dabei wurden die geistigen Fähigkeiten getestet. Beispielsweise mussten die Versuchspersonen Tiere zeichnen, Primzahlen erkennen, Lesetests absolvieren. „Ihre Kreativität“, berichtet Snyder, „stieg um 40 Prozent, die Versuchspersonen unter TMS-Einfluss dachten weniger vernunftgesteuert, weniger konzeptuell und in festen Bahnen. Sie hatten besseren Zugriff auf ihre unbewussten Reservoire.“
Er zögert, sagt dann: „Sie waren für einen Moment wie Savants.“ Und Oliver Sacks, der sich auch selbst den Stimulationshelm aufsetzte, formuliert es so: „Das Ganze könnte auf eine Sensation hinauslaufen.“
Snyder träumt von einer Denk-Kappe, mit der kreatives Potenzial und Lernvorgänge verbessert werden. „Klingt nach Science-Fiction“, gibt er zu, „aber wer hätte sich vor 30 Jahren etwas wie das Internet vorstellen können? Außerdem, wenn man etwas Neues macht, sagen alle: unmöglich. Wenn man zeigt, dass es möglich ist, heißt es: ist doch nicht bewiesen. Wenn man es beweist, heißt es: ist alles nichts Neues.“
Noch gibt es keine Snydersche Denk-Kappe zu kaufen, noch fehlt den Hirnforschern das Big Picture vom Gehirn, und noch sitzt Darold Treffert, der Savant-Forscher aus Wisconsin, in seinem behaglichen Arbeitszimmer in Fond du Lac, schaut auf das Wäldchen und den kleinen Wasserfall auf seinem Grundstück, während er eine CD in den Händen hält.
Er hat die CD neulich zugeschickt bekommen, von der Mutter eines Savant, eines kleinen Jungen, der Klavier spielt. Treffert kennt viele Klavier-Savants, sie können Tausende von Stücken auswendig vortragen, aber fast alle spielen hölzern, mechanisch, ausdruckslos. Was das Klavierspiel angeht, ist Treffert von seiner Ehefrau Dorothy verwöhnt; er hegt also keine hohen Erwartungen, als er die CD einlegt. Doch dann hält er den Atem an.
Und denkt: wow.
Aufgeregt holt er seine Frau: „Dorothy, das musst du dir anhören.“ Es ist ein Jazz-Trio: Piano, begleitet von Bass und Schlagzeug. Die rechte Hand perlt über die Tastatur, dazwischen prächtige, auftrumpfende Akkordfolgen, und dann wieder improvisiert der Pianist zart und transparent, wie in Trance.
Die beiden hören zu. „Das ist gut“, sagt Dorothy nach einer Weile. „Nicht nur gut, es ist – phantastisch. Wer ist das?“
„Ein Savant“, sagt Treffert.
„Das glaube ich nicht“, sagt sie.
„Na ja, es ist eigentlich nur ein kleiner Junge“, sagt Treffert, „elf Jahre alt.“
Und so beschließt Darold Treffert, vielleicht doch noch ein Buch zu schreiben: ein Buch über den kleinen, knochigen, bebrillten Jungen Matt Savage, der das absolute Gehör hat, mit sechs Jahren Klavier spielen lernte und schon mit neun so farbig und leuchtend komponiert und improvisiert, dass Dave Brubeck und Chick Corea ihn zum Jahrhunderttalent erklären.
Vielleicht findet Treffert hier die Antwort, die er sucht.
Er hört die CD, wo er kann, vor dem Frühstück und abends im Auto. Er hört zu und sieht so zufrieden aus, als hätte er die Antwort schon gefunden.