Homestory 18

Jedenfalls bin ich eine Verantwortung los, eigentlich sollte ich mich freuen; aber für mich ist es erst mal ein Abschied. Mein Sohn konnte diesen Tag natürlich kaum erwarten. Da bugsierst du dein Kind über die Datumsgrenze, über die 18-Jahre-Marke, mit einem Großeinsatz an Fahrrädern, Zahnklammern, Elternabenden, und dann, wenn du denkst, du kennst dein Kind, verwandelt es sich über Nacht in einen Mann, in einen Fremden.

Mein Sohn macht sich ans Auspacken: dunkelblaue Socken. Er jubelt, ironisch übertrieben und etwas gönnerhaft, wie ich finde, aber freundlich, das ist die Haltung, die er sich neuerdings zugelegt hat im Umgang mit seinen alten Eltern.

Ich trug in seinem Alter nur weiße Socken, jahrelang. Es gab sie in Zehnerpacks, damals hieß es noch Sonderangebot, nicht Sale; und man dachte: Hey, toll, das Sockenproblem ist auf Jahre hin gelöst, doch dann zerfielen sie bei der ersten Wäsche, trotzdem blieb man dabei. Ich trug weiße Socken wie eine Lebenseinstellung, es waren die Achtzigerjahre, und ich dachte, ich hätte meinen Stil gefunden, dabei war ich nur falsch abgebogen, in eine Geschmacksverirrung.

Mein Sohn trägt Tennissocken zum Tennis; ansonsten kleidet er sich ungefähr wie ein 42-jähriger Fachanwalt für Vertragsrecht (das will er werden). Er ist viel erwachsener, als ich es mit 18 war oder mit 54 bin, und vor allem ist er viel leistungsbewusster, im Resultat: besser. Er schafft mehr Klimmzüge, als ich je geschafft habe (in meinen besten Zeiten: 12, er: 29). Ein Eins-komma-irgendwas-Abitur, daran hätte ich nie zu denken gewagt; und er arbeitet strukturierter als ich damals, er macht sich einen Plan, dann zieht er das durch, eins, zwei, drei. Seine Freunde, glaube ich, sind wie er, sie feiern auch systematisch, ich schätze, sie machen sich einen Plan, arbeiten dann eins, zwei, drei die Getränke weg.

Wobei Exzesse eher selten vorkommen. Eigentlich ist das eine ziemlich gesunde Generation; bei uns wurde mehr Junkfood gegessen und sinnlos gesoffen, es gehörte zum Bild der Partys, dass immer einer oder eine irgendwo lag und sich vollgekotzt hatte, nicht schön, aber so war es. Eines Tages hat mein Sohn Schokolade aus seinem Leben gestrichen, um sich von nun an auf Amaranth-Riegel zu verlegen, während ich bis heute nicht weiß, was Amaranth ist. Beim Schach schlägt er mich in sieben von zehn Partien, bei Gartenarbeit lässt er mich gewinnen.

Ich war damals viel unsicherer, meine Freunde ebenfalls. Zwar gaben wir uns großspurig und waren dauerempört; doch was unser Lebensgefühl prägte, war Unsicherheit. Es waren die Siebziger- und Achtzigerjahre – und wir mussten erst mal dieses Land hier verstehen, dieses Deutschland. War es gut, hier zu leben? Wie sollten wir herausfinden, was das richtige Leben für uns war?

Wir hatten Angst. Ich erinnere mich noch an die Grafiken, die beispielsweise der SPIEGEL druckte, Ost gegen West, die kleinen Raketen standen gegeneinandergerichtet, die Zerstörungskraft war immer millionenfach, und Deutschland lag mittendrin. Also fuhren wir nach Bonn, um für den Frieden zu demonstrieren, und wir fuhren nach Brokdorf, um die Nuklearkatastrophe zu verhindern (am Ende, siehe Tschernobyl und Fukushima, haben wir recht behalten. Hat das eigentlich mal jemand klar gesagt?).

Harte Zeiten. Zwischendurch bauten wir uns Nester, umgaben uns mit allerlei Kram, sammelten Schallplatten, sammelten französische Filmplakate, damals gab es auch noch diese „Setzkästen“, eine identitätsstiftende Einrichtung – habe ich nie woanders als in Deutschland gesehen. Wenn einer sein Studium schmiss, um in Portugal Olivenbauer zu werden oder um mit einer freien Theatergruppe Stücke zu spielen, bei denen die Schauspieler nur Feinrippunterwäsche trugen und sich auf dem Boden wälzten, – so bewunderten wir den.

Es gab Tonnen von Männerbüchern und auf Schritt und Tritt Frauengruppen, aber die Wahrheit ist: Niemand wusste, wie es geht mit der Liebe. Letztlich lief es auf Trial and Error hinaus. Die Hälfte meiner Freunde, die eine Ehe eingingen, ist geschieden; dass ich es nicht bin, ist Zufall. Ich habe nur Glück gehabt. Bei der Kindererziehung hatten wir ständig die Sorge, irgendwas falsch zu machen, wir haben draufloserzogen, aber wir hatten keine Vorbilder. Das ganze Leben war Trial and Error, zu kompliziert, zu verknäult, zu analog, um es zu verstehen, zu sezieren, zu planen.

Das Leben meines Sohnes ist digital, nicht weil er mehr Zeit am Computer verbringt, sondern weil ihn diese Struktur geprägt hat: Er teilt sein Leben ein, bringt alles auf eins oder null, und diese Aufgaben und Einheiten erledigt er eine nach der anderen. Probleme sind dafür da, um gelöst zu werden. Ob die Politik dafür taugt – das glaubt er eigentlich nicht. Aber er verliert auch keine Zeit mit diesen Zweifeln. Stattdessen plant er ein Praktikum bei einer Anwaltsfirma in Los Angeles, er wird bald weg sein. Er wird mir fehlen. Ich mochte es, Vater zu sein, gebraucht zu werden.

Wir singen. Mein Sohn bläst die Kerzen aus. Werde meinetwegen erwachsen, denke ich, möge dein Leben, die Liebe, möge das alles gelingen. Ich wünschte, ich hätte ein Rezept. Happy Birthday.