Vom Eise befreit
Er wachte auf, sah nichts. Wie lange war er ohnmächtig gewesen, fünf Minuten, zehn? Seine graue Fleece-Mütze war blutdurchtränkt, das Blut war kalt. Er wollte nachdenken, irgendwas hatte Karin erwähnt, aber seine Gedanken flatterten.
Plötzlich wurde ihm übel, er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander. Der Schock, dachte er. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt, er sah sich um, dachte: Wo bin ich?
Die Gletscherspalte, in die Manfred Landbeck gestürzt war, die Beine voran, war eine A-Spalte: oben eng, unten breiter, 45 Meter tief. In einer Tiefe von 15 Metern aber befand sich eine Art Zwischensockel von zwei mal zwei Metern. Diese Schneebrücke hatte ihn aufgefangen, dort stand er jetzt: 38 Jahre alt, Mechaniker aus Karlsruhe, Wintersportler, Besitzer eines Snowboards Typ „Renntiger“. Links und rechts und vor ihm: der Abgrund. Landbeck verlagerte sein Gewicht, um aus dem Snowboard zu steigen, der Schmerz jagte bis in die Hüfte. Sein Bein war gebrochen.
Er fror, begann wieder zu zittern. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, Samstag, der 28. September 2002.
Landbeck blickte nach oben. Sah ein Stück blauen Himmels, dort gab es Skilifte, Hotels, Menschen, unerreichbar. Er befühlte die glatten Wände der Gletscherspalte. Ich werde hier sterben, dachte er. Irgendwas hatte Karin gesagt.
Etwa 470 Kilometer weiter, in Karlsruhe, Händelstraße 28, in der kleinen Küche ihrer Altbauwohnung, nahm Karin Schulze gerade die Espressokanne vom Herd. Sie schäumte Milch auf, Kakaopulver: der perfekte Cappuccino, der perfekte Samstagnachmittag. Ihre Freundin Gaby war da. Durchs Küchenfenster schien die Nachmittagssonne, die Korbstühle hatten weiche Kissen.
Die zwei Frauen würden den Nachmittag verquatschen, abends dann zum Italiener. Und später in eine Bar, einen netten Mann kennen lernen, wer weiß.
Karin Schulze, Einkäuferin beim Heine Versand, spezialisiert auf Damenoberbekleidung und -unterwäsche, ist eine selbstbewusste Frau, groß, blond, attraktiv. Manfred Landbeck und sie waren ein Paar gewesen, drei Jahre lang. Die Trennung lag drei Jahre zurück. Ihre Freundschaft blieb. „Wir sind seelenverwandt“, sagt sie. „Karin ist wunderbar“, sagt er.
Landbeck war am Freitagmittag losgefahren. Im „Neuen Hintertuxer Hof“ hatte er sich mit Freunden getroffen, alle begeisterte Snowboarder. Am nächsten Morgen um neun Uhr standen sie auf dem Tuxer Gletscher, 3250 Meter hoch, man sah die Dolomiten, der Himmel konnte blauer nicht sein.
Ein Gletscher aber ist nicht nur ein Eisklotz. Ein Gletscher wandert, bewegt sich wie ein lebendiges Wesen, er bildet Tische, Zungen, Schründe, Spalten. Auf dem Tuxer Gletscher gibt es abseits der Pisten einige hundert dieser Spalten, bis zu 120 Meter tief. Manfred Landbeck fuhr um halb vier Uhr nachmittags die letzte Abfahrt. Plötzlich verschluckte ihn der Gletscher.
Landbeck liebt Filme, Abenteuer, Brad Pitt, Bruce Willis. Er selbst wollte nie ein Held sein, jetzt musste er.
Er musste den Ausweg finden.
„Nimm’s Handy mit hoch“, hatte Karin gesagt. „Wozu?“, hatte er gefragt, lachend. Aber er hatte es eingesteckt, fiel ihm ein. Er zerrte das Ding aus seiner Brusttasche, wählte, traf die winzigen Tasten nicht. Jetzt! Kein Netzempfang. Nur für Sekundenbruchteile fand sein Handy eine Verbindung, obwohl er es über dem Kopf schwenkte wie ein Gestrandeter eine Laterne. Seine zweite Idee: eine SMS. Die Botschaft würde in kleinsten Portionen gesendet und ankommen, vielleicht, hoffentlich. Füße, Beine fühlten sich an, als müssten sie gleich zerbrechen, die Finger zitterten, er schickte die erste SMS los, sie lautete AXLQJFS. Verdammt. Er bezwang sich, tippte um sein Leben.
Um 16.08 ging bei Karin Schulze in Karlsruhe die Botschaft ein: SITZE IN GLETSHERSPALTE RETTET MICH!!
Karin starrte das Display an. „Der Manfred“, sagte sie, „der macht doch keine Witze mit so was, oder?“
„Glaub ich auch nicht“, sagte ihre Freundin zögernd. Und dann sprang Karin auch schon auf: „Wir müssen ihm helfen!“
In der Altbauküche in der Händelstraße telefonierten die beiden Frauen um das Leben von Manfred Landbeck. Auslandsauskunft, Tourismuszentrale in Hintertux, das Rote Kreuz, der Handy-Betreiber, die Polizei in Österreich, Polizei in Karlsruhe. Sie sprachen auf drei Telefonen, erklärten, drängten, flehten.
Oberkommissar Wolfgang Müller hatte seine Schicht in der Karlsruhe Einsatzleitstelle um kurz vor zwölf Uhr angetreten. Der Nachmittag war ruhig. Bis um 16.11 Uhr der Anruf Nummer 171016 einging: „Fr. Schulze, Freundin d. Verunglückten, extrem aufgebracht“.
Müller kannte Hintertux vom Sommerurlaub. Seine Idee: die Hotels anrufen, da kennt jeder jeden. Sein erster Anruf hatte Erfolg. Der Schwager der Hoteliersfrau war der Leiter der Pistenrettung, Norbert Pichelsberger. 20 Minuten später machte sich das dreiköpfige Rettungsteam auf den Weg, per Pistenbully, einem Kettenfahrzeug mit einem 300-PS-Dieselmotor.
In seiner Gletscherspalte stand Manfred Landbeck und rief um Hilfe.
In ihrer Küche saßen Karin und Gaby und hatten nur einen Gedanken.
Am Steuer des Pistenbullys saß Martin Wechselberger, Pistenretter, er fand die Spuren und die Spalte. Um 17.35 Uhr, zwei Stunden nach seinem Sturz, wurde Landbeck nach oben gezogen, zurück ins Leben, er blinzelte in die untergehende Sonne. Sieben Minuten später wussten Karin und Gaby Bescheid. Sie riefen Oberkommissar Müller an, dann weinten sie, dann öffneten sie eine Flasche Sekt.