50

Mit 50 Jahren trat ich ein in eine Lebensphase der Weisheit und Lässigkeit, jedenfalls behaupteten das meine Freunde. Zwar 50, aber glücklich, behaupteten sie, damit ließe sich leben, theoretisch.

Im wirklichen Leben gibt es allerdings Heimsuchungen. Der jüngste Anschlag gilt meinem Rasen, seit drei Monaten beherberge ich einen Maulwurf. Ich wollte nie einen Maulwurf, will ihn auch jetzt nicht; braucht vielleicht jemand einen Maulwurf?

Er ist fleißig – das immerhin. Wenn schon ein Schädling, dann wenigstens einen, der nicht trödelt. Jeden Morgen ein, zwei, drei neue Hügel. Letzte Zählung: 90 Löcher. 90! Ich denke manchmal, ich brauchte eine Art Maulwurfsflüsterer, à la Robert Redford, der vor dem Hügel niederkniet und wispert: Geh! Du bist unerwünscht! Schließlich ist ein Garten auch eine Metapher: für Gedeihen, für Schönheit. Und der Maulwurf? Symbolisiert er die Vergeblichkeit, ist er der Gevatter Tod im Gewand des Nagetiers? Kein schöner Gedanke, wenn man 50 wird. Ich muss, was das Thema angeht, lässiger werden.

Im vergangenen Jahr wurden viele unserer Freunde 50, meine Frau und ich gerieten in eine Flut von Einladungen und Feiern, Champagner wurde getrunken, Gesänge angestimmt, und so geht es auch in diesem Jahr weiter, denn wir sind die Babyboomer-Generation, werden auf breiter Front 50. Diese Feiern indes sind nicht entspannt und abgeklärt, eher spürt man einen Unterdruck, ein Knacken in den Ohren. Klar, 50, das ist nicht mehr die Vorspeise – eher ist man schon auf der Dessertkarte, man resümiert, man interpretiert. Der 50. Geburtstag trägt die Beweislast für das ganze Leben. Man feiert, wie man sich sieht oder gern sähe.

Besonders beliebt: das Geburtstagsfest als Zeichen des wilden Aufbegehrens. In der ersten Party-Halbzeit muss kolossal getrunken, im zweiten Teil exzessiv mitgesungen und getanzt werden, je wilder und verschwitzter, desto authentischer, bevorzugter Song: „Sympathy for the Devil“, Stones. Intendiertes Lebensgefühl: Whoo-hooo. Ganz anders die nächste Variante, das emblematische Fest: ruhig, hochpreisig. Man miete ein hippes Restaurant, lasse kartonierte Tischkarten aufstellen, acht Gänge auffahren, erlesene Gäste, geistvolle Ansprachen – man hat es geschafft, das ist der Sinn dieser Vorführung. Die Anekdoten beginnen mit „Neulich in Frankfurt in der Senator-Lounge …“ Es ist leicht, sich lustig zu machen; aber zumindest ist auch diese Variante ehrlicher als die Flucht.

Ich rede von jenen, die hastig nach Thailand fliegen, abtauchen, unsichtbar werden, eine Feier-Wall brauchen. Aber dieser Tag holt sie ein. Mein eigener Geburtstag war eine Variante dieser Flucht, es war der Versuch, zu feiern, ohne zu feiern. Gelang natürlich nicht.

Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass mein Geburtstag haarscharf neben Heiligabend liegt. Ich schaffte es, vier Schulfreunden ihre Zusagen abzutrotzen. Ich kaufte fünf Flaschen teuren Rotweins, kochte Tomatensuppe, hatte „auf ein Glas“ geladen, den Geburtstag erwähnte ich nur am Rande.

Der Abend war keine Katastrophe; und doch blieben wir uns fremd. Nur mit Justus (Mediziner) habe ich all die Jahre engen Kontakt gehalten; aber nicht mit Rüdiger (Bauingenieur); auch Henning, der früher Saxofon gespielt hat und jetzt Professor für irgendwas mit Pflanzen geworden ist, hatte ich aus den Augen verloren, ebenso Holger, der immer der Lustigste, Schrägste von uns war und jetzt einen Taxibetrieb oder eine Softwarefirma oder eine Musikproduktion betreibt. Fünf nicht mehr ganz junge Männer, die sich kurz nach dem Abitur zuletzt gesehen haben, sind fünf Männer, die sich nicht kennen. Manchmal an diesem Abend blitzte ein Bild von früher auf, plötzlich sah ich durch die Fassaden dieser gestandenen Männer hindurch und sah die Jungs von damals; aber ich behielt das für mich. Es war mir peinlich.

Warum ist es schwer, 50 zu werden? Wir, unsere Generation, sind schließlich die jüngsten, kaufkräftigsten, gesündesten Alten, die es je gab. Wir laufen Halbmarathon, besetzen die Jobs, und die Frauen haben kein einziges graues Haar, wunderbarerweise. Wer sind wir?

Wir hatten ein Leben im Wohlstand, wobei wir ein Gefühl der Unsicherheit nie loswurden. Wir haben Gewissheiten verloren, wir erlebten, wie Amerika sich veränderte, der Ostblock kollabierte. Wir erlebten Terror und Finanzkrisen, Scheidungen und Patchwork-Familien, aber wir drehten nicht durch. Wir waren unideologisch, individuell, flexibel. Irgendwie haben wir uns durchgegraben. Darum ist es so seltsam, 50 zu werden – weil wir gar nicht 50 werden. Weil wir die Zahl neu definieren.

So mache ich mir Mut, wenn ich im Garten das Desaster betrachte. Übrigens stehen Maulwürfe unter Artenschutz, man darf sie nicht töten, nur vergrämen , so nennt man das, ein schönes und betuliches Fachwort; und tatsächlich passt es zu der vollkommenen Sinnlosigkeit aller Vergrämungsmaßnahmen. Buttermilch, Diesel, Menschenhaare, Hundehaare, Hundekot – all dies stopfte ich dem Tier in seine Gänge, nachdem ich sie aufgebuddelt hatte. Ich hantierte mit Buttersäure, alles, nur den Maulwurf störte das nicht. Null. Die Wahrheit ist: Maulwürfe lassen sich nicht vergrämen . Sie machen ihr Ding. Wahrscheinlich haben sie viel Sex, sie sind noch keine 50.

Vielleicht besteht der Sinn des Lebens gar nicht in Weisheit und Abgeklärtheit. Vielleicht kann man den Sinn des Lebens nicht mal mit Worten ausdrücken, nur empfinden. Aber eines immerhin kann man von Maulwürfen lernen: Man lasse sich nicht vergrämen.