Apokalyptische Wiese

Henri ist, wenn es um schulische Themen geht, diskret: Er kommt vom Unterricht nach Hause, wir stellen eine Unmenge von Fragen, er antwortet im Telegrammstil. Er ist 14, unser Sohn.

Hey, Henri! Du bist ja schon da, wie war’s denn in der Schule, was hast du gelernt, wann schreibst du die nächste Arbeit, wie läuft es in Mathe, wie läuft es in Physik, Deutsch, Französisch? Erzähl doch mal!

„Läuft ganz okay, danke.“

Das klingt doch prima, erzähl doch mal mehr, wie kommst du mit den Lehrern zurecht?

„Ganz okay.“

Das ist der Ablauf. Nur neulich – da war es anders.

Neulich hatte Henri, kaum dass er in der Tür stand, eine Neuigkeit zu vermelden. Ein neuer Kunstlehrer sei an der Schule. Aber was für einer! Einer, der seine Bilder nicht male oder zeichne, mit Pinsel oder Stift, sondern schreie und singe. Er stelle sich vor die leere Leinwand und brülle, bis das Bild fertig sei, sozusagen. Er sei eben eindeutig Künstler, kein Kunstlehrer, und daraus mache er auch kein Geheimnis. Er nenne sich Herr „3Rooosen“, mit drei o und der Ziffer 3 davor. Und er verlange, genau so und nicht anders von den Schülern angesprochen zu werden.

Das waren mehr Informationen über einen einzigen Lehrer an einem einzigen Tag als sonst in einem ganzen Schuljahr. Zweierlei war offensichtlich: In der Rolle als Lehrer gastierte ein Quartalsirrer, und mein Sohn war stolz darauf.

Meine Frau und ich fanden die einschlägige Website und die YouTube-Links: Man sah einen korrekt gekleideten Mann mittleren Alters, offenbar in einer Galerie oder jedenfalls vor Zuschauern, man sah ihn zwölf Minuten und neun Sekunden lang vor einer leeren Leinwand gestikulieren, toben, grunzen, spucken, jaulen. Das Bild, das er produzierte, hieß: „Apokalyptische Blumenwiese“. Es klang so: „Der Himmel hängt soo schief / Vom Hooorizont kommt ein Zyklop und schmeißt mit Farben um sich! Waaa! Paff! Aaaah! Uuuh! Urrrrg!!“

Dabei sprang er, wahrscheinlich den Zyklopen darstellend, vor der leeren Leinwand auf und ab. Man konnte, wenn man wollte, seine Fantasie in Gang setzen und auf der (natürlich immer noch leeren) Leinwand ein wildes Gemälde imaginieren, ein Bild, das gleichsam im Kopf des Betrachters entstand, indem der Mann es schreiend beschrieb. Wenn man wollte.

Dies also war der Pädagoge, der unsere Kinder in das Zauberreich der Kunst einführen sollte, der ihnen die Vermeers, die Rothkos dieser Welt vorstellen würde? Der ihre Kreativität wecken sollte? Wen würde diese Schule als Nächsten einstellen? Eine Stripperin, die den Satz des Pythagoras tanzt?

Es gab andere, ebenfalls im Netz dokumentierte Aktionen des Herrn 3Rooosen, eine „Geschenkeverbrennung“ zur Weihnachtszeit vor einem Kaufhaus, mit einem kleinen Grill, und eine Aktion, auf der er mit Bildern spazieren ging. Man kann darin ein Potpourri aus Studentenulk und Dada sehen, man kann aber auch der Meinung sein, dass da jemand rumläuft, der offensichtlich durchdreht. Dieser Meinung war ich.

Sohn Henri, beim Abendbrot, sah das anders. Er berichtete, dass 3Rooosen gut ankomme in der Schule. Auf jeden Fall sei es mal was anderes. Sein älterer Bruder: Bei Kunstunterricht dürfe man nicht zu viel verlangen. Meine Frau fand, es sei immerhin eine Abwechslung. Und was für ein Kunstunterricht wäre denn meiner Meinung nach angemessen?

Sie hatten natürlich recht. Gibt es so etwas überhaupt: angemessenen Kunstunterricht? Für eine Klasse pubertierender Mädchen und Jungs, die eine Million andere Dinge im Kopf haben?

Die Kunst, der sie gegenüberstehen, ist eine befreite Kunst; sie haben Bekanntschaft gemacht mit Action-Painting, mit Happening, mit Fluxus und Land Art und Neuen Wilden. Irgendwo in diesem Meer, etwa in den Breitengraden von Performance und Fluxus, schwimmt Herr 3Rooosen umher, ein kleiner Fisch, aber munter. Ich rief ihn an, verabredete mich mit ihm, in meinen Eigenschaften als Vater und Journalist.

Ich erinnere mich an die Kunstlehrer meiner Schulzeit. Sie waren nett und lasch. Sie gönnten uns eine Auszeit, zwei Stunden zwischen Mathe und Latein. Wer ein Minimum an Eifer an den Tag legte, kriegte eine Eins, alle anderen eine Zwei. Vielleicht haben wir was verpasst.

Davon erzählte ich dem Bildersänger. Wir saßen im Chinarestaurant, aßen frittiertes Huhn, und Rosen (so nannte ich ihn, alles andere war mir zu blöd) trank ein alkoholfreies Bier. Was mich erstaunte. Ich dachte, wer Bilder singt, der kippt drei Pils und am Ende noch ein paar Schnäpse; aber nein, er erklärte, Alkohol schade seiner Kreativität, er rauche auch nicht, er lebe für seine Ideen.

Rosen ist 47 Jahre alt, Sohn eines Lehrerpaars, aufgewachsen in Kiel, Kunststudium in Hamburg, hier lebt er, schlägt sich als Künstler durch. Ab und zu übernimmt er Vertretungen an Schulen, eine halbe Stelle, befristet. Karg bezahlt, sagte er, wenn man bedenke, dass er jede Stunde minutiös vorbereite.

Ich glaubte ihm das. Und was er sagte über seine Auftritte, das klang zwar selbstverliebt und wenig überraschend – Sehgewohnheiten brechen, Leute zum Nachdenken bringen, solche Dinge. Aber er meinte es ernst. Am Ende des Abends war ich zwar kein Fan des Bildersängers, aber auch nicht mehr sein Feind.

Zumindest werden sich die Schüler an diesen Lehrer erinnern. Zumindest hat er sie aus ihrem Phlegma aufgescheucht.

Henri, unser Sohn, kam unlängst heim und erzählte, bei Herrn 3Rooosen seien sie jetzt dabei, mit Deorollern ein Bild zu malen. Gut, sagte ich.

„Ich bin total verantwortungslos“

Mit nur 52 Minuten Verspätung, und das ist für ihn nicht viel, betritt Karl Lagerfeld die Räume in der Rue de Lille N° 7 in Saint-Germain, Paris.

Das Haus aus dem 19. Jahrhundert hat er nach seinen Vorstellungen umbauen lassen, vorn ein Buchladen, klein und exquisit, von dort geht es durch eine Schiebetür in zwei große Besprechungsräume. Hohe Decken, klares Licht, jeweils ein großer, quadratischer Tisch. Vasen mit weißen Gladiolen. Stapel von Kunstbüchern, Fotobüchern, Gedichtbänden. Gerahmte Fotos, großformatig, lehnen an den Wänden. Hinter den beiden Konferenzräumen liegt Lagerfelds Fotostudio, so hoch wie ein Hallenbad, an den Wänden Bücherregale. Lagerfeld hat einen etwas trippelnden Gang, er redet sehr schnell, Französisch, Deutsch, Englisch durcheinander. Es ist, als wäre eine Comicfigur zum Leben erwacht – die weißen Haare, der Gehrock, die Sonnenbrille: Karl Lagerfeld, 81 Jahre alt. Er ist der wohl mächtigste Modedesigner unserer Zeit, seit über 30 Jahren entwirft er für Chanel, außerdem für Fendi und für seine eigene Lagerfeld-Linie. Nebenbei ist er Fotograf und seit einiger Zeit auch Verleger. Seine Assistenten, darunter viele junge, muskulöse Männer in T-Shirt und mit grauer Wollmütze, rücken Stühle, räumen Bücherstapel weg und stellen für ihren Chef ein Glas Diet Coke bereit. Die Pressesprecherin achtet darauf, wer rechts von Lagerfeld sitzt, links hört er nicht mehr so gut. Das Gespräch wird fast zwei Stunden dauern, während dieser Zeit nimmt Lagerfeld seine Sonnenbrille nur einmal kurz ab.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, dürfen wir fragen, was Sie heute tragen?

Lagerfeld: Das wollen Sie wirklich wissen? Na gut, einen Gehrock, wie man früher sagte, von Dior. Einen Schlips und ein Hemd von Hilditch & Key, das Hemd mit einem Kragen frei nach Harry Kessler, wie man ihn um 1912 trug. Dazu Halsketten von einem jungen Schmuckdesigner, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Eine Brosche aus den Dreißigerjahren von Suzanne Belperron, Wildlederjeans von Dior und passende Wildlederschuhe von Massaro. Das wär’s.

SPIEGEL: Warum kleiden Sie sich immer gleich, ist das eine Art Uniform für Sie?

Lagerfeld: Sie nehmen das vielleicht nicht so wahr, aber es sieht schon immer sehr unterschiedlich aus. Die Uniform, die ist nicht das ganze Jahr über feldgrün. Und außerdem: Das gehört dazu. Herrgott, ich lebe in der Welt der Mode. Und ich habe etwas gegen schlampige Leute. Es hat auch etwas mit Disziplin zu tun, sich um das Äußere zu kümmern.

SPIEGEL: Sie könnten es aber auch wie Giorgio Armani halten und ständig Jeans mit schwarzem T-Shirt anziehen.

Lagerfeld: Ja, aber es gibt Momente im Leben, in denen das schwarze T-Shirt, womöglich auch noch ärmellos, einfach nicht mehr angebracht ist.

SPIEGEL: Seit über 60 Jahren entwerfen Sie Mode, seit 1965 für Fendi, seit 1983 für Chanel. Die Bundeskunsthalle in Bonn widmet Ihrem bisherigen Werk gerade eine große Ausstellung. Rührt Sie das?

Lagerfeld: Ich habe mir das gar nicht erst angesehen. Meine Mitarbeiter wollten unbedingt, dass ich nach Bonn fahre. Aber ich wollte das nicht. Auf keinen Fall! Ich bin gegen dieses ewige Feiern. Man feiert sich gegenseitig, man feiert sich selbst. Ist okay für die anderen, mal zu sehen, was ich so gemacht habe. Aber ich will das Zeug nicht wiedersehen – ich muss mich darum kümmern, was ich morgen mache.

SPIEGEL: Hört sich an, als ob Sie ein interessantes Verhältnis zur Vergangenheit hätten. Angeblich bewahren Sie auch nichts von Ihren alten Zeichnungen und Entwürfen auf. Warum?

Lagerfeld: Alle Kollegen, die sich in ihrer Vergangenheit und in ihren Kreationen geräkelt haben wie in einem ungemachten Bett, haben danach nichts Neues mehr zustande gebracht. Ich halte das für gefährlich. Es gibt dieses jüdische Sprichwort: Keinen Kredit auf die Vergangenheit. Danach lebe ich. Ich habe immer das Gefühl: Ich bin faul. Ich könnte mehr machen. Ich könnte besser werden. Es ist, als ob ich eine Glaswand vor mir hätte, die ich noch durchbrechen muss.

SPIEGEL: Was genau treibt Sie?

Lagerfeld: Ich lebe in einem permanenten Zustand der Unzufriedenheit mit mir selbst. Ich weiß, ich habe Arbeitsbedingungen wie kaum ein anderer Mensch. Aber ich bin nie mit mir zufrieden.

SPIEGEL: Andere Menschen sind auch ehrgeizig.

Lagerfeld: Ehrgeiz habe ich überhaupt nicht. Ich weiß gar nicht, was das ist. Ich mach das alles nur für mich. Ich bin für radikalen Wandel, man muss sich immer wieder selbst erneuern, einen neuen Rahmen schaffen, sich von Dingen trennen.

SPIEGEL: Okay, wir haben verstanden, Sie leben in der Gegenwart, wahrscheinlich noch lieber in der Zukunft?

Lagerfeld: Mein Zitatenschatz ist limitiert, aber Goethe hat einmal gesagt, was er sich wünsche, sei eine bessere Zukunft mit den erweiterten Elementen der Vergangenheit. Und dann habe ich noch eine Devise, ich zeichne ja noch, was die meisten anderen Modemacher gar nicht mehr können. Ich bin ja eigentlich Illustrator. Also, jedenfalls: Ich zeichne viel. Und ich habe riesige Papierkörbe. Denn das meiste wandert in den Papierkorb, 99 Prozent! Aber was übrig bleibt, wird auch genau so umgesetzt. Es wird gemacht, wie von mir entworfen. Ich sitze da nicht und fummle hundert Stunden rum! Ich habe das Glück, dass ich mir Entwürfe in drei Dimensionen vorstellen kann. Bei der ersten Anprobe ist das schon beinahe perfekt. Andere haben zehn Zeichner, die für sie am Computer zeichnen. Dann wird das diskutiert, stundenlang besprochen: Oh, ist der Knopf da richtig? Fürchterlich.

SPIEGEL: Sie entscheiden alles allein und beschleunigen so die Abläufe?

Lagerfeld: Absolut. Sonst könnte ich gar nicht so viel machen. Allein für Chanel sind es im Jahr acht Kollektionen, für Fendi vier. Und da spreche ich noch nicht von der Lagerfeld-Linie. Es gibt einen Satz der amerikanischen Interieurdesignerin Lady Mendl, sie wurde von einem Auftraggeber gefragt, ob sie nicht eine zweite Idee habe. Sie hat geantwortet: „No second option.“ Der Besitzer von Chanel hat über meine Studiotür schreiben lassen: „Kreativität ist nicht demokratisch.“

SPIEGEL: Sie machen keine Meetings, der kreative Part Ihrer Arbeit findet nicht im Team statt. Würden Sie sich als Egoisten bezeichnen?

Lagerfeld: Vielleicht. Aber von meinen Egoismen leben viele Leute. Wenn ich nicht ungestört arbeiten kann, kommt da nichts raus. Ich liebe es, allein zu sein. Ich bin derart egoistisch, dass ich auf andere keine Rücksicht nehmen kann. Darum habe ich auch nie eine Familie gewollt. Wäre ich als Frau geboren, hätte ich vielleicht zwölf Kinder gehabt. So wie ich arbeite, könnte ich mich nicht aber auch noch um die Ferien der Kinder kümmern oder so was. So ist es, ich kann kein anderer Mensch werden als der, der ich bin, mich keinem sozialen oder familiären Vorbild anpassen, das mir nicht entspricht.

SPIEGEL: Wie würden Sie den Egoisten Lagerfeld beschreiben?

Lagerfeld: Zum Glück muss ich den nicht beschreiben, das wäre so negativ, dass Sie es nicht veröffentlichen würden. Im Ernst: Was ich über mich denke, da gibt es Tage, da ist es okay. Und dann gibt es Tage, an denen es äußerst negativ ist! Aber ich kann über mich lachen. Im Grunde kann ich mich über mich selbst totlachen.

SPIEGEL: Von außen besehen haben Sie sich um sich herum ein kleines Paradies gebaut. Sie besitzen schöne Häuser, umgeben sich mit schönen Dingen, reisen mit schönen, jungen Menschen, die Sie einladen. Wie viel Realität lassen Sie in diesem Leben noch zu?

Lagerfeld: Wenig. Sehr wenig. Ich gehe ja nicht mal mehr auf die Straße.

SPIEGEL: Warum nicht? Vor 15 Jahren haben Sie noch mit einer kleinen Kamera stundenlang Streifzüge durch Paris unternommen.

Lagerfeld: Es geht nicht mehr, weil die Leute mich verfolgen mit ihren Handys und Kameras. Ich habe es erreicht, dass meine karikaturale Silhouette auf der ganzen Welt bekannt ist. Ich hab es also in Paris nicht nur mit Deutschen oder Franzosen zu tun, sondern auch mit Amerikanern und Japanern, jeder ist hinter mir her, es ist absolut lächerlich. Jeder will ein Selfie. Aber ich habe keine Lust, auf Fotos mit Leuten zu sein, die ich nicht kenne.

SPIEGEL: Fehlt Ihnen die Begegnung mit der Realität?

Lagerfeld: Nein. Die Idee der Realität ist stimulierender als die wirkliche Realität. Mein Leben besteht daraus, Realität zu idealisieren, zu verschönern, zu verklären. Im Beruf und für mich. Mein Leben ist nicht die Begegnung mit der echten Wirklichkeit. Neulich war ich in dem Laden, wo ich meine Bilder rahmen lasse. Da bin ich ausnahmsweise mal ganz allein hingegangen und hatte mir vorher eine dicke Mütze aufgesetzt. Dann stand aber gleich so ein Kerl neben mir und sagte: „Alors, Monsieur Lagerfeld, fangen wir jetzt an, uns zu verkleiden?“

SPIEGEL: Wie informieren Sie sich über das, was in der Welt geschieht?

Lagerfeld: Ich lese sehr viel – französische, englische, deutsche Zeitungen, den SPIEGEL, die „Bunte“, die „New York Times“, „Libération“, englische Zeitungen, das lese ich früh am Morgen, da hab ich sonst keine Rendezvous, da will ich auch nicht nach der Uhr sehen. Darum verspäte ich mich immer.

SPIEGEL: Und lesen Sie alles gleichermaßen – Feuilleton, Politik, Wirtschaft?

Lagerfeld: Alles. Ich habe keinerlei Interesse an intellektuellen Diskussionen, aber ich liebe es, meinen Kopf mit Wissen vollzustopfen.

SPIEGEL: Dann müssten Sie ja den Eindruck teilen, dass einem da draußen die Welt gerade um die Ohren fliegt.

Lagerfeld: Das kann man wohl sagen!

SPIEGEL: Der Vormarsch des „Islamischen Staates“, der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlinge im Mittelmeer – beschäftigt Sie das? Sie haben drei Wochen nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ im Pariser Grand Palais eine sehr verträumte Modenschau gezeigt – mit floralen Motiven, unschuldig und märchenhaft schön.

Lagerfeld: Wir verkaufen Träume, keine Realität. Soll ich ein Defilee mit Bombenanschlägen machen? Diese Show war wie ein Bilderbuch für Kinder, inmitten der grauenvollen Zeit, in der wir leben.

SPIEGEL: Taugt Mode als Modell für Eskapismus?

Lagerfeld: Ich bin der lebende Beweis dafür. Und ich bekomme trotzdem mit, was passiert. Ich kannte ja die Leute von „Charlie Hebdo“, ich liebe Karikaturen, ich habe die Zeitung immer gekauft. Und natürlich hat mich schockiert, was da geschehen ist. Die Qualität hing ganz und gar von jenen ab, die getötet wurden. Jetzt ist es nur noch in Eile hingekritzelter Hass. Aber: The beat goes on. Ich hab auch nach dem 11. September ganz normal weitergemacht.

SPIEGEL: Sind Sie selbst ein ängstlicher Mensch?

Lagerfeld: Nein, ich bin Fatalist, eindeutig, für mich selbst und die anderen.

SPIEGEL: Beschäftigt Sie, was die Attentäter umtrieb, hätten Sie sie danach fragen wollen?

Lagerfeld: Nein. Ich hätte mich auch mit Hitlers Leuten nicht unterhalten wollen. Mit Fanatikern soll man seine Zeit nicht verlieren. Wissen Sie, ich habe da eine ganz persönliche Erfahrung, ich habe ein Landhaus und dort einen Hauswart. Sein Vater ist Marokkaner, der Sohn ist hier geboren, französischer geht es nicht. Ich kenne den ewig. Lustig, aufgeschlossen, wahnsinnig netter Kerl. Und in den vergangenen fünf Jahren verändert sich was, plötzlich trägt die Frau eine Burka. Das sind die nettesten Leute der Welt. Und plötzlich das!

SPIEGEL: Und haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Lagerfeld: Ja. Ich habe ihm verboten, für seine radikalen Belange zu werben. Das musste ich tun. Er gab meinen Freunden auf einmal Bücher zu lesen und so. Und er gibt keiner Frau mehr die Hand. Wenn wir kommen, geht das Fenster zu, damit man seine Ehefrau nicht sieht. Sie wagt sich nur morgens um fünf Uhr raus, wenn niemand sie sieht. Aber ich diskutiere nicht mit ihm. Ich würde auch nicht mit fanatischen Katholiken oder sonstigen hysterischen Gläubigen diskutieren. Ich selbst gehöre keiner Kirche an. Meine Eltern sind ausgetreten. Meine Großeltern väterlicherseits waren Protestanten, die fanatische Katholiken geworden sind. Völlig hysterisch. Grauenhaft!

SPIEGEL: Ihr Vater Otto Lagerfeld war Unternehmer, Fabrikant der Kondensmilchmarke Glücksklee. Warum wollten Sie eigentlich nie eine eigene Firma haben?

Lagerfeld: Weil ich total verantwortungslos bin!

SPIEGEL: Das glauben wir nicht.

Lagerfeld: Das glauben Sie vielleicht nicht, aber ich weiß es. Deshalb wollte ich auch nie eine Familie. Ich will nur für meine Arbeit verantwortlich sein. Die moralische Verantwortung für Angestellte, die will ich nicht. Wenn Sie ein einfaches Mittel wissen wollen, wie man seine Freiheit verlieren kann: Schaffen Sie sich eine Firma an. Ich tu mir das nicht an. Keine Realität! Lieber lebe ich in meiner idealisierten Welt.

SPIEGEL: Sie wollten lieber ein Leben lang Angestellter bleiben?

Lagerfeld: Ich bin kein Angestellter. Ich bin frei. Ich kann meinen Interessen frönen: alles zu wissen, mich für alles zu interessieren, überall meine Nase reinzustecken. Aber bitte keine Verantwortung!

SPIEGEL: Jemand, der so viel Einfluss hat wie Sie, könnte zum Beispiel auch eine Stiftung gründen, um Gutes zu tun.

Lagerfeld: Da hab ich keine Zeit für! Wenn Sie so viele Kollektionen machen müssen wie ich, geht das einfach nicht. Sie haben ja keine Ahnung, welchen Rhythmen ich gehorchen muss! Diese Verpflichtungen erfülle ich punktgenau. Mehr geht nicht.

SPIEGEL: Vielleicht haben Sie auch einfach keine Lust, Gutes zu tun?

Lagerfeld: Solche humanitären Sachen, dafür bin ich nicht begabt, das würde opportunistisch wirken. Und ich habe noch dazu diese grauenhafte Angewohnheit, die Dinge schnell sattzuhaben. Immerhin unterhalte ich diesen Buchladen. Und meine eigene Sammlung von Büchern, 300 000 Bücher. Ein kleiner Teil nur ist hier, etwa 70 000. Der Rest ist in meinen anderen Häusern, in Südfrankreich, überall. Ich bin gut zu Büchern, ich liebe Bücher.

SPIEGEL: Sie könnten auch gut zu Menschen sein.

Lagerfeld: Ich bin dafür nicht gemacht, es ist einfach so, wie es ist. Aber so ein schlechter Mensch bin ich ja hoffentlich auch nicht.

SPIEGEL: Es heißt, Sie spenden sehr viel.

Lagerfeld: Das braucht niemand zu wissen.

SPIEGEL: Aber stimmt es?

Lagerfeld: Ich sollte jetzt Nein sagen, aber: Ja. Wissen Sie, ich bin in Wahrheit großzügig. Ich hab ein großes Herz, das bekenne ich. Aber ich denke, man soll großzügig sein und es nicht an die große Glocke hängen. Ist auch Erziehungssache. Als ich aufwuchs, da gab es viel Armut in Deutschland. Aber als Kind durfte ich Bettlern nichts geben. Ich musste es jemandem geben, der es dem Bettler gab. Es war nicht erlaubt, dass daraus eine Befriedigung für mich heraussprang.

SPIEGEL: Ihre Mutter soll zu Ihnen gesagt haben: „Die Welt, Karl, muss dir egal sein, dann hast du auch Erfolg.“

Lagerfeld: Das hat sie gesagt, so hat sie mich erzogen. Und im Grunde hatte sie recht.

SPIEGEL: Ihnen ist die Welt egal?

Lagerfeld: Mehr oder weniger. Aber man kann Verantwortung ablehnen und sich trotzdem zivilisiert benehmen und ein gutes Herz haben. Mein Leben ist ganz normal und banal – für mich. Aber ich weiß, für die anderen ist es weder normal noch banal. Für sie lebe ich in einer falschen Realität. Doch für mich ist es die richtige.

SPIEGEL: Ist das ein Plädoyer für ein hedonistisches Leben?

Lagerfeld: Ja, im Grunde haben Sie recht. Aber das ist mir schon wieder zu ausgedacht. Zu formuliert. Ich lebe so, wie es für mich richtig ist.

SPIEGEL: Wie sieht das im Alltag aus?

Lagerfeld: Ich stehe gegen acht Uhr auf, frühstücke, aber sehr wenig, lese Zeitungen. Dann fange ich an zu arbeiten, bei mir zu Hause, nie im Studio, dort könnte ich nie arbeiten. Da kommen die Mädchen von der Presse, da wird telefoniert, geklönt, Kaffee gekocht. Das Mittagessen wird mir dann gebracht. In dem Haus, wo ich wohne und zeichne, da will ich niemanden, der da kocht, da will ich kein Personal um mich haben.

SPIEGEL: Wie groß ist der Apparat um Sie herum?

Lagerfeld: Der Apparat! Kleiner, als Sie denken. Ich sehe nur den engsten Zirkel. Die müssen es dann weitergeben. Ich habe zwar mehrere Studios, aber niemand entwirft da – nur ich.

SPIEGEL: Und wie geht das vor sich?

Lagerfeld: Ich mache meine Zeichnungen zu Hause, dann gebe ich sie an die Studios weiter, schicke das nach Italien, oder die Leute kommen zu mir, und ich erkläre ihnen die Zeichnungen – das, das und das, wenn ich dann ins Studio komme, ist schon alles fertig.

SPIEGEL: Würden Sie sich selbst als Künstler bezeichnen?

Lagerfeld: Nein, das ist angewandte Kunst. Kunst, die Gewänder macht. Coco Chanel oder Balenciaga, die hielten sich auch nicht für Künstler, obwohl sie alles selbst entwarfen. Die waren nur stolz, dass die Damen der Gesellschaft ihre Kleider trugen. Ich bin kein Künstler.

SPIEGEL: Glauben Sie, diese Haltung hat zu Ihrem Erfolg beigetragen?

Lagerfeld: Natürlich, weil ich total bodenständig bin. Weil ich mir über mich selbst keine Illusionen erlaube.

SPIEGEL: Es heißt, Ihnen wird schnell langweilig.

Lagerfeld: Das ist das wahre Drama meines Lebens.

SPIEGEL: Ist Ihnen jetzt auch langweilig – bei diesem Gespräch?

Lagerfeld: Nein, Sie sind ja zu dritt gekommen, da muss ich schon aufpassen. Sie können weitermachen.

SPIEGEL: Danke. Sie sind gebildet, belesen, Sie wirken wie ein Mensch aus einem anderen Jahrhundert, der auf die Welt mit fast freundlicher Verachtung blickt.

Lagerfeld: Nein, nein, das stimmt nicht! Ich verstehe, dass nicht jeder gebildet sein kann. Ich komme gut mit total unkultivierten Menschen aus, wenn die keine Chance hatten. Was ich hasse: Leute, die jede Möglichkeit zu Wissen, Bildung, Kultur hatten und sich schlecht benehmen! Weil die faul sind. Aber mit Arbeiterinnen kann ich sehr wohl umgehen, ich habe da kein Problem. Und ich werde von ihnen mit Vornamen angesprochen. Der Fahrer, der Hausmeister, die Näherin – keiner sagt zu mir „Monsieur“. Ich bin für alle Karl.

SPIEGEL: Auf der einen Seite haben Sie diese beeindruckende Sammlung an Büchern, auf der anderen interessieren Sie sich für alle neuen digitalen Produkte, müssen jedes neue Gadget sofort haben.

Lagerfeld: Absolut, aber das ist ja kein Widerspruch. Sonst wäre ich nur ein staubiger Privatgelehrter. Schauen Sie hier, meine Uhr, ich habe die erste iWatch in Gold. Die haben weltweit nur drei Menschen: die Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, Anna Wintour, Beyoncé und ich.

SPIEGEL: Warum wollten Sie die unbedingt haben?

Lagerfeld: Weil sie neu ist.

SPIEGEL: Wie viele iPods besitzen Sie?

Lagerfeld: Viele. Sehr viele. Weil ich Musik auswähle, die ich auf die iPods spiele und dann verschenke. Ich mache gern Geschenke. Von den iWatches habe ich mindestens 40 Stück gekauft und meinen Mitarbeitern geschenkt, natürlich nicht in der Goldausführung. Ich hätte es sonst grauenhaft gefunden. Ich habe eine und sie nicht. Das wäre ja fürchterlich!

SPIEGEL: Reden wir über die Inszenierung der Person Karl Lagerfeld.

Lagerfeld: Das ist keine Inszenierung, das ist eine ganz normale Entwicklung, bei der das Resultat vielleicht ein wenig seltsam ist.

SPIEGEL: Ihre Katze Choupette hat zwei Zofen, einen Leibkoch, ein iPad und kann zu den Mahlzeiten zwischen verschiedenen Menüs wählen – ist das auch Teil einer normalen Entwicklung?

Lagerfeld: Ich habe das Talent, Leute bekannt zu machen, und das gilt eben auch für Tiere – in diesem Fall für Katzen. Choupette ist die berühmteste Katze der Welt! Sie hat über 48 000 Follower auf Twitter. Neulich stand in einer französischen Zeitung, dass die Leser schockiert seien, weil Choupette so viel Geld kostet in ihrem Unterhalt. Da hab ich der Chefredakteurin geschrieben, ihre Leser seien nur neidisch. Denn Choupette fragt ja nach nichts, das feine Essen, ihr Leben – das wird ihr angeboten. Außerdem hat Choupette mit Werbung für Autos und für den japanischen Kosmetikkonzern Shu Uemura einen tollen Umsatz gemacht! Wir leben in einer Welt, wo eine Katze mehr Umsatz machen kann als jemand, der hart in einer Fabrik arbeitet. Das ist vielleicht ungerecht, aber dafür kann ich nichts.

SPIEGEL: Choupette hat auch eine maßgeschneiderte eigene Louis-Vuitton-Katzenreisetasche.

Lagerfeld: Nicht von mir, es ist ein Geschenk des Louis-Vuitton-Chefs Bernard Arnault.

SPIEGEL: Worin besteht für Sie Dekadenz?

Lagerfeld: Das ist eine Vokabel, die ich aus meinem Wortschatz rausgenommen habe. Ich bin total undekadent.

SPIEGEL: Aber Sie verstehen, dass Leute das Leben von Choupette unmöglich finden?

Lagerfeld: Ja, das verstehe ich, aber so ist die Welt, sie ist disproportioniert.

SPIEGEL: Und Sie haben kein komisches Gefühl dabei?

Lagerfeld: Nein, ich habe gar kein Gefühl dabei, ich bin da total gewissenlos.

SPIEGEL: Hätte der Karl Lagerfeld von vor 40 Jahren dieses Leben seltsam gefunden?

Lagerfeld: Das kann man nicht vergleichen, damals gab es kein Instagram, kein Twitter. Vergleichen Sie niemals frühere Zeiten mit heutigen Zeiten. Man kann sich von der Belle Époque inspirieren lassen, aber man muss auch immer dran denken: Damals war es tausendmal schlimmer als heute. Die Belle Époque, das waren nicht nur Luxusnutten in Paris.

SPIEGEL: Sie leben völlig im Einklang mit der jetzigen Zeit?

Lagerfeld: Ich finde es heute besser als früher, ich schaue nie bedauernd zurück.

SPIEGEL: Gilt das auch für die Mode, dieses Geschäft, das global, schnell, eklektizistisch geworden ist?

Lagerfeld: Wir sind keine Richter über Gut und Böse. Ich jedenfalls nicht. Wir müssen damit fertigwerden, was die Zeit uns vorschlägt. Sobald Sie anfangen, nicht in die Zeit zu passen, sind Sie dépassé, nicht die Zeit an sich ist schlecht.

SPIEGEL: Aber man hat trotzdem eine Meinung, eine Haltung zu den Dingen.

Lagerfeld: Nein. Ich passe mich an, hemmungslos. Und rücksichtslos, was meine eigene Sentimentalität eventuell anbetrifft.

SPIEGEL: Verkneifen Sie sich Ihre Meinung?

Lagerfeld: Verkneifen – grauenhaftes Wort! Lange nicht gehört.

SPIEGEL: Entschuldigung.

Lagerfeld: Nein, ist schon gut – und ich verkneife mir nichts, ich lege meine eigene Meinung einfach beiseite, dafür bin ich zu sehr Opportunist!

SPIEGEL: Die Chinesinnen und Japanerinnen – alle wollen jetzt gleich aussehen, wie Europäerinnen. Schade?

Lagerfeld: Schade, schade, schade! Nein, nochmals: Ich bin nicht der Richter über richtig und falsch. Außerdem, wir hatten hier Moderichtungen, die waren vom Kimono inspiriert, wir hatten marokkanische, arabische Einflüsse, alles inspiriert alles.

SPIEGEL: Mode wird immer schneller, viele Teile der sogenannten Fast Fashion werden durchschnittlich nur noch fünf Wochen lang getragen. Ist das bedauernswert?

Lagerfeld: Sie dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen davon leben. Die Leute wollen das Thema moralisch aufladen, aber Sie dürfen den schlichten ökonomischen Aspekt nicht vergessen. Je schneller die Leute ihre Kleider wegwerfen, desto eher kaufen sie neue – so dreht das Rad sich eben. Ich gebe ja zu: Aufs Ganze gesehen, ist das vielleicht nicht gesund, aber kurzfristig belebt die Mode die Textilwirtschaft. Sie müssten dann das ganze System ändern, den Kapitalismus abschaffen. Aber so ist die Realität nun mal nicht.

SPIEGEL: Sie kommen langsam in ein Alter, in dem man sich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt. Tun Sie das?

Lagerfeld: Oh, nein, nein, ich bin unsterblich! Im Ernst: Man soll diese Beschäftigung mit dem Altern und dem Tod nicht übertreiben. Warum soll ich mir darüber graue Haare wachsen lassen?

SPIEGEL: Vielleicht weil man sich fragt, was hinterlasse ich, was ist mein Vermächtnis?

Lagerfeld: Nein. Es ist für mich ganz simpel: Mein Leben fängt mit mir an, hört mit mir auf.

SPIEGEL: Haben Sie ein Testament?

Lagerfeld: Ja, aber das ändere ich ständig. Ein schräger Blick von jemandem, dann wird der gestrichen, dann kriegt der nichts mehr. Ich lege auch Wert darauf, dass Leute, die ihr Leben lang mit mir gearbeitet haben, danach niemals mehr mit einem anderen Menschen arbeiten müssen. Das sollen die nicht nötig haben, das fände ich irgendwie unangenehm, auch für mich.

SPIEGEL: Und was wird aus Ihren Büchern?

Lagerfeld: Das ist eine Frage, die ich noch nicht geklärt habe. Was ist mit der Zukunft von Büchern? Ich muss mir da noch was einfallen lassen.

SPIEGEL: Sie wollen der Welt gar nichts hinterlassen?

Lagerfeld: Es ist mir wirklich total gleichgültig. Ich lebe im Jetzt. Ich will auch kein Grab. Ich mag diese Gedichtzeile von Friedrich Rückert, die Mahler vertont hat: „Ich bin der Welt abhandengekommen.“ Mehr will ich nicht. Meine Asche sollen sie irgendwo verstreuen. Im Ozean oder in den Wäldern, wo genau, ändert sich bei mir täglich.

SPIEGEL: Und vielleicht vorher schön gemütlich in den Ruhestand, das ist kein Gedanke?

Lagerfeld: Entsetzlich. Das klingt wie Rollstuhl. Solange man’s noch kann, warum sollte man das tun? Zumal meine Kartenleserin mir gesagt hat: Für dich fängt es an, wenn es für die anderen aufhört.

SPIEGEL: Sie sind abergläubisch.

Lagerfeld: Das bin ich, und bisher ist alles, was sie mir prophezeit hat, eingetreten. Sie hat mir zum Beispiel mal gesagt: Sie riskieren nichts in Flugzeugen und Autos, aber bitte nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

SPIEGEL: Sie fahren eh selten Bus.

Lagerfeld: Aber einmal, da war der Chauffeur verhindert, bin ich Bus gefahren. Es gab prompt einen Unfall, und ich habe mir fast das Knie zertrümmert. Von da an war Schluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

SPIEGEL: Sind Sie sonst noch abergläubisch?

Lagerfeld: Ja, ich gehe nie unter einer Leiter durch und stelle mir keine Pfauenfedern ins Haus.

SPIEGEL: Noch mehr?

Lagerfeld: Ja, nie ein Hut auf dem Bett.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Britta Sandberg, Stefanie Schütte und Ralf Hoppe.

Ich und ich

Neulich erfuhr ich einige Wahrheiten über mich, auf die ich, im Nachhinein, auch gut hätte verzichten können. Grob gesagt ist es so, dass ich mich gewissermaßen habe klonen lassen. Ich habe einen Doppelgänger von mir in Auftrag gegeben, eine 3-D-Miniaturversion im Maßstab von exakt 1:11,3, und seit einigen Tagen steht die Figur zu Hause im Esszimmer, auf unserer Anrichte. Gäste geben unterschiedliche Kommentare, von begeistert bis befremdet. Mir geht es genauso. Manchmal finde ich die Figur ganz lustig, oft ist es einfach nur unangenehm, sich so auf der eigenen Anrichte zu sehen.

Es begann damit, dass ich eines Abends in ein Kaufhaus in der Hamburger Innenstadt reinschaute. Rechts vom Haupteingang war ein schwarzes Fotostudio aus Holzwänden aufgebaut, etwa so groß wie ein Partyzelt. Davor standen Glasvitrinen. In den Vitrinen befanden sich kleine Figuren – Alltagstypen, keine Leute, die man aus dem Fernsehen kennt. Jungs, Mädchen, Rentner. Ein Typ mit Skateboard, Dreiviertelhose und offenem Mund. Eine junge, schöne Frau, in Leggins und Mickymaus-T-Shirt. Ein Rentnerpaar in beigefarbenen Wetterjacken. Es war, als hätte man die durchschnittliche Fußgängerzone geschrumpft und hinter Glas gepackt.

Ein Verkäufer kam heran, er trug einen schmalen Schlips. Die Technik sei ziemlich neu, erzählte er, jedenfalls auf diesem Perfektionsniveau. Übrigens habe Giovane Élber schon eine Figur von sich, der frühere Fußballer, und auch Samy Deluxe, der Rapper.

Ich hörte nur halb hin; ich war hingerissen von der Perfektion dieser kleinen Figuren. Man sah die ausgebeulten Ellbogen am Sakko. Man sah die abgeriebenen Stellen der Jeans. Man konnte das winzige Tattoo am Nacken einer Frau erkennen – diese Detailgenauigkeit in Verbindung mit etwas Spielzeughaftem; wirklich faszinierend. Die billigste Figur, 10 Zentimeter groß, kostete 99 Euro, die größte, 35 Zentimeter, 799 Euro.

Die Idee gefiel mir. Es hatte etwas Verwegenes, Übermütiges, sich einen kleinen Doppelgänger zuzulegen. Eine Grenzübertretung war es auch: sich zu verdoppeln, damit man sich hinstellen und anschauen kann? Beziehungsweise von anderen betrachtet werden kann, war das nicht unsäglich eitel?

Vielleicht war das nur der Untertan in mir, der diese Bedenken hatte? Der fragt: Darf man das, so als ganz normaler Mensch? Abbilder von sich selbst in die Welt setzen zu lassen, das war bis vor einigen hundert Jahren das Privileg von Göttern, von Königen, später von Staatenlenkern. Es löste sich nur langsam auf.

Die Maler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten ihren Anteil daran, sie entdeckten den einfachen Menschen, dessen Gesichter, Geschichten: van Goghs „Kartoffelesser“ etwa. Oder die Huren, Gangster und Sträflinge des George Grosz. Picassos Artisten. Das Porträt war auch ein Mittel zur Erkenntnis, zur Selbsterkenntnis.
Der Befreiung durch die Malerei folgte die Fotografie, die Demokratisierung des Porträts. Inzwischen leben wir in einer Phase der Inflation von Bildern und Ichbotschaften. Jeder breitet sein Ich im Netz aus. Eine Figur von sich selbst ist entwicklungsgeschichtlich wahrscheinlich nur konsequent.

Vielleicht war es wirklich unsäglich eitel, den kleinen König zu spielen – aber man muss auch zu seinen Neigungen stehen. Lieber eitel als unehrlich, dachte ich. Ich überlegte, wie viel ich mir wert war. 200 Euro war die Grenze, ich nahm eine 15-Zentimeter-Figur, das zweitbilligste Modell.

Der Mann mit dem schmalen Schlips schloss das Fotostudio auf. Drinnen war alles gleißend weiß. 65 Kameras waren im Kreis aufgestellt, auf Stativen. In der Mitte ein kleines Podest. Ich solle mich hinstellen, Standbein, Spielbein, locker bleiben, einen Punkt fixieren. Er zog die Tür hinter sich zu, 65 Blitzlichter flammten auf, der Mann öffnete die Tür, winkte mich zu seinem Bildschirm.

Ich sah 65 Fotos von mir, sah mich von links, von oben, unten, rechts, hinten, vorn, in klinischer Präzision. Ob das okay sei, fragte der Mann. Klar, sieht prima aus, sagte ich. Aber eigentlich war ich erschrocken.

Unsere Selbstbildnisse sind ja nie ganz echt, nicht wirklich wahrhaftig – die Fotowand im Treppenhaus, die Urlaubsbilder von den Kindern, die an der Pinnwand kleben, sie alle unterliegen der Zensur durch uns selbst, dem Wunsch nach Innigkeit und vorteilhaftem Nachmittagslicht. Darum sind die frühen Fotografien, etwa von August Sander, so authentisch. Die ersten Fotografierten hatten noch keine Abwehrmimik; inzwischen haben wir gelernt, wie wir auf Fotos aussehen wollen.

Bei diesen 65 Aufnahmen auf dem Rechner hatte ich keine Chance, mich anders oder besser zu präsentieren, als ich wirklich bin. Der Körper kann kein falsches Spiel spielen, irgendetwas daran verrät er uns immer. In meinem Fall: meine verspannten Schultern, vom langen Hocken am Bildschirm. Der vorgeschobene Bauch. Die platte Stelle am Hinterkopf. Das war so eindeutig ich, dass es schon wehtat.

Die Bilddateien wurden auf einen Server gestellt. Ich steckte die Quittung ein und ging nach Hause.

Am nächsten Morgen griff in der Viktoriastraße in Dortmund, wo die Zentrale und Werkstatt der Firma sitzt, ein 3-D-Artist auf diese Dateien zu. Er lud sie runter und legte sie gleichsam übereinander, aus 65 Dateien erstellte er eine Punktwolke, eine Skizze von mir im dreidimensionalen Raum. Ein Programm wählte aus 160 000 Farben jenes Blau, das dem Blau meiner Schuhe am nächsten kommt. Aus der Punktwolke wurde eine dichte Wolke von etwa eineinhalb Gigabyte, schließlich ein Modell. Das Ganze dauerte vier Stunden, dann war ich ausgerechnet.

Der 3-D-Drucker steht in einem gefliesten Kellerraum in Dortmund. Dort wurde ich ausgedruckt, in 900 Schichten, aus Farbe und Polymergips. Man wickelte meinen Doppelgänger in Luftpolsterfolie und schickte die Lieferung nach Hamburg. Am nächsten Tag packte ich ihn aus. Der Kerl sah mir verblüffend ähnlich, natürlich; andererseits fand ich das Männchen anders, als ich erwartet hätte, oder gewünscht. Steifer, verkniffener, als ich gedacht hatte. So laufe ich durch die Welt? Meine Güte. Kann man was dagegen tun? Vielleicht wird es Zeit für mich, mich mit mir abzufinden.

Söldner für das Gute

Die Hunde des Krieges, so nannte man sie, zum Beispiel war da ihr Anführer, ein gewisser Carlos „Cat“ Shannon, der noch vor dem Frühstück Diktatoren tötete und Regierungen stürzte, dann aber mit der niedlich-lüsternen Julie, Tochter seines Auftraggebers, eine Affäre begann, die nur böse enden konnte, man ahnt es. Oder „Tiny“ Vlaminck, Shannons Kampfgefährte, ein Hüne mit gewaltigen Fäusten. Und dann war da noch ein Korse, dunkel und ungemein flink mit dem Messer. Diese wilde Truppe von Söldnern fliegt also nach Afrika und zettelt dort einen Staatsstreich an – und an diese Männer denkt Pieter D. Wezeman, wenn er sich morgens gegen neun Uhr mit einer Tasse Cappuccino an seinen Schreibtisch setzt. Sein Büro liegt im ersten Stock des Instituts; rechts den Gang entlang.

Wezeman hat sie vor Augen, diese Kämpfer, wenn er all die Berichte liest, Statistiken vergleicht, Zahlenkolonnen aufstellt, wenn er die Zeitschriften und Zeitungen durchforstet. „Jane’s Defence Weekly“, die „Kathmandu Post“, „AirForces Monthly“ und das „Asian Defence Journal“ – ein unablässiger Strom von Informationen läuft hier zusammen, in seinem mit Akten und Büchern vollgestopften Büro.

Wezeman ist Friedensforscher, und als solcher erforscht er den globalen Waffenhandel. Aber eigentlich fasst er seinen Auftrag weiter, er und seine Kollegen wollen ergründen, wie ein friedliches Miteinander der Menschen eines Tages möglich wäre, denn daran glauben sie hier bei Sipri – als Friedensforscher muss man das.

Das Stockholm International Peace Research Institute, kurz: Sipri, liegt am Stadtrand von Stockholm, ein Thinktank, vor 49 Jahren gegründet, inzwischen weltberühmt. 52 Mitarbeiter, davon 38 Wissenschaftler aus 14 Nationen, Statistiker, Mathematiker, Politologen, Historiker – und Wezeman, der aus Holland stammt, ist einer von ihnen. Sein Gebiet sind Käufe und Verkäufe, außerdem Diversifizierung von Waffengattungen, ferner der Schwarz- und Graumarkt – wahrscheinlich gibt es nur wenige Menschen auf der Welt, die darüber so viel wissen. Aber wenn er Feierabend mache, sagt er, schalte er ab. Er hat eine Frau und drei Kinder, er singt im Chor, kommt mit dem Hollandrad zur Arbeit, und er fotografiere für sein Leben gern, sagt er, aber noch mehr liebt er seinen Job.

Wenn er auf die Statistiken und Zahlenkolonnen blickt, sieht er den Zustand der Welt. Er liest ihn – wie ein Arzt eine Fieberkurve. Er blickt hinter die halbherzigen Absichtserklärungen und die oft verlogene Rhetorik der Politiker, er sieht die Tatsachen, ausgedrückt in kalten Zahlen, und er kann an ihnen ablesen, wie die Konflikte wandern, wie sie sich entzünden, eskalieren, und manchmal klingen sie auch ab, aber meistens fließt Blut.

Und er sieht Schicksale, Geschichten hinter den Berichten und Statistiken. Er sieht Typen – wie „Cat“ Shannon und seine Söldnertruppe, die „Hunde des Krieges“ aus dem gleichnamigen Roman. Frederick Forsyth, der Thrillerautor, erzählt die wilde Story einiger Söldner, die in der zentralafrikanischen Fantasierepublik Zangaro einen Diktator stürzen. Für Wezeman fasst dieses Buch zusammen, worum es geht beim Waffenhandel – und warum Frieden so schwer zu bewerkstelligen ist.

„Ich weiß, das Buch erschien Mitte der Siebzigerjahre, im Grunde zu einer anderen Zeitrechnung. Aber Forsyth hat wirklich sehr gut recherchiert, man erfährt viel über die Hintergründe eines solchen Coup d’État: Welche Waffen braucht man, in welcher Menge? Wie besorgt man sie sich? Wie funktioniert das? Und das ist das Verrückte, das Beängstigende: Fast nichts hat sich seitdem im Waffenhandel geändert! Macht und Gier sind die treibenden Kräfte. Die Typen, die Strukturen sind unverändert. Bis auf Preise und Details.“

Waffenhandel sei nicht per se schrecklich, sagt Wezeman, es komme immer auf den politischen Kontext an; aber in jüngster Zeit gebe es mehr und mehr Krisenherde, „wir haben also keinen Grund zum Optimismus“.

Gab es denn jemals einen Hoffnungsschimmer, Grund zum Optimismus?

Ja, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sagt Wezeman, habe man hoffen können. Damals gingen die Waffenverkäufe zurück, etwa zehn Jahre lang. Denn eine Supermacht war plötzlich vom Spielfeld verschwunden, also drosselten auch die USA ihre tödlichen Geschenke. Sicher, bald wurden die einstigen sowjetischen Arsenale in den Satellitenstaaten geplündert, vor allem ehemalige KGB-Agenten taten sich hierbei hervor, das Zeug kam auf den Markt, erklärt Pieter Wezeman – „aber es dauerte ein paar Jahre, bis es flutschte, daher der Rückgang“.

In den vergangenen zehn Jahren zogen die globalen Waffenverkäufe wieder an, das gefällt Wezeman nicht. „Das Bild ist jetzt sehr unübersichtlich, es mischen mehr Mächte mit als noch vor 15 Jahren.“ Die Chinesen würden dramatisch aufholen, auch die russischen Firmen. „Abnehmer sind die Golfstaaten, die Nachbarn Russlands, dazu Pakistan, Indien, Bangladesch, Burma, außerdem verschiedene Interessenten in Zentralafrika.“

Manchmal, sagt Wezeman, sei es sehr frustrierend, diese Entwicklungen zu analysieren. Macht und Gier treiben die Welt an, als Friedensforscher steht man hilflos daneben. Aber Jammern nützt nichts, sagt er, und so macht Wezeman weiter, Tag für Tag, forschend, lesend, schreibend, ein Söldner auch er, ein Hund des Krieges.

Hundert Jahre Schweigen

So eine Kirche, sagt Armen, kann einem helfen. Zum Beispiel hilft sie, nicht aufzugeben. Und das sei doch was, sagt er.

Allein weil die Kirche da jetzt stehe, wunderschön und unverrückbar, während vor nicht langer Zeit hier nur Ruinen in den Himmel ragten – das mache Mut, sagt Armen, und Mut könne man gut gebrauchen, gerade in Diyarbakır.

Die Stadt liegt im Südosten der Türkei, tief im anatolischen Bergland. Diyarbakır ist grau, laut, glanzlos. Aber in der Altstadt, in diesem Gewirr von Gassen und bröckelnden Häusern, wo Kinder schreiend nach einem Fußball treten, steht die stilvoll restaurierte Kirche des Surp Giragos, des heiligen Cyriakus.

Es ist eine christlich-armenische Kirche – die erste Kirche dieser Art, die man wiederaufgebaut hat, und in einer Stadt wie Diyarbakır bedeutet das eine Menge. Es habe Versuche gegeben, den Wiederaufbau zu verhindern, erzählen die Bauherren, deuten die in das Projekt einbezogenen Politiker an. Manche Leute fühlten sich provoziert.

Für andere ist die Kirche Symbol für einen politischen Aufbruch, der die türkische Gesellschaft erfasst hat, Symbol für die Bereitschaft, sich der Geschichte zu stellen. Und schließlich gibt es auch noch Menschen, denen die Kirche hilft, sich zu erinnern, sich einfach jeden Tag zu vergewissern, wer sie eigentlich sind.

Zum Beispiel Armen.

Armen, der mit vollem Namen Armen Demirjan heißt, gelernter Bäcker, dann Lkw-Fahrer, dann Zeitungsausträger, jetzt Küster. Armen, der in seinem früheren Leben Abdulrahim Zaraslan hieß, bis er eines Tages herausfand, dass er in Wahrheit Armenier ist, dass die Überlebenden seiner Familie, viele waren es nicht, gezwungen wurden, zum Islam überzutreten. Armen, der ein neues Leben begann, das ihn jedoch Kraft kostet.

Er führt durch das Kirchenschiff. Rund zwei Millionen Euro, sagt er, habe der Bau gekostet. Die Architekten haben die ursprüngliche, beinahe minimalistische Anmutung wiederhergestellt. Eine hölzerne Decke wurde eingezogen, das Holz hat einen tiefen, samtigen Glanz. Säulen, Böden und Wände wurden aus dunklem Vulkangestein gebaut. Sonnenlicht flutet durch die hohen Fenster.

Im Kirchhof blühen Krokusse und Veilchen, es gibt ein Café, man kann Geschirr und T-Shirts kaufen. Das Café ist gut besucht, die Gäste reden Kurdisch, Englisch, Türkisch, Armenisch. Ganz hinten am Tisch sitzen zwei Schachspieler. Armen steckt sich eine Zigarette an, ein friedliches Bild.

Aber gleichzeitig ist da eine Angespanntheit spürbar, fühlbar in den einfachsten Gesprächen, in abgelegenen Dörfern ebenso wie in Städten wie Diyarbakır und Istanbul.

In diesen Tagen jährt sich zum 100. Mal der Beschluss des Osmanischen Reichs, die Armenier zu deportieren. Zwischen 800 000 und eineinhalb Millionen Menschen starben in den Jahren 1915 bis 1918 eines gewaltsamen Todes. Das EU-Parlament forderte am Mittwoch die Türkei auf, die Gräueltaten als Genozid anzuerkennen. 22 Staaten haben die Massaker offiziell als Völkermord bezeichnet, Deutschland gehört nicht dazu. Historiker bewerten das als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, auch Papst Franziskus sieht es so, er sagte dazu: „Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunden offen.“

Wie viele Armenier, Juden, Griechen und Jesiden während der Homogenisierung der Türkei zum Islam konvertierten, weil sie auf diese Weise Tod und Unterdrückung entkommen konnten, dazu gibt es nur Schätzungen. Doch ein Einzelfall ist die verzwirbelte Geschichte des Armen Demirjan nicht.

Es beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, es beginnt mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs, das bis dahin multiethnisch und multireligiös gewesen war. Doch die bisherigen Untertanen wollten die Herrschaft nicht mehr akzeptieren, sie forderten nationale Unabhängigkeit. Eine erregende Idee. Sie lag in der Luft. Aber sie war tödlich.

Und Russland stand an den Grenzen. Die Osmanen, von deutschen Militärs beraten und geleitet, verdächtigten die Armenier, mit den russischen Feinden zu kollaborieren. Die Osmanen reagierten mit einer bis dahin ungekannten Brutalität.

Die Armenier wurden vertrieben. Offiziell redete man von Deportation; tatsächlich wurden die Armenier auf Todesmärsche in die Wüste geschickt, ins glühende Nirgendwo, wo sie verhungerten, wo sie überfallen und ermordet wurden.

Armen hatte von diesen Dingen gehört, irgendwie, natürlich; aber sich selbst hatte er nie damit in Verbindung gebracht.

Seine Familie stammt aus Lice, einer Kleinstadt, 70 Kilometer von Diyarbakır entfernt. Dort wuchs Armen auf, mit Mitte zwanzig heiratete er Leila, eine Kurdin. Sie bekamen vier Kinder, Armen arbeitete als Fahrer bei der Stadtverwaltung, nichts deutete auf etwas Außergewöhnliches hin. Bis sein Vater starb. Und ein Onkel ihm das Geheimnis verriet: Die Familie stammt von Armeniern ab.

Abdulrahim nannte sich jetzt Armen und begann, seine Familiengeschichte zu erforschen. Ein Freund bei der Stadtverwaltung, der ihm einen Gefallen schuldig war, besorgte ihm heimlich Dokumente. Armen saß jetzt abends am Küchentisch, lesend, und während er las, entglitt ihm sein altes Leben, Stück für Stück, und ein neues Leben, eine neue Identität tat sich auf.

Seine Brüder und seine Frau Leila sahen das mit Argwohn. Wozu alte Geschichten aufwärmen, alte Wunden aufreißen?

„Aber ich finde, ich habe ein Recht, als der Mensch zu leben, der ich bin.“

Inzwischen weiß er, dass sein Großvater und drei von dessen Söhnen ermordet wurden. Nur Armens Vater wurde von einer kurdischen Familie gerettet. Sich diesen Geschichten zu stellen, sagt Armen, war schwer. Ohne die Kirche vor Augen, sagt Armen, hätte er es vielleicht nicht geschafft. Er konvertierte zum Christentum.

Der Aufbau ist das Verdienst armenischer Geschäftsleute aus Istanbul und der Stadt Diyarbakır, die das Geld gaben. Aber auch ein Mann aus Diyarbakır hat geholfen, ein Mann namens Abdullah Demirbas, 49 Jahre alt und bis vor Kurzem noch Bürgermeister für den Altstadtbezirk. Und das, obwohl er kein Armenier sei, sagt Demirbas, „sondern waschechter Kurde drei Generationen zurück“.

Gerade deshalb, sagt Demirbas, habe er sich bemüht. Gerade deshalb half er den armenischen Bauherren, das Projekt durchzuboxen, gegen alle bürokratischen Hindernisse, und er genehmigte 300 000 Euro kommunaler Zuschüsse. Bei der Einweihung hielt Demirbas eine Rede und entschuldigte sich persönlich für den Völkermord.

Warum?

Demirbas sitzt im Hinterzimmer eines Teehauses im Schneidersitz auf einem tiefen Kissen, er starrt in seine Mokkatasse. „Die Kurden haben damals die Befehle zur Vertreibung und Ermordung nur zu gern befolgt. Mein Großvater war dabei. Er war Täter. Meine Mutter hat mir davon erzählt, es sind schreckliche Geschichten. Aber eine historische Realität. Dann, als wir Kurden selbst verfolgt, getötet, für vogelfrei erklärt wurden, da sagte meine Mutter, das sei unsere Strafe, das sei Gottes Rache für das, was wir den Armeniern angetan hätten. Damals habe ich angefangen nachzudenken.“

Die türkischen Regierungen, sagt Demirbas, täten sich schwer, die multikulturelle Vergangenheit anzuerkennen. Die Doktrin der Staatsgründung besage: eine Nation, eine Sprache. Präsident Recep Tayyib Erdoğan greife darauf zurück, erst recht jetzt, nachdem es ihm nicht gelungen sei, eine islamisch-sunnitische Achse zu schmieden, von Libyen über Ägypten bis Syrien, mit der Türkei als Führungsmacht. Deswegen besinne er sich jetzt wieder auf den Nationalismus, der den Völkermord verleugne. Doch man müsse an den Jahrestag erinnern, eine Feierstunde oder so, er wolle sich etwas einfallen lassen. Das unausgesprochene Wissen um die Schuld sei jedenfalls immer da und vergifte die Gesellschaft von innen.

Wie eine Infektion?

„Wie Dämonen“, sagt er.

Etwa zur selben Zeit, während Demirbas, der Politiker aus Diyarbakır, über eine Feierstunde nachdenkt, während Armen, der Küster, Armenisch lernt, sitzen 1020 Kilometer entfernt, in Istanbul, zwei junge Journalisten, ein Mann und eine Frau, in einem Großraumbüro. Sie sitzen an zwei benachbarten Schreibtischen und kämpfen auf ihre Weise gegen die Verdrängung des Völkermords. Und nicht zuletzt, sagen sie, kämpfen sie auch für ihr Land und ihre Gesellschaft, auf die sie, wie sie sagen, stolz sein möchten, eines Tages. Anderswo wären das große, schwülstige Worte; hier klingen sie seltsam selbstverständlich.

Der junge Mann heißt Gökhan Diler, er ist Türke; die junge Frau heißt Maral Dink, sie ist Armenierin. In Istanbul ist Dink ein ziemlich berühmter Name, auch in Europa kennt man ihn; Marals Onkel, Hrant Dink, war einer der bekanntesten Journalisten und Autoren der Türkei. Bis er ermordet wurde.

Die Wochenzeitung „Agos“, bei der sie arbeiten, ist das Blatt, das Marals Onkel einst mitgegründet hat. Es erscheint zweisprachig, auf Türkisch und Armenisch, mit einer Auflage von 5000 Exemplaren. Damit ist „Agos“ sicherlich eine der kleinsten Zeitungen in der Türkei, aber dafür ist sie vielleicht die mutigste.

Gökhan Diler und Maral Dink, der Türke und die Armenierin, sind die jungen Stars der Redaktion. Sie arbeiten oft an denselben Geschichten, über Terror, Frauenrechte, Subkulturen. Ihr wichtigstes Thema jedoch ist die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern.

Es ist kurz nach neun, als Gökhan ins Büro von „Agos“ kommt, er nimmt zwei Treppenstufen auf einmal. Er lebt im Osten Istanbuls, wo die Mieten günstiger sind. Morgens muss er das Goldene Horn mit der Fähre überqueren, eine Fahrt von 22 Minuten, die er genau einteilt zur Lektüre zweier Zeitungen und seiner Mails.

Gökhan, wie ist es, als Türke mit Armeniern zu arbeiten?

„Ich gebe zu, am ersten Tag war ich beklommen. Würden die Armenier mich hassen? Würde es böse Worte geben? Aber das war nicht der Fall. Wir arbeiten sachlich, haben dasselbe Ziel, oft vergesse ich, ob jemand nun Armenier oder Kurde oder Türke ist.“

Vor acht Jahren, am Nachmittag des 19. Januar 2007, wurde Dink von einem 16-jährigen Attentäter durch Schüsse in Kopf und Nacken getötet – die Hintermänner gehörten wohl zum „Tiefen Staat“, jenem klandestinen Netzwerk, das lange Zeit die Politik des Landes beeinflusste – und es vielleicht noch immer tut. Dink starb auf der Straße, er war 52 Jahre alt.

Man hätte annehmen können, dies sei das Ende von „Agos“, das Ende all dessen, wofür Dink gestanden hatte. Doch es kam anders.

Die Ermordung bescherte „Agos“ eine Aufmerksamkeit und Sympathie, die das Blatt ohne die Bluttat vielleicht nie bekommen hätte. Noch am selben Abend versammelten sich Tausende in der Istanbuler Innenstadt; die Beerdigung später geriet zum politischen Fanal.

Für Gökhan Diler und Maral Dink wurde der Tag der Ermordung von Hrant Dink zum Wendepunkt in ihrem Leben.

Gökhan studierte damals Wirtschaftswissenschaften, er stand kurz davor zu promovieren, wollte eines Tages Professor werden und „ein schönes Leben in einem schönen Elfenbeinturm führen“. Maral hatte damals gerade einen Mathematik-Studienplatz in London bekommen. Aber der Mord traumatisierte die Familie, bis heute. Es gibt immer wieder Morddrohungen gegen die Familie Dink.

Beide gaben, unabhängig voneinander, ihre Pläne auf – und bewarben sich bei „Agos“. Sie arbeiten jetzt für einen Bruchteil dessen, was sie womöglich anderswo verdienen könnten. Aber das ist ihnen egal.

Bald nach Gökhan kommt auch Maral ins Büro, eine kleine hübsche Frau mit großen Augen. Sie strahlt, wirft ihr Tuch über die Stuhllehne und eilt in die Kaffeeküche, umarmt eine Kollegin. Gökhan blickt von seinen Notizen auf.

Was den gesellschaftlichen Wandel angehe, sagt Maral, sei sie optimistisch. Viele Türken hätten begriffen, dass ihr Land sich der Vergangenheit stellen müsse. „Maral hat recht. Das Verdrängen hat unendlich viel Energie gekostet“, sagt Gökhan.

Der gesellschaftliche Wandel, von dem Maral und Gökhan sprechen, begann ausgerechnet mit dem Wahlsieg der AKP von Recep Tayyib Erdoğan im Jahr 2002. Inzwischen ist sie deutlich religiös-konservativer, doch in ihren ersten Jahren setzte die AKP Reformen um, sie modernisierte das Land und mühte sich um ein liberales Klima. Im Jahr 2005 fand ein Historikerkongress zum Thema Genozid in Istanbul statt, trotz wütender Proteste der Nationalisten. Kritische Wissenschaftler durften dennoch erstmals öffentlich Zweifel an der offiziellen Linie formulieren, die lautet: Es gab keinen Genozid.

Im selben Jahr sprach der Schriftsteller Orhan Pamuk, der später den Literaturnobelpreis bekommen sollte, es aus: „Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier!“

Es gab Proteste, Pamuk wurde angeklagt, wegen Beleidigung des Türkentums. Aber das Thema ließ sich nicht mehr unterdrücken, es war in der Welt, und auch die Türken diskutierten darüber.

Die Vertreibung und der Völkermord verteilten die Armenier über Moskau, Los Angeles, Paris und Beirut. In Istanbul leben nur noch etwa 65 000 Armenier. Sie mussten, im Vergleich zu ihren geflohenen Landsleuten, in einer feindseligen Umgebung ausharren. Sie hatten es, grob gesagt, am schwersten.

Umso wichtiger ist für sie der Ausbruch aus der Tabuzone. Dieser Ausbruch lässt sich nicht nur in Istanbul besichtigen, nicht nur in der Kirche in Diyarbakır, sondern auch in den abgelegenen Dörfern Anatoliens. Wie Armen, der Küster, entdecken auch dort andere Armenier ihre Identität, sehen ihr Leben neu.

Aber leicht ist es nicht. Das zeigt die Geschichte der Asiya Altai.

Das Dorf Çüngüş liegt etwa eineinhalb Autostunden von Diyarbakır, die Landschaft ist rau, bergig, in den Senken stehen Mandel- und Pistazienbäume. Çüngüş besteht aus gelben, grünen, ockerbraunen Häusern, die an den Berg geklebt sind.

Das Haus liegt am Dorfrand. Asiya Altai sitzt davor, auf einem kleinen Holzstuhl, eine winzige Greisin, aber ihre Hände sind schwer und kräftig, an harte Arbeit gewöhnt. Ihr Enkelsohn steht neben ihr, er ist fünf oder sechs. Sie ist etwa 98 Jahre alt, genau weiß sie es nicht.

Als jetzt ein Auto vorfährt, als plötzlich Fremde aussteigen und auf sie zugehen, steht sie auf. Sie legt ihrem Enkel, der vor ihr steht, schützend die Hände vor die Stirn. Ihr Schwiegersohn Recai will sie beruhigen. Sie wolle über ihre Geschichte nicht sprechen, beharrt sie. Es sei aber wichtig, sagt der Schwiegersohn.

Asiya Altai wurde geboren in der Zeit der Vernichtung. Von ihrer Mutter weiß sie, dass diese Safiye hieß, ein armenisch-christlicher Name, das Pendant zu Sophie. Safiye befand sich mit ihren Eltern auf einem Todestreck in die syrische Wüste, als ein kurdischer Freischärler die Zwölfjährige erblickte, sich entweder verliebte oder sie vergewaltigen wollte – jedenfalls entriss er Safiye ihren Eltern und rettete ihr auf diese Weise das Leben.

Dieser Kämpfer war wahrscheinlich Asiyas Vater; er starb offenbar bald nach ihrer Geburt. Asiya hat ihn nie kennengelernt, sie wuchs in Çüngüş auf. Ihre Mutter konnte den anderen Frauen im Dorf wahrscheinlich nie wirklich trauen, so machte sie die Tochter zu ihrer frühen Vertrauten. Und nahm ihr dafür das Versprechen ab, das schreckliche Geheimnis ihrer Herkunft zu bewahren.

Asiya Altai fühlt sich heute noch daran gebunden. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn müssen ihr die Worte einzeln entlocken. Man hatte ihre Mutter wahrscheinlich damals gewarnt: kein Wort, niemals.

„Aber das gilt doch heute nicht mehr!“, sagt Recai, ihr Schwiegersohn.

„Du kannst ruhig sprechen“, sagt Ayşe, ihre Tochter.

„Hier lebten viele Armenier“, sagt Asiya Altai, „es gab eine Kirche, ein Kloster, die Ruinen stehen noch. Dann waren die Armenier eines Tages weg, einfach so.“

Beim Abschied schlägt Recai vor, man könne noch an den Dudan-Fluss fahren, 15 Minuten entfernt.

Dort seien viele Menschen getötet worden, man habe sie dorthin getrieben, in die Schlucht geschleudert, die Alten aus den umliegenden Dörfern, sie hätten es gewusst, und manche hätten es hinter vorgehaltener Hand erzählt. Die Leute vom Dorf würden den Ort meiden, er sei verflucht.

Der Dudan erweist sich als grün schäumendes Bergwasser, das erst durch eine Schlucht führt, dann in eine Felsspalte stürzt. Wie ein unterirdischer Wasserfall. Es geht vielleicht 15 oder 20 Meter tief hinab, ein tosendes, dunkles Loch, aus dem Nebelschwaden steigen.

Der Fahrer, bis eben sehr schweigsam, drängt zum Aufbruch, er wolle hier nicht bleiben. Nein, nicht dass er an Geister glaube, das nun wirklich nicht, sagt er, aber man wisse nie.

50

Mit 50 Jahren trat ich ein in eine Lebensphase der Weisheit und Lässigkeit, jedenfalls behaupteten das meine Freunde. Zwar 50, aber glücklich, behaupteten sie, damit ließe sich leben, theoretisch.

Im wirklichen Leben gibt es allerdings Heimsuchungen. Der jüngste Anschlag gilt meinem Rasen, seit drei Monaten beherberge ich einen Maulwurf. Ich wollte nie einen Maulwurf, will ihn auch jetzt nicht; braucht vielleicht jemand einen Maulwurf?

Er ist fleißig – das immerhin. Wenn schon ein Schädling, dann wenigstens einen, der nicht trödelt. Jeden Morgen ein, zwei, drei neue Hügel. Letzte Zählung: 90 Löcher. 90! Ich denke manchmal, ich brauchte eine Art Maulwurfsflüsterer, à la Robert Redford, der vor dem Hügel niederkniet und wispert: Geh! Du bist unerwünscht! Schließlich ist ein Garten auch eine Metapher: für Gedeihen, für Schönheit. Und der Maulwurf? Symbolisiert er die Vergeblichkeit, ist er der Gevatter Tod im Gewand des Nagetiers? Kein schöner Gedanke, wenn man 50 wird. Ich muss, was das Thema angeht, lässiger werden.

Im vergangenen Jahr wurden viele unserer Freunde 50, meine Frau und ich gerieten in eine Flut von Einladungen und Feiern, Champagner wurde getrunken, Gesänge angestimmt, und so geht es auch in diesem Jahr weiter, denn wir sind die Babyboomer-Generation, werden auf breiter Front 50. Diese Feiern indes sind nicht entspannt und abgeklärt, eher spürt man einen Unterdruck, ein Knacken in den Ohren. Klar, 50, das ist nicht mehr die Vorspeise – eher ist man schon auf der Dessertkarte, man resümiert, man interpretiert. Der 50. Geburtstag trägt die Beweislast für das ganze Leben. Man feiert, wie man sich sieht oder gern sähe.

Besonders beliebt: das Geburtstagsfest als Zeichen des wilden Aufbegehrens. In der ersten Party-Halbzeit muss kolossal getrunken, im zweiten Teil exzessiv mitgesungen und getanzt werden, je wilder und verschwitzter, desto authentischer, bevorzugter Song: „Sympathy for the Devil“, Stones. Intendiertes Lebensgefühl: Whoo-hooo. Ganz anders die nächste Variante, das emblematische Fest: ruhig, hochpreisig. Man miete ein hippes Restaurant, lasse kartonierte Tischkarten aufstellen, acht Gänge auffahren, erlesene Gäste, geistvolle Ansprachen – man hat es geschafft, das ist der Sinn dieser Vorführung. Die Anekdoten beginnen mit „Neulich in Frankfurt in der Senator-Lounge …“ Es ist leicht, sich lustig zu machen; aber zumindest ist auch diese Variante ehrlicher als die Flucht.

Ich rede von jenen, die hastig nach Thailand fliegen, abtauchen, unsichtbar werden, eine Feier-Wall brauchen. Aber dieser Tag holt sie ein. Mein eigener Geburtstag war eine Variante dieser Flucht, es war der Versuch, zu feiern, ohne zu feiern. Gelang natürlich nicht.

Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass mein Geburtstag haarscharf neben Heiligabend liegt. Ich schaffte es, vier Schulfreunden ihre Zusagen abzutrotzen. Ich kaufte fünf Flaschen teuren Rotweins, kochte Tomatensuppe, hatte „auf ein Glas“ geladen, den Geburtstag erwähnte ich nur am Rande.

Der Abend war keine Katastrophe; und doch blieben wir uns fremd. Nur mit Justus (Mediziner) habe ich all die Jahre engen Kontakt gehalten; aber nicht mit Rüdiger (Bauingenieur); auch Henning, der früher Saxofon gespielt hat und jetzt Professor für irgendwas mit Pflanzen geworden ist, hatte ich aus den Augen verloren, ebenso Holger, der immer der Lustigste, Schrägste von uns war und jetzt einen Taxibetrieb oder eine Softwarefirma oder eine Musikproduktion betreibt. Fünf nicht mehr ganz junge Männer, die sich kurz nach dem Abitur zuletzt gesehen haben, sind fünf Männer, die sich nicht kennen. Manchmal an diesem Abend blitzte ein Bild von früher auf, plötzlich sah ich durch die Fassaden dieser gestandenen Männer hindurch und sah die Jungs von damals; aber ich behielt das für mich. Es war mir peinlich.

Warum ist es schwer, 50 zu werden? Wir, unsere Generation, sind schließlich die jüngsten, kaufkräftigsten, gesündesten Alten, die es je gab. Wir laufen Halbmarathon, besetzen die Jobs, und die Frauen haben kein einziges graues Haar, wunderbarerweise. Wer sind wir?

Wir hatten ein Leben im Wohlstand, wobei wir ein Gefühl der Unsicherheit nie loswurden. Wir haben Gewissheiten verloren, wir erlebten, wie Amerika sich veränderte, der Ostblock kollabierte. Wir erlebten Terror und Finanzkrisen, Scheidungen und Patchwork-Familien, aber wir drehten nicht durch. Wir waren unideologisch, individuell, flexibel. Irgendwie haben wir uns durchgegraben. Darum ist es so seltsam, 50 zu werden – weil wir gar nicht 50 werden. Weil wir die Zahl neu definieren.

So mache ich mir Mut, wenn ich im Garten das Desaster betrachte. Übrigens stehen Maulwürfe unter Artenschutz, man darf sie nicht töten, nur vergrämen , so nennt man das, ein schönes und betuliches Fachwort; und tatsächlich passt es zu der vollkommenen Sinnlosigkeit aller Vergrämungsmaßnahmen. Buttermilch, Diesel, Menschenhaare, Hundehaare, Hundekot – all dies stopfte ich dem Tier in seine Gänge, nachdem ich sie aufgebuddelt hatte. Ich hantierte mit Buttersäure, alles, nur den Maulwurf störte das nicht. Null. Die Wahrheit ist: Maulwürfe lassen sich nicht vergrämen . Sie machen ihr Ding. Wahrscheinlich haben sie viel Sex, sie sind noch keine 50.

Vielleicht besteht der Sinn des Lebens gar nicht in Weisheit und Abgeklärtheit. Vielleicht kann man den Sinn des Lebens nicht mal mit Worten ausdrücken, nur empfinden. Aber eines immerhin kann man von Maulwürfen lernen: Man lasse sich nicht vergrämen.

Mein Opa, der Peschmerga

Er ist ein kleiner kräftiger Herr, der Großvater Khorshid Tofish, 69 Jahre alt, sorgfältig gestutzter Schnurrbart, beim Tiefschwarz seiner Haare hat er nachgeholfen. Er hat eine Vorliebe für die kurdische Nationaltracht, die pludrigen Hosen mit der breiten Schärpe, und jetzt sitzt der Großvater in seinem Lieblingssessel, ohne Socken, lutscht Bonbons und erzählt seine Lieblingsgeschichten.

Sie handeln von Hinterhalten, Gefechten, Verletzungen, von verstümmelten Kindern, verzweifelten Frauen und Männern, die mit ihrem Blut die Erde tränkten, um es mit Khorshids Worten zu sagen – Geschichten aus Kurdistan, dem Land der Krieger, die dem Tod ins Auge sehen, auf Kurdisch: Peschmerga.

Es ist ein Feiertag in Arbil, im Norden des Irak; von der Moschee ertönt der Ruf zum Asr, zum Nachmittagsgebet. Nebenan bereiten die Frauen das Abendessen, Reis mit Hammelfleisch, Joghurt, Gurken. Während Khorshid Tofish redet, sitzt neben ihm sein Sohn – Dedewan Tofish, Drei-Sterne-General der Peschmerga-Armee. Und dann ist da noch Dedewans Sohn, Siriyan, 23 Jahre alt, auch er in Uniform. Ehrerbietig hören Vater und Sohn zu, wie der Alte aus seinem Leben erzählt. Und staunen und lachen an den richtigen Stellen, sie kennen ja die Geschichten.

Großvater, Vater, Sohn sind Peschmerga, drei Generationen im Kriegszustand, zäh, unbeugsam – wenn auch jahrzehntelang international unbeachtet. Denn wen kümmerten schon die Kurden?

Aber das hat sich geändert. Die Kurden im Nordirak und ihre Peschmerga-Kämpfer sind plötzlich wichtig geworden. Immer neue Waffenlieferungen treffen ein, aus Deutschland kamen in den vergangenen sechs Wochen Panzerfäuste, Gewehre, Feldküchen und mehr, alles in allem Material im Wert von 70 Millionen Euro.

Das ist ein historisches Novum, denn der Nordirak ist Kriegsgebiet – nur eine Autostunde von Arbil entfernt stehen die Truppen des „Islamischen Staats“ (IS), und morgen in aller Frühe wird sich General Dedewan Tofish ins Auto setzen und dorthin fahren, für sieben Tage, zum Kämpfen. Sein Sohn und der Großvater ziehen ebenfalls in den nächsten Tagen in den Kampf.

Die drei Männer auf der Couch kämpfen ihren Krieg – und auch für die Interessen des Westens. Je barbarischer die Terrortruppen des Abu Bakr al-Baghdadi vorgingen, je mehr Jesiden sie massakrierten und Westlern medienwirksam den Kopf abschnitten, desto wichtiger wurden die Peschmerga.

Aber wer weiß schon, wer diese Männer sind, Großvater Khorshid Tofish etwa, mit seinen blutrünstigen Erzählungen, sein Sohn, der Drei-Sterne-General, und dessen Sohn, der gern Rechtsanwalt geworden wäre, aber dann eine Ausbildung als Kämpfer einer Spezialeinheit absolvierte? Warum widmen drei Generationen ihr Leben dem Kampf?

Die Wohnzimmertür geht auf, Khorshids Urenkelin tappt herein. Heya, zwei Jahre alt, braunlockig, der Alte lächelt, winkt sie zu sich, hebt das Mädchen auf seinen Schoß – und erzählt die Geschichte einer ganz normalen kurdischen Familie.

Als Khorshid Tofish im Frühjahr 1945 in dem Dorf Bibani, unweit von Kirkuk, geboren wurde, als letztes von fünf Kindern, hatten die Kurden gerade die Aussicht auf einen eigenen Staat verloren. Das Osmanische Reich war nach dem Ersten Weltkrieg zerbrochen, die Reste waren aufgeteilt worden; die Kurden waren leer ausgegangen.

Als Khorshid zwei Jahre alt war, starb seine Mutter, im Jahr darauf der Vater. Der Junge wuchs in der Obhut der älteren Geschwister auf, sie hatten ein großes Steinhaus, versorgten ihre Schafe, Ziegen, Pferde, Hühner, davon konnte man leben. Die nächste Schule war sieben Kilometer entfernt.

„Also ging ich nicht hin. Sehr spät erst habe ich ein wenig schreiben und lesen gelernt“, sagt Khorshid Tofish. „Aber ich schwor, dass meine Kinder zur Schule gehen würden!“ Mit sieben oder acht Jahren konnte Khorshid Ziegen melken, reiten wie der Teufel, er ging mit Steinschleudern auf Kaninchenjagd.

„Ich wollte immer was erleben“, sagt er.

Als er zwölf war, kam eine Gruppe Peschmerga-Kämpfer ins Dorf, er bewunderte sie, sprach mit ihnen und wusste nun, was seine Bestimmung war.

Er war 16, als sie ihn endlich akzeptierten, zunächst nur als Tschai-Tschi, als Burschen, der den Tee kochte, der sauber machte. „Ich hasste den Job, ich wollte kämpfen. Aber ich hatte kein Gewehr!“

Zwei Dinge hatten sich damals zugunsten der Peschmerga geändert: Zum einen gab es plötzlich einen charismatischen Anführer der Kurden – endlich. Der Mann hieß Mustafa Barzani, der Vater des gegenwärtigen Kurdenpräsidenten, und er sollte sich in den kommenden Jahren als politisches Talent erweisen.

Und zum anderen steckte der Irak gerade im Umbruch. Drei Jahre zuvor hatte eine Gruppe panarabisch gestimmter Offiziere die Monarchie gestürzt, gegen Unruhestifter gingen sie rigide vor.

Barzani zettelte eine Revolte an, anfangs nur mit 600 Getreuen, bald waren es 15 000, unterstützt durch den jungen Schah von Persien. Das hatte Symbolcharakter, denn Iran hatte sich inzwischen an die USA gebunden. „Wir dachten deshalb, die Amerikaner seien auf unserer Seite, das war ein Irrtum“, sagt Khorshid Tofish.

Das Muster wiederholt sich in der irakisch-kurdischen Geschichte: Die Kurden erhalten immer dann Unterstützung, wenn es opportun erscheint. Und sie suchen sich die Partner, die ihren Interessen entgegenkommen. Für Schah Mohammad Reza etwa stellte das antimonarchische Regime im Irak eine Gefahr dar, in den Augen der USA liebäugelte das sozialistisch angehauchte Regime zu sehr mit der Sowjetunion. Dann lieber die Kurden zum Kämpfen aufstacheln.

1963 kämpfte Großvater Khorshid Tofish als MG-Munitionierer gegen eine Übermacht irakischer Infanteristen. „Das Gefecht dauerte vom frühen Morgen bis in die Nacht, wir töteten nahezu alle, verloren aber fast alle eigenen Männer. Ich sammelte die Waffen ein, suchte mir das beste Gewehr heraus. Von da an musste ich keinen Tee mehr kochen, ich war ein Mann.“

Der Waffenkult und der Mythos des Kriegers haben sich in der kurdischen Alltagskultur bis heute erhalten – aber ohne ihren Stolz wären die Kurden vermutlich schon längst zerrieben worden. Und noch ein Wesenszug spricht aus Khorshid Tofishs Erzählungen: zähe Geduld und die Fähigkeit, Enttäuschungen einzustecken.

Khorshid Tofish und seine Einheit, etwa zwei Dutzend Männer, kämpften im Nordirak, vorwiegend in den Bergen. Dorfbewohner versteckten und versorgten sie; dafür griffen die Peschmerga irakische Verbände an, sobald die sich blicken ließen. Zwischendurch fand Khorshid sogar Zeit zu heiraten, Rana, seine große Liebe. Im April 1969 wurde ihr erstes Kind geboren, ein Sohn, sie gaben ihm den Namen Dedewan. Im Jahr 1970 dann gab Bagdad scheinbar nach. Den Kurden wurde Autonomie zugestanden. Doch der Mann, der auf irakischer Seite die Verhandlungen führte, würde sich später rächen. Sein Name: Saddam Hussein.

Khorshids Telefon klingelt, es sind seine Veteranenkameraden. Sie wollen wissen, wann sie wieder an die Front fahren und ob Khorshid Tofish Panzerfäuste organisiert hat.

Der Frontabschnitt von Chasar, wo die Kämpfer des „Islamischen Staats“ stehen, ist etwa eine Autostunde entfernt. Morgen wird Dedewan dorthin fahren. Sein Sohn Siriyan hat zwei Tage länger frei, dann muss auch er sich bei seiner Einheit melden, hier in Arbil. Der Großvater wird ausrücken, sobald er die Ausrüstung besorgt hat. Die drei Männer kämpfen im Schicht-rhythmus: sieben Tage im Einsatz, dann sieben Tage daheim.

Die Familie wohnt in der Basar-Straße im Stadtteil Binaslawa, in zwei kleinen Flachbauten. In den Vorgärten stehen Zitronenbäume, im Kräuterbeet wächst Minze, auf der Terrasse ist eine Hollywood-schaukel aufgestellt. Im Haus ist alles sehr aufgeräumt, als wollte man den Krieg mit seinem Chaos und seiner Gefahr draußen halten. Schwere Sessel und Sofas im Wohnzimmer, ein großer Flachbildschirm, ein Aquarium.

Sie leben hier seit Anfang der Neunzigerjahre, die „Demokratische Partei Kurdistans“ von Masoud Barzani hat ihnen die Häuser besorgt, das ist so üblich. Die drei Männer der Familie Tofish sind seine Gefolgsleute.

Die Parteien sind an die Stelle der alten Stammes- und Clan-Loyalitäten getreten. Und sie haben deren Versorgermentalität, auch den Hang zur Vetternwirtschaft, übernommen. Ein Peschmerga zu sein, das ist – auch – eine soziale Absicherung, zumindest in Friedenszeiten.

Arbil ist eine merkwürdige Stadt. Auf den ersten Blick: eine boomende Stadt, alles ist neuer, besser organisiert, als man es aus Bagdad oder Kairo kennt, keine Müllberge vor den Häusern, die Nebenstraßen sind asphaltiert, überall schweben die Ausleger der Baukräne durch den Himmel. Es gibt Viertel wie das „English Village“, es gibt eine aufstrebende Mittelklasse.

Das ist die eine Seite von Arbil.

Die andere ist die einer Stadt im Belagerungszustand. Allerdings auf eine sehr lässige Art. Im Peschmerga-Ministerium, in dem die Truppenbewegungen koordiniert werden, schieben sie Sonderschichten. Der Schwarzmarktpreis für Munition hat sich angeblich verdoppelt; die Läden an der Kirkuk-Straße, wo es Uniformen, Helme, schusssichere Westen gibt, haben bis spät in den Abend geöffnet.

Und immer wieder sieht man junge Soldaten, die in ein Sammeltaxi steigen, an die Front fahren.

Großvater, Vater und Sohn schlafen jeweils mit einer geladenen Neun-Millimeter-Pistole unter dem geblümten Kopfkissen. Fünf Gewehre und Maschinengewehre können sie aus ihren Schlafzimmerschränken holen. Ihre Feinde zu töten, sagen sie, damit hätten sie kein Problem. „Wir oder sie“, sagt General Dedewan Tofish, „und dann lieber sie.“

Wie viele Männer haben Sie in den diversen Kämpfen getötet?

Der Jüngste lächelt, schüttelt den Kopf.

„Mehr als hundert“, sagt der General.

„Ah, ich viel mehr“, sagt der Großvater.

Der Patriarch war noch vor zweieinhalb Wochen mit der Truppe, die er befehligt, knapp 120 Mann, an der Front, an einem Abschnitt 30 Kilometer südlich von Kirkuk. Sie hätten zwei Spähtrupps der IS-Kämpfer attackiert, die meisten getötet, die anderen gefangen genommen, um sie zu verhören und erst anschließend zu töten. In den Erzählungen der drei Männer erscheinen die Peschmerga stets als sehr heldenhaft. Aber es gibt auch andere Geschichten: wie sie wegliefen, statt Christen und Jesiden zu beschützen.

Meistens, so erzählt Khorshid Tofish, brächten diese Vernehmungen aber nichts. „Die IS-Typen stehen unter Drogen, sie nehmen kleine weiße Tabletten, sie betteln darum, dass wir ihnen diese Pillen nicht wegnehmen. Was es für ein Zeug ist, weiß ich nicht. Wir lassen sie erst mal ausnüchtern, aber dann sind sie oft verstockt. Und freuen sich auf den Tod. Einer kam aus Malaysia, aus Kuala Lumpur. Das muss man sich mal vorstellen! Kommt um die halbe Welt geflogen, um mein Volk anzugreifen! Er sagte: ‚Bitte, tötet uns jetzt, es ist gerade Mittagszeit, dann können wir mit dem Propheten zu Mittag essen, in alle Ewigkeit!‘ Ich antwortete: ‚Nein, Freundchen, wir töten dich erst nach dem Essen, dann kannst du da oben den Abwasch machen, in alle Ewigkeit!'“

Ist es angemessen, Gefangene zu töten?

Khorshid Tofish zuckt die Achseln. Die Peschmerga sind vielleicht die Partner des Westens. Aber sie kämpfen nach ihren eigenen Regeln. Und die sind die einer Miliz, nicht die einer professionellen Armee.

Die Jahre 1970 bis 1975, die ersten Kindheitsjahre von Dedewan Tofish, dem späteren General, verliefen noch einigermaßen friedlich. Dann griff die Weltpolitik in sein Leben ein, im Abkommen von Algier schlossen Iran und der Irak Frieden. Sie legten ihre Grenzstreitigkeiten bei, als Folge entzog der Schah den Kurden jede Hilfe. Die Familie musste nach Iran fliehen, zwei Schwestern von Dedewan Tofish wurden in Zelten geboren, sie hausten in Flüchtlingscamps, wanderten von Stadt zu Stadt. Der Vater war fast nie da, er versteckte sich, oder er kämpfte. Dedewan träumte oft davon, der Vater käme, würde ihn abholen, zum Kämpfen mitnehmen.

„Manchmal murmelte ich nur das Wort vor mich hin: Vater, Vater. Immer wieder. Warum? Weil ich ihn vermisste und um ihn nicht zu vergessen.“

Im September 1980 überfiel Saddam Hussein die, wie er glaubte, schwache Islamische Republik Iran, wie das Land nach Khomeinis Sieg hieß. Und plötzlich waren die Kurden wieder mal nützlich. Khorshid und seine Leute ließen sich einspannen, bekamen von den Iranern Material, Waffen, Geld.

Dedewan Tofish war 16, als sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging – er durfte bei den Peschmerga mitmachen, seine Einheit wurde von 1987 an in der Nähe eines Ortes namens Halabdscha eingesetzt. Und so wurde der junge Rekrut Dedewan Tofish Zeuge eines der größten Verbrechen an seinem Volk.

Im August 1988 kam es zum Waffenstillstand zwischen Iran und dem Irak, nach acht Jahren Krieg. Unverzüglich ordnete Saddam Hussein eine Operation gegen die Kurden an, die sich auf die Seite Teherans gestellt hatten. Der Name der Operation lautete Anfal, übersetzt „Beute“. Die Zahl der Toten wird heute auf bis zu 150 000 geschätzt, die Armee setzt Giftgas ein. Das Massaker wird später als Genozid anerkannt werden.

„Wir kampierten an einem Fluss. Plötzlich kam ein durchdringender Geruch auf, wie nach Knoblauch, aber schärfer, beißender. Wir schlichen von Dorf zu Dorf. Alles war voller Leichen. Ab und zu Überlebende, denen halfen wir. Dann versteckten wir uns. Ich weiß noch, wie wir einige Monate in einer Höhle lebten. Fast wären wir verhungert. Ab und zu fingen wir ein Kaninchen.“

Das Erlebnis prägte den 18-jährigen Soldaten, von nun an wird er bei den Peschmerga bleiben. Dedewan Tofish wusste, was es zu verhindern galt, wie gefährdet die Existenz der Kurden war.

Anfang der Neunzigerjahre lebte die Familie erstmals vereint unter einem Dach, in Arbil. Dedewan Tofish, damals noch ein junger Offizier, hatte geheiratet, sein Sohn war geboren, Siriyan. Inzwischen hatte Saddam Hussein Kuwait überfallen, aber am Ende musste der Irak einen demütigenden Waffenstillstand akzeptieren. Für die Kurden war das die Gelegenheit, einen unabhängigen Teilstaat zu verkünden.

Für die Familie Tofish begann eine Zeit relativer Normalität. Siriyan ging in die Belessa-Schule in der Innenstadt, er war ein sehr guter Schüler, vor allem in Mathematik. Als er älter wurde, interessierte er sich für Computer, Fußball, Karate, Musik. Aber der Krieg trat auch in sein Leben, es gab kein Entkommen.

Im März 2003 griffen 43 Länder unter Führung der USA und Großbritanniens Saddam Hussein an, die Kurden schlugen sich auf die Seite der Angreifer. Mit deren Sieg setzte der Boom in Arbil ein – hier ging das Geld hin, denn hier herrschte Sicherheit. Doch als die Amerikaner 2009 mit den ersten Truppenabzügen begannen, stand dem Irak abermals eine Zeit der Unsicherheit bevor. Siriyan war damals 18, er musste sich entscheiden.

Und er wurde, nicht ganz leichten Herzens, Peschmerga. Heute hat er den Rang eines Fähnrichs, bekommt 650 US-Dollar Sold im Monat, kann sparen, weil er noch daheim wohnt, das Geld braucht er auch, irgendwann will er heiraten.

Und sosehr sich die Biografien dieser drei Männer ähneln, sie stehen auch für den Weg der irakischen Kurden von einer Kultur des Kampfes hin zu einer Zivilgesellschaft. Großvater Tofish ging noch zu den Kämpfern, weil er das Abenteuer suchte. Sein Sohn, der General, war schon zögerlicher. Siriyan hatte andere Träume für sein Leben, bis die Ereignisse ihn einholten, weil er Kurde ist. Vielleicht wird einst sein Kind kein Peschmerga mehr sein.

Der Sohn der Bestie

Vor wenigen Minuten hatte Jonathan die Grenze überquert, hatte sich über den Río Suchiate setzen lassen, den Fluss, der Guatemala und Mexiko voneinander trennt. Bis Mexiko hatte er es also schon geschafft, gar nicht schlecht, dachte er, und jetzt war er in Frontera Hidalgo, Bundesstaat Chiapas, und eigentlich sah es hier aus wie daheim, wie in Nicaragua.

Vor ihm lag eine gerade Straße. Links und rechts standen schäbige Häuser. Der Duft von gekochten Bohnen stieg ihm in die Nase. Er hatte Hunger, vielleicht hatte irgendwo eine Taquería noch geöffnet. Da kamen aus einer dunklen Seitenstraße drei Polizisten, sie waren bewaffnet.

Sie drängten ihn gegen eine Mauer. Er musste seinen Rucksack ausleeren, sein Portemonnaie aushändigen. Im Schein der Taschenlampe studierten sie seinen Pass, fanden das Geld. Sie sprachen schnelleres Spanisch als er, fiel ihm auf, singender, irgendwie lustiger. Doch was sie dann sagten, klang weniger lustig.

Amigo, dein Geld gehört jetzt uns!

Fast alle Flüchtlinge verstecken ihr Geld. Ein paar Scheine, in Plastik gewickelt, schieben sie in die Schuhe, oder sie nähen das Geld in den Hosenbund ein. Manche haben eine Mango, in die sie einen unauffälligen Schlitz schneiden, um Münzen hineinzustecken. Es gibt auch die Methode, die Geldscheine in ein verschraubbares Aluminiumröhrchen zu stecken, das Röhrchen einzufetten, im After unterzubringen. Jonathan hatte sein Geld einfach nur im Portemonnaie.

Die Polizisten nahmen es ihm ab, 650 US-Dollar, außerdem sein Handy. Den Ausweis durfte er behalten, auch das braune Portemonnaie mit dem Gedicht darin; ein Mädchen, mit dem Jonathan mal ging, hatte es für ihn geschrieben, es war sein Glücksbringer. Die Polizisten stiegen in ihr Auto, lachten, dann waren sie weg.

Drei Tage zuvor war Jonathan José Pazpalma, Sohn von Marvin Pazpalma und Leonce, geboren in Chinandega, Nicaragua, aufgebrochen. Sein Ziel: die Vereinigten Staaten von Amerika. Mexiko war ein großes Land, und es lag auf dem Weg, also musste er es durchqueren, so viel wusste er. Was er nicht wusste: wie es jetzt weitergehen sollte.

Jonathans Reisegeld hätte wahrscheinlich knapp gereicht, um Mexiko mit Bussen zu durchqueren, nicht schnell, aber doch halbwegs sicher. Nun hatte Jonathan keine andere Wahl, als den nächsten Güterbahnhof zu finden, auf einen Zug aufzuspringen. Er hatte davon gehört, er hatte sich davor immer gefürchtet.

Etwa 4000 Kilometer lagen nun vor ihm und eine der gefährlichsten Reisen, die ein Mensch wagen kann, nämlich als blinder Passagier auf den Güterzügen, die durchs Land rumpeln, vom Süden Mexikos bis in den Norden. Für die Flüchtlinge, die aus Zentralamerika kommen, verschmelzen diese Züge zu einem einzigen, dem „Zug der Tränen“. Sie nennen ihn auch den „eisernen Wurm“, gusano de hierro. Am häufigsten aber: la bestia , die Bestie.

Jonathan marschierte los, raus aus der Stadt, ohne eine Karte, ohne Orientierung. So machte er sich auf die Suche nach einem Zug, nach seinem Schicksal.

Inzwischen kommen die meisten Migranten, die in die USA einwandern, aus Nicaragua, Honduras, El Salvador, Guatemala. Dort liegt der Tagesverdienst oft nur bei drei, vier, fünf US-Dollar. Alle Geschichten, die die Flüchtlinge erzählen, laufen darauf hinaus: Wir lieben unsere Heimat, aber wir konnten dort nicht bleiben.

Fast immer sind es, wie in Jonathans Fall, die Starken der Familie, die den Schritt wagen. Zu 80 Prozent junge Männer unter dreißig. Zehn Prozent der migrantes sind Halbwüchsige; sogar Kinder sieht man auf den Zügen, an den Gleisen, mager, verschmutzt, misstrauisch. Etwa zehn Prozent der Flüchtlinge sind junge Frauen.

Das Risiko, ausgeraubt, verletzt, getötet zu werden, liegt für Männer bei mehr als 60 Prozent; die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, vergewaltigt zu werden, bei rund 85 Prozent.

Jonathan kann von seiner Reise berichten – denn er hat sie überlebt, bisher. Er hat es bis Tijuana geschafft, im Nordwesten von Mexiko. Er sitzt auf einem weißen Plastikstuhl, er redet. Ein kleiner, dunkler Mann. Kräftige Schultern, an Arbeit gewöhnte Hände. Kurz geschnittenes Haar, kein Ring, keine Uhr, keine Tätowierung. Er wäre gern Tierarzt geworden, sagt er.

Jonathan hat 13 von 32 mexikanischen Bundesstaaten durchquert, hat Kidnapper, Klapperschlagen, Moskitoschwärme, Durst, Folter, Hitze, Kälte überlebt – 79 Tage und Nächte, und jede Sekunde, sagt er, habe sich ihm eingebrannt.

Es ist noch früh am Abend. Die Casa del Migrante in Tijuana ist eine Unterkunft für Flüchtlinge. Jonathan ist hier untergekommen, für zwei, drei Tage, um Kraft zu schöpfen für die letzte Etappe. Er erzählt, als stünde er unter einem Druck, immer wieder befühlt er seine Zähne. Auf halber Strecke, in Orizaba, erzählt er, hielt man ihn gefangen, die Kidnapper wollten Geld aus ihm herauspressen, sie traten ihm ins Gesicht, zwei Zähne sind seitdem weg.

In jener ersten Nacht in Mexiko, nach der Begegnung mit den Polizisten, marschierte Jonathan einfach los. Irgendwann kam er an eine Kirche. Sie war verschlossen, dennoch fühlte er sich hier geschützt. Er betete das Vaterunser, legte sich auf die Erde, schlief ein.

In den folgenden Tagen schlug er sich durch bis Tapachula, die nächste größere Stadt. Doch dort erwartete ihn eine weitere Überraschung. Ein Hurrikan hatte die Schienen unterspült. Jonathan erfuhr, dass er bis Arriaga gehen musste – rund 250 Kilometer entfernt.

Er marschierte auf Landstraßen, schlug sich durch die Felder. Sobald er ein Auto hörte, duckte er sich hinter einen Baum, bis er wusste, dass es kein Polizeiwagen war. Links und rechts der Straße wuchs Kaffee, Papageien krächzten in den Mangobäumen. Wasser fand sich am Wegesrand, hier ein Bach, dort ein Brunnen, manchmal lag irgendwo eine Avocado, eine halb zermatschte Mango.

Daheim waren sie sieben Kinder, Jonathans Vater war Plantagenarbeiter. Es gab Tage, da hatten sie nur eine Tortilla pro Kind. Manchmal bestand das Abendessen aus einem Krug Wasser, in das die Mutter zwei Teelöffel Zucker rührte. Schlaft auf dem Bauch, riet sie, dann vergeht der Hunger.

Gelegentlich wurde Jonathan ein Stück weit mitgenommen, die meiste Zeit ging er. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen; dann setzte er sich irgendwo an den Wegesrand. Aber vielleicht hat ihm diese Route das Leben gerettet.

Die Zugstrecken durch den Bundesstaat Chiapas gehören zu den gefährlichsten. Die Menschen auf den Waggons sind die perfekte Beute für Gangster: Sie hocken auf den Dächern, unbewaffnet, verfroren, klammern sich erschöpft an den Leitern oder Rosten fest. Manche der Männer bewaffnen sich zwar mit Steinen, schnitzen sich einen Stock; aber die Gangster haben Macheten, sie kommen mit Pistolen, Kalaschnikows. Oft rauchen sie Dope oder schnupfen Crystal Meth, bevor sie einen Zug überfallen, die Drogen nehmen ihnen alle Hemmungen.

Nach etwa eineinhalb Wochen hatte Jonathan sich bis Arriaga durchgeschlagen. Er fand den Güterbahnhof, hier standen Züge – doch sie fuhren nicht. Später, erfuhr Jonathan. Vielleicht in ein paar Tagen.

Im besseren Teil von Arriaga stehen die richtigen Hotels, hier gibt es sogar einen Geldautomaten, Straßenlaternen, hier befindet sich auch derzócalo , der Rathausplatz. Dahinter führt die Straße abwärts über die Gleise, zu schmuddeligen Bars und Absteigen, wo sich normalerweise zehn, zwölf Migranten ein Zimmer teilen. Selbst dafür hatte Jonathan kein Geld. Sechs Tage verbrachte er in Arriaga – wartend. Hier lernte er seine erste Lektion: betteln, um nicht zu verhungern.

Jonathan erwies sich als miserabler Bettler, er schämte sich zu sehr. Doch abermals hatte er Glück. Vor dem Verhungern rettete ihn eine Bekanntschaft, die er irgendwo an den Gleisen gemacht hatte, im struppigen Gebüsch. Es war eine Familie aus Honduras, die Vilegas: Vater, Mutter, zwei Kinder, ungefähr sechs und zehn Jahre alt. Die Kinder erbettelten viel mehr als Jonathan, an manchen Abenden schleppten sie 50 oder sogar 100 Pesos an, bis zu fünf Euro. Die Eltern luden Jonathan ein, mit ihnen zu essen, Tacos, Bohnen. Er hasste sich dafür, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Dafür schlief Jonathan bei der Familie, ein junger, kräftiger Mann, der sich zu verteidigen wusste, war willkommen.

Bei Einbruch der Dunkelheit legten sich Vater, Mutter, Jonathan zu einem Dreieck neben den Gleisen auf den Boden, unter sich Pappen. Die Kinder rollten sich in der Mitte des Dreiecks zusammen. Jonathan lag oft wach, sah das Flirren der Glühwürmchen; hörte Skorpione und Ratten, die durchs Gebüsch raschelten. Die Mutter erzählte den Kindern vor dem Einschlafen, wie schön es sein würde in el norte . Dort gebe es Turnschuhe, Fahrräder, der Vater werde Arbeit finden, es würde wunderschön; die Kinder wurden nicht müde, davon zu hören.

Jonathan dachte an seine eigenen Geschwister, rief sich ins Gedächtnis, warum er diese Strapazen auf sich nahm. Auch davon handelt die Geschichte des Jonathan José Pazpalma: wie viel man aushält, was man schaffen kann, für seine Familie, aus Liebe.

Am sechsten Tag setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Sie fuhren 16 Stunden bis Ixtepec, im Bundesstaat Oaxaca, wo sie im dortigen Flüchtlingsheim unterkamen. Jonathan und die anderen konnten duschen, er wusch seine T-Shirts, es gab Bohnen mit Brot, er schlief viel. Ausruhen, Kraft schöpfen.

Die Casa del Migrante gleicht einer Festung, bewacht, verriegelt. Gegründet hat das Flüchtlingsheim Pater Alejandro Solalinde, ein zarter Mann mit Nickelbrille. Hier in der Gegend gibt es Splittergruppen der „Mara Salvatrucha“, einer der größten Verbrecherorganisationen Mittelamerikas. Für die Gangster sind Solalinde und seine Einrichtung ein Ärgernis; jeder Migrant, der hier unterkommt, ist einer weniger, den sie berauben können. Pater Solalinde hat schon viele Morddrohungen erhalten.

Etwa 50 solcher Flüchtlingsheime gibt es in Mexiko, von der Kirche betrieben, wie in Ixtepec, Tijuana oder Tapachula. In solchen Heimen landen jene, die sich ausruhen müssen – und die Unglücklichen, die auf der Strecke blieben, aber überlebt haben, jene, die einen Arm, ein Bein verloren haben. Das Aufspringen auf einen anfahrenden Güterzug ist heikel: Man muss schnell sein, darf nicht zögern, sonst stürzt man. Und wer stürzt, dem schneiden die eisernen Räder des Zuges oft ein Bein, einen Fuß, beide Beine ab.

Es kommt nicht selten vor, dass die Reisenden schlafend vom Zug fallen. Oder hinuntergestoßen werden, wenn Gangster kommen, um sie auszuplündern. Die Machete, mit schwerer, gleichzeitig scharfer Klinge, ist deren bevorzugte Waffe bei Überfällen. Viele Männer in den Herbergen haben abgeschlagene Finger, verstümmelte Hände, weil sie Machetenhiebe abzuwehren suchten.

In den folgenden Tagen lernte Jonathan seine Lektionen. Er lernte das Mitlaufen, das Tempo des Zuges zu halten, das Aufspringen, mit einer Hand eine Sprosse oder einen Haken zu ergreifen, sich nur mit Armkraft auf den Waggon zu ziehen. Er lernte, sich flach auf den Dachrost zu pressen; sobald der Warnruf ¡rama! , Zweig!, ertönte, sich seitlich wegzurollen, um Ästen oder durchhängenden Stromleitungen auszuweichen. Er lernte, sich mit einem anderen Mann nachts die Wache zu teilen: Rücken an Rücken auf dem Rost hockend, die Arme untergehakt.

Von Oaxaca aus fuhr die „Bestie“ durch den Bundesstaat Veracruz. Es war noch früh am Morgen, als Jonathan entlang der Gleise Menschen sah, die jenen, die in Trauben auf dem Zug hingen, etwas zuriefen. Sie warfen Pakete! Jonathan konnte drei der Päckchen fangen. In einer Tüte fand sich ein ganzer Kuchen, in den anderen beiden waren Wasserflaschen, außerdem Hühnchensalat, Tortillas, in Zeitungspapier eingewickelt.

Ich weinte vor Glück, sagt Jonathan. Wunderbare Menschen, dachte ich, die so etwas tun.

Aber dann kamen die Gangster.

Es war am selben Tag, spät am Abend. Kurz vor der Stadt Orizaba fuhr der Zug langsam in einen Tunnel. Auf den Waggons befanden sich etwa 150, 200 Menschen. Fast alle waren schläfrig, dösten, als der Zug im Tunnel zum Stehen kam. Jonathan gefiel das nicht, instinktiv. Er rief den Vilegas zu: Schnell, die Frau, die Kinder – in den Container-Waggon!

Jetzt waren Männer auf dem Zug. Sie schienen bewaffnet zu sein, sprangen von Waggon zu Waggon. Sie hatten Taschenlampen. Sie brüllten Anweisungen.

He, alle runter vom Zug!

Die meisten Flüchtlinge, erinnert sich Jonathan, hätten gar nicht daran gedacht, sich zu wehren. Die gebellten Kommandos nahmen ihnen allen Mut. Auch Jonathan gehorchte.

Die Flüchtlinge wurden in Gruppen aufgestellt, in einer langen, dunklen Reihe neben dem Zug im Tunnel. Dann wurden Frauen und Männer getrennt. Jonathan hörte, wie sie die Frauen wegführten. Er hörte sie weinen, schreien, kreischen.

Manche Frauen benutzen Tape, um ihren Busen flach erscheinen zu lassen, und sie schneiden sich die Haare kurz, um als Jünglinge durchzugehen. Aber die Männer, die sie jagen, wissen das. Andere Flüchtlingsfrauen schreiben sich „Tengo Sida“ auf die Brust – „Habe Aids“. Viele lassen sich vor der Flucht ein Kontrazeptivum spritzen, das etwa drei Monate lang den Eisprung verhindert.

Vor Jonathans Gruppe trat nun einer der Gangster, er brüllte. Wir werden euch jetzt in Gruppen hier rausbringen! Denn dies ist unser Revier! Wir sind Zetas!

Die Bewaffneten teilten Jonathan und die übrigen Opfer ein in Gruppen zu ungefähr 15 Personen. Zu jeder Gruppe stellten sich sieben, acht Bewacher. Jonathan sah Macheten, Pistolen, Maschinenpistolen, Messer.

Der Vater der Familie Vilegas trat vor, zitternd vor Angst: Bitte, meine Frau, meine Kinder sind in einem der Waggons, bitte, ich will nicht von ihnen getrennt werden! Die Gangster zerrten die Versteckten aus dem Container, berieten sich flüsternd. Dann trat einer der Gangster vor: Okay, du darfst bei der Familie bleiben! Denn dies ist unser Gesetz: Los niños no tienen la culpa de nada , Kinder sind unschuldig! Will sagen: Sie werden nicht angerührt.

Die anderen Männer aber wurden abgeführt, unter ihnen Jonathan. Aus dem Tunnel hinaus, ein Stück die Gleise entlang. Sie kamen an eine Straße. Ein Haus, ein leeres Zimmer. Auf den Bauch legen. Die Hände wurden ihnen auf den Rücken gefesselt.

Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind in Mexiko rund 300 000 bis 400 000 Gangster in den größeren Kartellen organisiert – wie die Zetas eines sind. Polizei und Militär stellen zur Bekämpfung mehrere Zehntausend Mann – und sind ihnen trotzdem unterlegen: Die Gangster haben hochmoderne Schusswaffen, Handgranaten, Mörser. Sie sind auf Twitter und Facebook, betreiben Websites, auf denen sie Triumphe und Hinrichtungen dokumentieren.

Jonathan lag in einem dunklen Zimmer, mit anderen Männern. Seine Hände wurden taub. Er versuchte, sich aufzurichten. Jemand kam von hinten zu ihm.

Du da, hinlegen!

Tritte gegen den Kopf, in die Nieren.

Der Mund voller Blut.

Die Zetas begannen als kleine Gruppe, etwa 30 ehemalige Elitesoldaten, sie wurden 1999 formiert, als Kampftruppe und Auftragskiller des Golfkartells. Vor einigen Jahren entdeckten sie die Migranten aus Zentralamerika als Opfer von Entführungen. Dies erwies sich als ziemlich lukrativ.

Es gibt vier Methoden, einem entführten Migranten Geld abzupressen. Erstens: Man nimmt ihm seine magere Reisekasse ab. Zweitens: Man lässt sich erzählen, wo genau in El Salvador oder Nicaragua seine Eltern, seine Geschwister leben, zwingt ihn dann unter Drohungen, als Drogenkurier über die Grenze zu gehen. Drittens: Man verkauft Frauen und Kinder als Sexsklaven.

Die vierte Methode ist die am häufigsten angewandte: Man foltert das Opfer, lässt sich sagen, wo Onkel oder Bruder in den USA leben, der Gepeinigte muss dort anrufen. Den Verwandten wird ein Code für eine Schnellüberweisung genannt. In der Regel verlangen die Verbrecher Beträge um 500 Dollar. Schmerzensschreie während des Telefonats beschleunigen den Vorgang. Sobald das Geld da ist, wird das Opfer freigelassen.

Nach einer Studie der Nationalen Menschenrechtskommission für 2011 wurden in einem halben Jahr etwa 11 000 Personen entführt.

Fünf Tage und Nächte wurde Jonathan befragt, nach Methode vier. Wo lebt sein Bruder, welche Telefonnummer hat sein Onkel? Doch Jonathan hat keinen Onkel oder Bruder in den USA. Sie glaubten ihm nicht.

Immer wieder Schläge, mal mit Fäusten auf den Hinterkopf, mal mit einem Holzbrett. Tritte auf die Waden, ins Gesicht, in die Nieren, auf die gefesselten Hände. Seine Folterer hielten ein brennendes Feuerzeug an seine Augen.

Nach den Verhören wurde Jonathan zurück in den Raum geschleift. Oft fiel er in Ohnmacht. Wenn er wach war, betete er das Vaterunser.

Padre nuestro, que estás en los cielos …

In der fünften Nacht schlich sich einer seiner Bewacher zu ihm. Er sei aus Honduras, sagte der Mann. Er habe Jonathans Gebete gehört. Auch er sei ein Christ, wirklich. Er mache diesen Job, um seine Familie zu ernähren. Ja, schmutziges Geld, aber egal. Er wolle Jonathan helfen.

Der Typ hat mich tatsächlich freigelassen, ich weiß nicht, warum, sagt Jonathan.

Die Reise des Jonathan José Pazpalma führte ihn in die Abgründe menschlicher Gemeinheit; aber nicht nur. Er fand auch Hilfe, Güte. Nahe der Station Lechería, nördlich von Mexiko-Stadt, war er kurz vor einem Kollaps, als ihn „La Polla“, der mexikanische Sprachgebrauch für die Glucke, ein dicklicher Transvestit, auf einer Müllkippe fand, ihn mit Wasser versorgte, mit Lebensmitteln, Schmerztabletten – einfach so. Später, in Guadalajara, traf er eine Frau aus Guatemala, die beiden freundeten sich an, reisten eine Weile gemeinsam. Vielleicht half ihm vor allem seine Arglosigkeit, sein unerschütterlicher Glaube, dass alles irgendwie gut werden würde.

Dann kam die Wüste. In der Wüste, im Norden Mexikos, war Jonathan dem Tod so nah wie nie zuvor.

Vor Hermosillo, im Bundesstaat Sonora, blieb der Zug eines Morgens unvermittelt stehen, vielleicht ein Defekt an der Maschine. Die Männer auf den Wagendächern konnten nichts tun, nur durchhalten. Es gab keinen Schatten. Ohne Fahrtwind heizte sich der Zug auf, als stünde er im Feuer. Das Blech glühte. Jonathan besaß zwei Pappstücke: Auf einem hockte er, eines hielt er als Sonnenschutz über sich.

Flirrende Luft.

Darf nicht runterfallen, nur das nicht, sagte sich Jonathan.

Muss sitzen bleiben.

Irgendwann fuhr der Zug weiter.

Zehn Minuten länger, und ich wäre vom Dach gefallen, sagt Jonathan heute.

79 Tage nach Anbruch der Reise kommt er in Tijuana an. Er hat viel ausgehalten, aber noch hat er es nicht geschafft. Die letzte Etappe steht noch bevor, und er muss sich entscheiden – soll er übers Meer oder durch die Wüste in die USA fliehen?

Unweit der Stadt Rosarito gebe es Männer, hat er sich erzählen lassen, die Fischerboote haben, mit Außenbordmotoren. Es sind keine professionellen Schlepper, sondern Fischer. 350 Dollar pro Kopf nehmen sie. Dieses Geld würde ihm die Frau aus Guatemala vorstrecken, sie ist ebenfalls bis Tijuana gekommen, hält sich in einer Unterkunft für Frauen auf.

Aber was, falls das Boot kentert, nachts? Oder abgetrieben wird?

Die andere Möglichkeit: ein Marsch durch die Wüste. Dauert länger, ist aber womöglich sicherer. Östlich von Tijuana gibt es angeblich Tunnel, Durchbrüche im Grenzzaun. Dann vier, fünf Tage marschieren, nachts. Tagsüber verstecken. Die Gruppe besteht aus vier bis acht Leuten. Der Mann, mit dem Jonathan telefoniert hat, besorgt Lampen, Decken, er hat einen Kompass, angeblich.

Eine letzte Entscheidung. Vielleicht ist es die schwierigste seiner Reise. Er denkt nach, er wägt ab.

Es vergehen elf Tage, in denen Jonathan sich nicht meldet. Dann eine SMS, ein Telefonat. Er hat es bis San Diego geschafft, durch die Wüste. Jemand hat ihm inzwischen eine Unterkunft besorgt. Er kann manchmal arbeiten, als Anstreicher. Er verdient Geld, es ist ein Anfang.


Siehe hierzu auch den Film „Jonathans Reise

Am Flughafen

Das ist natürlich ein gefundenes Fressen: Ausgerechnet ein SPIEGEL-Artikel, der ein Plädoyer ist für sorgfältigen Journalismus, für zuverlässige Medien, denen man trauen kann, soll diese Genauigkeit vermissen lassen.

Es geht um mein Stück in der neuen Rubrik „Homestory“, in der wir persönliche Geschichten erzählen, eigene Erfahrungen und Beobachtungen. Es handelt davon, wie sich das Leben verändern könnte, wenn unsere Kinder keine Zeitung mehr lesen. Ich erzähle darin, was ich vor einigen Jahren in Island erlebt habe:

In Island war man sehr stolz darauf, eine vernetzte, bloggende Gesellschaft geworden zu sein, die althergebrachten Medien fristeten ihr Dasein, staubige Staats-Rundfunksender, von Untoten bewohnt, sklerotische Zeitungen. Lächerlich. Man bediente sich aus den Blogs. Da gab es Börsentipps und heiße Ideen zur wundersamen Geldvermehrung.

Nun war die Finanzkrise da, ein Meteoriteneinschlag, die Sonne war verdunkelt, niemand wusste, wo es langgeht. Wer waren die Bösen? Gab es Böse? Und wer waren die Guten? Würde man all sein Geld verlieren? War das Geld noch da? Nein?! Hilfe! Was war geschehen?

Lauter Fragen, die sich die Isländer plötzlich stellten. Und sie hatten noch mehr Fragen. Leider gab es keine Antworten, jedenfalls keine verbindlichen. Denn es gab keine Journalisten, die diese Sachverhalte, die ja unangenehm kompliziert sind, genau recherchieren, aufbereiten, erklären konnten. Es gab Blogs und Volksreporter. Einige davon lagen, mehr oder weniger zufällig, richtig. Sie hatten irgendwo was aufgeschnappt, in anderen Blogs. Andere lagen so was von falsch.

Aber niemand konnte die Falschen von den Richtigen unterscheiden. Gerüchte flammten auf, die Regierung würde zum Beispiel die Goldschätze aus der Zentralbank ins Ausland bringen, alle Isländer müssten am nächsten Morgen auf dem Flughafen stehen und die Startbahn blockieren, dieser Aufruf machte die Runde. Es war eisiger Winter. Und die Regierung hatte nicht im Traum daran gedacht, irgendwelche Goldschätze in Milliardenhöhe ins Ausland zu bringen. Aber die Isländer machten sich in der Nacht auf, blockierten ebenso tapfer wie sinnlos anderthalb Tage die Startbahn, bis alle steifgefroren waren. Der Erfinder dieses Gerüchts, der Blogger, wer immer es war, hat eine Menge kalter Füße und Blasenentzündungen zu verantworten.

Der deutsche Blogger Alexander Svensson hatte Zweifel an der Geschichte, fand keine Belege dafür und schrieb das aufandere sprangen auf den Zug auf: Hat der SPIEGEL sich das alles bloß ausgedacht?

Ich war im Januar und Februar 2009 auf Island gewesen und hatte eine Geschichte recherchiert, die dann unter dem Namen „Das Crash-Labor“ erschien. Ich war vor allem in der Hauptstadt Reykjavík und tat den ganzen Tag nicht anderes, als mich mit unterschiedlichsten Isländern zu unterhalten. Thema war die chaotische Situation, in der Island in jenen Wochen versank, mit zum Teil gewalttätigen Demos vor dem Althinghus, dem Parlamentsgebäude.

Meine Gesprächspartner erzählten mir in großer Übereinstimmung, wie wichtig und gleichzeitig schwierig es sei, in dieser Krisensituation an stabile Informationen zu gelangen. Das Fehlen verlässlicher Quellen wurde als großes Manko erlebt. Da ich kein Isländisch spreche oder lese, kann ich die Qualität der traditionellen Medien, Zeitungen, Rundfunk, nicht beurteilen. Ich konnte aber, entsprechend meiner Rolle als Reporter, Fragen stellen. Und hörte überall: Das Vertrauen war verzweifelt gering. Tenor: Wir wissen zu wenig; was aus dem Netz kommt, ist zu oft widersprüchlich.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich von jenem Gerücht: Regierung und Banker wollten die Goldschätze außer Landes bringen, Startbahn oder Flughafen müssten blockiert werden. Ich nahm mir ein Taxi und fuhr zum Flughafen. Dort traf ich Isländer, die dort standen, weil sie verhindern wollten, dass die Regierung irgendwelche Schätze außer Landes fliegt. Sie waren da, um die Startbahn zu blockieren, sie standen vor dem Flughafen. Der Abend blieb mir in Erinnerung, denn die Leute schienen mir irgendwie typisch in ihrer gereizten Orientierungslosigkeit. Ich sprach mit einigen von ihnen, stand eine Weile frierend herum und fuhr dann wieder zurück ins Hotel. Dass sie ihr Vorhaben nicht umgesetzt haben, ist mir inzwischen klar geworden. Um so peinlicher, dass mir so ein Fehler in einem Text passiert, der sich mit der Genauigkeit von journalistischer Arbeit beschäftigt.

Gerade habe ich länger mit einem der isländischen Gesprächspartner von damals telefoniert, er hat mir bestätigt:

„Ja, ich weiß noch, damals kursierten solche Gerüchte im Netz, es hieß, die Verantwortlichen der Finanzkrise würden die Schätze des Landes in Koffern außer Landes fliegen, in Privatjets oder sonstwie, es gab Aufrufe, das zu verhindern. Das war, im Nachhinein, natürlich alles absurd, denn wer etwas außer Landes bringen wollte, der hatte das entweder längst erledigt, oder er konnte andere Wege finden. Aber es war eben eine aufgeputschte Situation, es waren hysterische Zeiten.“

Die Kolumne handelt eigentlich, wenn auch eher anekdotisch, von den medialen Gewohnheiten meines Sohnes Hans, 16. Sie handelt etwa von der, wie ich es sehe, durch das Netz und die sozialen Medien beförderte Neigung, sich schnell, aber oberflächlich zu empören, irgendwas zu liken oder eben jemanden als Lügner und Arschloch abzustempeln. Was machen die sozialen Medien mit der Generation der Jungen? Wie modelliert das Netz ihre Kommunikation, ihr Denken, Fühlen? Das ist, so habe ich es jedenfalls beabsichtigt, das eigentlich wichtige Thema der Kolumne. Ein Thema, zu dem wir übrigens am gestrigen Nachmittag mit ein paar Jugendlichen ein langes und spannendes SPIEGEL-Gespräch hatten. Es ist eine Debatte, auf die wir uns freuen.

Gestatten, Scheich Volker

Als die Schuhfachverkäuferin Sabine Preuß den ehemaligen Hilfsarbeiter Volker Eckel kennenlernte, da ahnte sie nichts von jenem Nummernkonto in der Schweiz. Sie wusste auch nichts von der Geschichte mit den 700 Milliarden Dollar, als sie ihn später auf dem Standesamt von Schramberg im Schwarzwald heiratete. Sie sah in ihm, so sagt sie es heute, einfach nur einen warmherzigen Mann, der „perfekt zu mir passte, wie vom Himmel gefallen“. Die Sache mit dem Mord kam erst später heraus, auch das Königshaus von Saudi-Arabien spielte damals noch keine Rolle in ihrem Leben.

Sabine Preuß sehnte sich nach einem Neuanfang. Sie hatte ihren Mann verloren, durch einen Herzinfarkt, sie war Anfang vierzig, hatte zwei Kinder aus ihrer ersten Ehe, Lissi und Manuel. „Mich gibt es nur im Dreierpack“, sagte sie damals zu ihm, als er sich nach ihrer Anzeige auf der Internetseite quick-markt.de gemeldet hatte, die sie bevorzugte, weil sie umsonst war. „Die Kleinen sind ein Teil von dir, ich liebe sie“, habe Volker ihr damals geantwortet.

Nun, drei Jahre später, sitzt Sabine Eckel auf einem Besucherstuhl in der mit Stahltüren gesicherten Wartezone der Justizvollzugsanstalt Freiburg im Breisgau. Es ist Mittagszeit, kurz vor eins. Gleich wird Sabine Eckel für zwei Stunden ihren Ehemann treffen, einen Mann, der der Welt Rätsel aufgibt, bis zum heutigen Tag, seinen Opfern, den Staatsanwälten, den Gefängnisdirektoren.

Im Gerichtssaal, während des Prozesses, hatte sie erfahren, dass Eckel mit einem Märchen durch die Schweiz gezogen war. Volker Eckels Mutter war angeblich Prinzessin Lolowah, der irakische Diktator Saddam Hussein war Eckels Vater. Fünf von sechs Prozesstagen hielt sie durch, dann wendete sie sich ab von Eckels Traumwelt. Sie hatte einen ihr fremden Mann vom Zuschauerraum des Gerichtssaals aus beobachtet, einen charmanten Verführer. Eckel hatte in der Schweiz Geschäftsleute und einfache Bürger um ihr Geld gebracht. Sie fielen auf ihn herein, auf Seine Königliche Hoheit Scheich Muhammed al-Gargawi.

Der Prozess fand vor dem Landgericht Rottweil statt; Eckel war in Deutschland verhaftet worden, die Schweizer Behörden überließen den Fall den deutschen Kollegen. Eckel wurde zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Inzwischen hat man ihn nach Freiburg verlegt.

Dort hat Sabine Eckel ihre Handtasche, ihr Handy, ihr Portemonnaie, das Kinderspielzeug und den Buggy in einem Schließfach der Anstalt verstaut, einen Metalldetektor passiert, sich nach Waffen durchsuchen lassen. Sie sind zu viert: Sabine Eckel, Lissi, Sara, die sie von Volker Eckel hat, außerdem die acht Monate alte Samira. Sabine Eckel war mit ihr gerade schwanger geworden, als man ihren Mann verhaftete.

Es ist ein Uhr mittags. Surrend klickt jetzt die Stahltür auf, die Besucher können hindurchgehen, sie betreten den eigentlichen Besucherraum. Sieben Tische. Drei Süßigkeiten- und Getränkeautomaten. Die Fenster sind vergittert. Eine verspiegelte Scheibe.

Volker Eckel wartet an einem der Tische, er strahlt, er zieht seine Kinder zu sich. Er küsst sie. Er lächelt seine Frau an. Er springt auf und holt Limonade für alle. Ein fleischiger Mann, groß, bleich, das Haar zu Stoppeln rasiert. Trainingsanzug, eine Nickelbrille. Man könnte ihn auf den ersten Blick für einen Lehrer halten, Sport und Erdkunde, aber das kann täuschen, wie so vieles im Leben des Volker Eckel.

Die Geschichte der Täuschungen, zumindest das letzte Kapitel, setzt an im Juni des Jahres 2008. Eckel hält sich in Zürich auf. Im Raum Stuttgart hat er sich in den zurückliegenden Jahren an verschiedenen Betrügereien versucht, Scheckkartenmissbrauch, vorgebliche Immobilienkäufe, Urkundenfälschung, gelegentlich hat er sich als Dr. med. ausgegeben. Hier und da ist er aufgeflogen, zur Fahndung ausgeschrieben.

In der Schweiz fühlt Eckel sich sicher. Vor allem ist er hingerissen von Zürich, dieser Banken- und Geldstadt. Eckel marschiert die glitzernde Bahnhofsstraße auf und ab, die, gesäumt von Boutiquen, zum See führt. Er steht vor dem Fünfsternesuperiorhotel Baur au Lac, erinnert er sich, und er glaubt das Geld, das alles durchdringt, durchpulst, fast fühlen zu können.

Diese Stadt will er erobern.

Er lässt sich teure Wohnungen zeigen, spielt den Interessierten, den Hochmütigen – aber das führt zu nichts. Wenn er Zürich erobern will, begreift er, muss er schon vorher jemand sein. Er muss sich verwandeln, wieder mal. Reich sein, Scheich sein, der Reim gefällt ihm irgendwie. Bei einer dieser Wohnungsbesichtigungen läuft ihm ein Immobilienmakler über den Weg, ein Mann namens Bührli(*), er stammt aus der Ostschweiz, aus dem Kanton Thurgau, und ist geschäftlich in Zürich. Auf so einen Mann, gierig und naiv, hat Eckel nur gewartet.

Man kommt ins Gespräch. Es sind anfangs nur Andeutungen, die Eckel macht: Er sei in Zürich inkognito. Er telefoniere später mit einem Halbbruder. Ja, mit seinem Halbbruder, der dem Ministerrat vorsitze. Wo? In Dubai. Ach so, der Halbbruder und er benötigten übrigens zwei bis drei Villen, bitte schnell, inschallah!

Die arabische Formel, so viel bedeutend wie „so Gott will“, benutzt Eckel gern und im Sinne von „He, geht’s nicht schneller?!“ Und tatsächlich hat der Makler es plötzlich sehr eilig, diesen Fremden für sich zu gewinnen.

Unter einem Vorwand lädt er Eckel in den Thurgau ein. Der Thurgau, die Ostschweiz, sei nur auf den ersten Blick Provinz. Tatsächlich gebe es hier sehr gute Investitionsangebote. Eckel tut so, als ließe er, zerstreuter Monarch aus dem Orient, sich alles nur so eben gefallen. Hauptsache, es geht schnell!

Weil Eckel über den Orient nichts weiß, muss er improvisieren. Das allerdings kann er, kann es von Kindheit an.

Volker Eckel wird am 8. Oktober 1965 geboren, in Tamm bei Stuttgart. Er ist das jüngste von fünf Kindern, der Vater ist Bauklempner, die Mutter Hausfrau. Als Volker elf Jahre alt ist, erleidet der Vater einen berufsbedingten Säureunfall und verliert nahezu sein Augenlicht. Die Mutter muss die Familie ernähren.

Volker Eckel erlebt sich keinen Augenblick als das geliebte Nesthäkchen. Geld ist bei den Eckels so knapp wie Zuneigung. Er verlässt die Sonderschule ohne Abschluss, jobbt als Hilfsarbeiter. Er ist 19 Jahre alt, als er endlich einen Ausweg entdeckt: sich zu verwandeln.

In der Nähe seines Heimatorts Tamm ist ein Mord begangen worden, Eckel hat davon in der Zeitung gelesen. Er geht zur Polizei und bezichtigt sich der Tat. Eckel wird festgenommen, monatelang verhört, und er genießt diese kostbare Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt.

Er ist bedeutend, als potentieller Mörder, es sei ein wunderbares Gefühl gewesen, sagt er.

Knapp ein Jahr seines Lebens verbringt Eckel in Untersuchungshaft, bis sich seine Unschuld erweist. Er darf oder muss das Gefängnis verlassen. Aber nach dieser Macht, über das Leben anderer zu richten, wird sich Volker Eckel von nun an sehnen. Er ist kein Mörder, wird es auch nie sein, dafür ist er zu friedfertig. Also wird er Hochstapler, Lügner.

In den folgenden Jahren wird Eckel sein Gespür für die Sehnsüchte anderer Menschen verfeinern, so wie man ein musikalisches Talent ausarbeitet. Sehnsüchte sind das Material für Eckel – als sei es seine Bestimmung, Menschen auszunutzen, ihr tiefes Bedürfnis, an etwas zu glauben, zu vertrauen.

Im November 2008, auf der nächtlichen Autofahrt von Zürich Richtung Osten, in den Thurgau, lässt sich Eckel von dem Makler Bührli scheinbar aushorchen, tatsächlich erweckt Eckel dessen Gier.

Der Makler erfährt, dass „Volker Eckel“ nicht der wahre Name dieses Mannes sei, es handle sich vielmehr um einen arabischen König, der in der Schweiz gigantische Investitionen tätigen wolle – Einkaufszentren, Fußballstadien, Wohnanlagen. Geld sei vorhanden, erfährt der Makler, es komme aus Dubai, Riad, Arabien. Für Bührli wird während dieser Autofahrt ein Märchen wahr, offenbar sitzt neben ihm der Abgesandte einer bisher unerreichbaren Welt.

Da es in dem Städtchen Müllheim keine Fünfsternehotels gibt, quartiert der Makler den kostbaren Kunden bei sich zu Hause ein. Die Familie des Maklers, anfangs verblüfft, wird auf strikte Freundlichkeit eingeschworen, eine Gastfreundschaft, die Eckel jedoch geschickt strapaziert.

Mit sicherem Instinkt weiß er, wie er sich benehmen muss, ungnädig, zerstreut, kurzum: königlich.

Eckel war nie ein Verstandesbetrüger. Für ihn war immer alles Gegenwart, Improvisation, er log stets aus dem Moment heraus. Er fürchtete deshalb auch nie, dass sein Plan irgendwann platzen könnte, denn es gab gar keinen Plan.

Alles, was Eckel wollte, war dieses Gefühl: bedeutend zu sein, mächtig. Selten bereitete er sich vor, lieber improvisierte er, spielte er, verlangte mal dies, wollte mal jenes, schließlich hat ein König ein Recht auf Reizbarkeit. Eckel machte sich nicht mal die Mühe, etwas Arabisch zu lernen oder sich den Unterschied zwischen Saudi-Arabien und Dubai einzuprägen. Aber diese Schwäche geriet ihm zur Stärke. Gerade weil er so undurchdacht agierte, fiel es seinen Opfern schwer, ihn zu durchschauen.

Im Besucherraum der JVA Freiburg berichtet Eckel seiner Frau Sabine, dass er Geld brauche. Er habe sich versehentlich auf seine Brille gesetzt, die neue Brille koste 120 Euro. Das Geld müsse Sabine Eckel dem Optiker R. in Freiburg überweisen. Sie zuckt zusammen, 120 Euro sind grässlich viel Geld. Aber sie fängt sich schnell. Sie wird den Optiker anrufen, vielleicht kann sie die Schulden in 20-Euro-Raten abstottern.

Aus ihrem Lohn als Verkäuferin hatte Sabine Eckel, bevor sie ihren jetzigen Mann traf, etwa 9500 Euro gespart, für schlechte Zeiten. Dieses Geld schmolz nach Eckels Festnahme und Verurteilung dahin. Am meisten kosteten die Anwälte, Eckel war anspruchsvoll. Sabine Eckel lebt jetzt von Hartz IV, mit diversen Zuschlägen hat sie 778 Euro im Monat, zum Verzweifeln wenig. Damit versorgt Sabine Eckel vier Kinder, zwei aus erster Ehe, zwei, die sie von Eckel hat, sie unterhält einen zwölf Jahre alten Peugeot 407, schickt ihrem Mann Briefmarken, damit er ihr täglich schreiben kann. Sie sagt, dass sie ihn noch immer liebe. Aber wird er sich ändern? Er beteuert es.

Damals, in der Schweiz, vor vier Jahren, sammelte Eckel ein Team um sich, und der Makler half ihm dabei. Sie casteten Geschäftsleute, Treuhänder, Juristen, gestandene Leute. Er wolle, erklärte Eckel geheimnistuerisch, hier eine Niederlassung der Dubai Holding gründen. Für Details sei es noch zu früh, höchste Verschwiegenheitsstufe sei Pflicht. Übrigens sei er König.

Seine angebliche Mutter, Prinzessin Lolowah, hat Eckel im Netz entdeckt, sein Beitrag besteht darin, ihr die Affäre mit Saddam Hussein anzudichten und sich als Sohn zu erfinden. Als Junge habe er mit den Saddam-Söhnen im Palast Fußball gespielt, schwadroniert er. Natürlich hätten sie als Kinder auch echte Waffen gehabt, schließlich war man bei Hofe. Und wer sich darüber wundere, beweise nur, dass er vom Hofleben nichts verstehe.

Plötzlich eine Palastintrige, Gift. Sein Leben sei in Gefahr gewesen. Die Mutter habe ihn vorsichtshalber nach Deutschland gebracht und bei einer Adoptivfamilie aufwachsen lassen, rund um die Uhr überwacht von Geheimdienstleuten, die man aber kaum bemerkt habe. Nur ab und zu ein Mann mit Hut in einer Eisdiele, das Funkgerät in einer zusammengerollten Zeitschrift versteckt.

Eckels Stab besteht Ende 2008 aus einem knappen Dutzend Leuten. Da ist der Versicherungsmakler Stähli, der seine Firma aufgibt, um 24 Stunden für den Scheich da zu sein. Da ist Claudia Ditz, Zweite Bürgermeisterin einer Kleinstadt, die sich als Privatsekretärin anheuern lässt. Da ist der Bauunternehmer Vogli, der Chauffeur wird. Der Treuhänder Massimo, der die Behördengänge erledigt.

Diese Männer und Frauen sind keine Idioten, sondern kluge, gestandene, zum Teil studierte Leute – dennoch benehmen sie sich idiotisch, sie verlieren ihren gesunden Menschenverstand, als hätten sie ihr Urteilsvermögen an der Garderobe abgegeben.

Einige von ihnen haben, unter Wahrung der Anonymität, mit dem SPIEGEL gesprochen. Zum Teil, sagen sie, habe sie die Geldgier getrieben. Aber nicht nur. Eckel schüttet ein Märchen über sie aus, und in dem kreuzbraven Leben, das sie führen, gibt es eine unerfüllte Sehnsucht – und Eckel spielt meisterhaft damit. So geraten sie in seinen Sog. Und irgendwann wollen, können sie ihren Traum nicht mehr loslassen.

Eckel ist der Briefkopf einer Schweizer Privatbank – Bankhaus Jungholz in St. Gallen – in die Hände gefallen, den er per Scan und Photoshop in eine Kontobestätigung verwandelt: 700 Milliarden Dollar seien angekommen, jederzeit abholbar, mit freundlichen Grüßen. Diese Bestätigung zückt er öfter mal, und wer immer das Papier mit der magischen Zahl, den elf Nullen, erblickt, der erschaudert.

Später lässt Eckel sich zu einem Notar chauffieren und gibt dort eine eidesstattliche Erklärung ab. Er erkläre die Bereitschaft, das Amt des Staatsoberhaupts von Saudi-Arabien zu übernehmen, im Einvernehmen mit Stiefbruder Ali Hussein und Mutter Miriam. Niemandem fällt auf, dass Eckels Mutter plötzlich Miriam heißt, nicht mehr Lolowah. Das Ganze wird mit notariellem Stempel beurkundet, und Eckel hat ein Papier mehr, das er zücken kann.

Eckel billigt seiner Sekretärin ein hübsches Gehalt von 76 923 Schweizer Franken im Monat zu, erhöht aber bald, weil er recht zufrieden mit ihr ist, auf monatlich 324 615 Franken. Der Chauffeur kriegt 61 538,45 Franken als Monatslohn in den Vertrag geschrieben, bei den höheren Angestellten geht das Gehalt in die Millionen – wohlgemerkt: monatlich. Als Dienstfahrzeug wird ein BMW 750 vorgemerkt, dunkelblau.

Eckel bezieht Büroräume in dem Ort Frauenfeld. Damit seine Leute auf die Orient-Missionen vorbereitet sind, müssen sie Knigge-Kurse absolvieren. Ein marokkanischer Benimm-Coach wird engagiert, im Konferenzraum erklärt er vor der eifrigen Truppe, wie das so läuft mit Prinzen und Scheichs. Eckel selbst nimmt an den Schulungen nicht teil, wozu auch?

Eckel schickt seine Leute zu Architekten, Bauunternehmern, Projektentwicklern, die Pläne in ihren Schubladen haben, Pläne für Wohnungen, Wellness-Anlagen, Einkaufszentren – denen aber noch der Investor fehlt. Ein Präsentationstermin wird vereinbart. Der geheimnisvolle Investor legt Wert darauf, höchstpersönlich zu kommen. Bei den ersten Terminen legt Eckel einen Kaftan an, ein weißes, knöchellanges Gewand, dazu ein Kopftuch, das von einem schwarzen Kopfring gehalten wird. Später wird er auf das Kostüm verzichten.

Eckel genießt vor allem das Spiel, das Hofiertwerden, den Auftritt. So lässt er sich bei diesen Anlässen in zerstreuter Herrscherlaune alle möglichen Projekte präsentieren, die mal 20 Millionen, mal 300 Millionen erfordern. Sodann erteilt er gnädig Zustimmung. Schließlich, meist tags darauf, schickt er einen seiner Untergebenen los, zu den Projektentwicklern, den Architekten, und die Botschaft ist stets dieselbe: Man erinnere an das Geschenk.

Bitte? Welches Geschenk?

Ja, ja, das sei arabische Sitte, heißt es, unumstößlich: Bevor der Scheich den Vertrag unterschreibe, verlange er ein Geschenk. Keinen Ferrari, kein Rennpferd, das besitze er alles schon, bloß einen symbolischen Geldbetrag wolle er. 10 000 Franken? Oder 200 000? Ohne Geschenk kein Geschäft.

Dies ist die Methode Eckel, sie funktioniert fast immer. Einige der Angesprochenen lehnen die arabische Erpressung zwar empört ab. Andere aber denken an den Auftrag und zahlen. Mal sind es 20 000 Schweizer Franken, mal 200 000, die hereinkommen, als Schenkung ordentlich verbucht.

So finanziert Eckel seine laufenden Ausgaben, etwa den Sex. Jeden Dienstag und Freitag beispielsweise, sobald die FKK-Nacht im „Westside“ in Frauenfeld beginnt, einem Club für bedürftige Herren, lädt Eckel seinen Hofstaat dorthin ein, die Sekretärin darf an solchen Abenden früher nach Hause. Der Eintritt kostet 90 Franken. Man bekommt einen weißen Bademantel ausgehändigt, eine Chipkarte, auf der Liebesdienste und Alkoholika gebucht werden. Eckel hält sich an Coca-Cola, die im Eintrittspreis inbegriffen ist. Die anderen probieren aus, wie es sein wird, wenn man dekadent ist; einer aus der Entourage besteht darauf, Champagner aus einem Stöckelschuh zu trinken. Weil es sich jedoch um einen Sauna-Club handelt und die vorwiegend aus Osteuropa stammenden Prostituierten ihre Dienste barfuß oder in Badelatschen versehen, muss erst ein geeigneter Schuh beschafft werden.

Eckel zahlt für die Ausflüge; die versprochenen Monatsgehälter muss er schuldig bleiben. Mal sei das Geld aus Dubai noch nicht eingetroffen, mal will Eckel ein allerletztes Telefonat mit seinem Stiefbruder führen, so windet er sich Monat um Monat heraus.

Aber warum lassen seine Leute sich hinhalten? Die Betrogenen verstehen sich heute selbst nur noch halb. Eine eigentümliche Aufbruchsstimmung habe sie erfasst. Sie waren Eingeweihte, sie wussten von einem großen Plan. Und irgendwann wollte man die Lüge nicht mehr loslassen, nicht mehr hergeben – im Tausch für eine trübe Wahrheit mit Reihenhaus, Vorgarten, Hypotheken.

Man hätte Eckel leicht überführen können. Die Bankbestätigungen waren primitiv gefälscht, aus Dubai, Bagdad und Saudi-Arabien machte Eckel ein einziges Karl-May-Gesamtkunstwerk – trotzdem glaubten ihm seine Leute. Sie glaubten ihm, weil seine Behauptungen so unglaublich waren.

Seine Lüge schien umso einleuchtender, je weiter sie von der Wirklichkeit entfernt war. Eine Halbwahrheit wäre angreifbarer gewesen. Doch Eckel, der darin mit seinen großen Kollegen durchaus mithalten konnte, mit Felix Krull, dem Hauptmann von Köpenick, dem lügnerischen Seher aus „Asterix“, entführte seine Truppe in eine Märchenwelt, in der er Herrscher und Schöpfer war. Er machte es wie Scheherazade: Sobald die Realität sich störend bemerkbar machte, spann Eckel sein Märchen weiter.

Im April 2009 summieren sich die gestundeten Gehälter auf etwa 25 Millionen Franken. Nichts davon ist je gezahlt worden. Die Stimmung hat sich zu diesem Zeitpunkt abgekühlt, verständlich. Eckel ist unter Druck, lange wird er das Spiel nicht mehr spielen können. Eilig organisiert er seinen letzten großen Coup: die Eroberung von Zürich.

Der Grasshopper Club Zürich ist der älteste, traditionsreichste Fußballverein der Stadt, 27facher Schweizer Rekordmeister, Günter Netzer und Stéphane Chapuisat spielten hier einst, Ottmar Hitzfeld war mal Trainer. Aber jedes Jahr muss der Hauptsponsor, ein Gartenbauunternehmer, ein paar Millionen Franken zuschießen. Neidisch blickt man zu Clubs wie Manchester City, Paris Saint-Germain, FC Chelsea, die von Oligarchen oder Scheichs mit Geld geflutet werden.

Volker Eckel schickt seine Leute vor. Er lässt fragen, ob man interessiert sei an einem Finanzier. Wie viel brauche man? 50 Millionen Franken? 60 Millionen? Ob man sich treffen wolle?

Am 20. April des Jahres 2009 ziehen Eckel und seine Entourage in das vornehmste Hotel von Zürich ein, ins Baur au Lac, das er am Anfang nur von außen bestaunen durfte. Eine Deluxe-Suite, drei Doppelzimmer, ein Doppelzimmer zur Einzelnutzung, die Rechnung auf den Club. Eckel erkundigt sich nach dem Rolls-Royce des Hotels. Am Abend wird eine Absichtserklärung unterzeichnet, über 100 Millionen Franken. Zuvor hat Eckel die Boulevardzeitung „Blick“ kontaktieren lassen, er will die Journalisten als Zeugen seines Ruhms. Die Reporter haben herausgefunden, dass die Geschichte vom Scheich stinkt; aber sie lassen die Grasshopper-Bosse, unter ihnen der Sportchef Erich Vogel, in die Falle laufen, um sie danach als Deppen präsentieren zu können.

Dann spielt das Grasshopper-Team gegen Vaduz, Eckel sitzt in der Ehrenloge, es ist sein Moment. Auf allen Fotos strahlt er, nie sah er glücklicher aus: Er ist am Ziel. Er hat die Welt überzeugt, er ist Scheich Muhammed.

In den folgenden Tagen wird die Geschichte in den Medien verbreitet, der Verein ist blamiert, Eckel enttarnt. Sein Imperium löst sich auf, jetzt geht es ganz schnell. Für seine Leute beginnt eine harte Zeit. Sie stehen als Trottel da. Zwei von ihnen erstatten Anzeige, die Polizei beginnt mit Ermittlungen. Wer war Mitwisser? Oder sogar beteiligt? Jeder ist zunächst verdächtig, manche verkriechen sich, manche denken an Selbstmord. Der finanzielle Schaden, den Eckel angerichtet hat, ist schwer zu beziffern. Wenn man alles addiert, das erschwindelte Geld, unbezahlte Rechnungen, versprochene Gehälter, so kommt man nach staatsanwaltlichen Schätzungen auf rund 40 Millionen Schweizer Franken.

Eckel, davon ungerührt, fährt nach Deutschland zurück, schreibt von dort aus, immer noch als König, eine letzte Mail, dann lernt er die Schuhverkäuferin Sabine Preuß kennen, heiratet sie. Am 7. September 2011 erlässt das Amtsgericht Rottweil Haftbefehl gegen ihn, im Mai 2012 folgt das Urteil 1 Kls 20 Js 13174/10. Da ist seine Frau bereits im zweiten Monat schwanger mit Samira.

Im Besuchsraum der JVA Freiburg sitzt jetzt ein Mann, der seiner Frau Sabine vom Neuanfang erzählt. Der berichtet, dass er seinen Hauptschulabschluss nachholen will, der ihr ausmalt, wie schön es eines Tages werden wird.

Herr Eckel, kennen Sie ein arabisches Wort?

„Oje.“ Er wischt sich die Stirn, überlegt lange, dann sagt er: „Inschallah! So in dem Sinn, dass alles arabischmäßig passt und gut wird.“

Herr Eckel, Sie sprachen aber niemals Arabisch, als Sie den Scheich spielten?

„Meine Leute haben mich manchmal darum gebeten. Eure Hoheit, sagen Sie doch mal was. Oder: Wie schreibt man meinen Namen auf Arabisch? Das hab ich immer abgelehnt. Bitte, ich war ja der König. Außerdem gab es Sicherheitsbedenken, in so einem Job ist man ja ständig bedroht, überall sind Terroristen und Entführer, oje.“

Seine Frau betrachtet ihn, müde und zärtlich. Es ist gleich drei Uhr, Ende der Besuchszeit.


 

(*) Die Namen der Opfer wurden von der Redaktion geändert.