Apokalyptische Wiese

Henri ist, wenn es um schulische Themen geht, diskret: Er kommt vom Unterricht nach Hause, wir stellen eine Unmenge von Fragen, er antwortet im Telegrammstil. Er ist 14, unser Sohn.

Hey, Henri! Du bist ja schon da, wie war’s denn in der Schule, was hast du gelernt, wann schreibst du die nächste Arbeit, wie läuft es in Mathe, wie läuft es in Physik, Deutsch, Französisch? Erzähl doch mal!

„Läuft ganz okay, danke.“

Das klingt doch prima, erzähl doch mal mehr, wie kommst du mit den Lehrern zurecht?

„Ganz okay.“

Das ist der Ablauf. Nur neulich – da war es anders.

Neulich hatte Henri, kaum dass er in der Tür stand, eine Neuigkeit zu vermelden. Ein neuer Kunstlehrer sei an der Schule. Aber was für einer! Einer, der seine Bilder nicht male oder zeichne, mit Pinsel oder Stift, sondern schreie und singe. Er stelle sich vor die leere Leinwand und brülle, bis das Bild fertig sei, sozusagen. Er sei eben eindeutig Künstler, kein Kunstlehrer, und daraus mache er auch kein Geheimnis. Er nenne sich Herr „3Rooosen“, mit drei o und der Ziffer 3 davor. Und er verlange, genau so und nicht anders von den Schülern angesprochen zu werden.

Das waren mehr Informationen über einen einzigen Lehrer an einem einzigen Tag als sonst in einem ganzen Schuljahr. Zweierlei war offensichtlich: In der Rolle als Lehrer gastierte ein Quartalsirrer, und mein Sohn war stolz darauf.

Meine Frau und ich fanden die einschlägige Website und die YouTube-Links: Man sah einen korrekt gekleideten Mann mittleren Alters, offenbar in einer Galerie oder jedenfalls vor Zuschauern, man sah ihn zwölf Minuten und neun Sekunden lang vor einer leeren Leinwand gestikulieren, toben, grunzen, spucken, jaulen. Das Bild, das er produzierte, hieß: „Apokalyptische Blumenwiese“. Es klang so: „Der Himmel hängt soo schief / Vom Hooorizont kommt ein Zyklop und schmeißt mit Farben um sich! Waaa! Paff! Aaaah! Uuuh! Urrrrg!!“

Dabei sprang er, wahrscheinlich den Zyklopen darstellend, vor der leeren Leinwand auf und ab. Man konnte, wenn man wollte, seine Fantasie in Gang setzen und auf der (natürlich immer noch leeren) Leinwand ein wildes Gemälde imaginieren, ein Bild, das gleichsam im Kopf des Betrachters entstand, indem der Mann es schreiend beschrieb. Wenn man wollte.

Dies also war der Pädagoge, der unsere Kinder in das Zauberreich der Kunst einführen sollte, der ihnen die Vermeers, die Rothkos dieser Welt vorstellen würde? Der ihre Kreativität wecken sollte? Wen würde diese Schule als Nächsten einstellen? Eine Stripperin, die den Satz des Pythagoras tanzt?

Es gab andere, ebenfalls im Netz dokumentierte Aktionen des Herrn 3Rooosen, eine „Geschenkeverbrennung“ zur Weihnachtszeit vor einem Kaufhaus, mit einem kleinen Grill, und eine Aktion, auf der er mit Bildern spazieren ging. Man kann darin ein Potpourri aus Studentenulk und Dada sehen, man kann aber auch der Meinung sein, dass da jemand rumläuft, der offensichtlich durchdreht. Dieser Meinung war ich.

Sohn Henri, beim Abendbrot, sah das anders. Er berichtete, dass 3Rooosen gut ankomme in der Schule. Auf jeden Fall sei es mal was anderes. Sein älterer Bruder: Bei Kunstunterricht dürfe man nicht zu viel verlangen. Meine Frau fand, es sei immerhin eine Abwechslung. Und was für ein Kunstunterricht wäre denn meiner Meinung nach angemessen?

Sie hatten natürlich recht. Gibt es so etwas überhaupt: angemessenen Kunstunterricht? Für eine Klasse pubertierender Mädchen und Jungs, die eine Million andere Dinge im Kopf haben?

Die Kunst, der sie gegenüberstehen, ist eine befreite Kunst; sie haben Bekanntschaft gemacht mit Action-Painting, mit Happening, mit Fluxus und Land Art und Neuen Wilden. Irgendwo in diesem Meer, etwa in den Breitengraden von Performance und Fluxus, schwimmt Herr 3Rooosen umher, ein kleiner Fisch, aber munter. Ich rief ihn an, verabredete mich mit ihm, in meinen Eigenschaften als Vater und Journalist.

Ich erinnere mich an die Kunstlehrer meiner Schulzeit. Sie waren nett und lasch. Sie gönnten uns eine Auszeit, zwei Stunden zwischen Mathe und Latein. Wer ein Minimum an Eifer an den Tag legte, kriegte eine Eins, alle anderen eine Zwei. Vielleicht haben wir was verpasst.

Davon erzählte ich dem Bildersänger. Wir saßen im Chinarestaurant, aßen frittiertes Huhn, und Rosen (so nannte ich ihn, alles andere war mir zu blöd) trank ein alkoholfreies Bier. Was mich erstaunte. Ich dachte, wer Bilder singt, der kippt drei Pils und am Ende noch ein paar Schnäpse; aber nein, er erklärte, Alkohol schade seiner Kreativität, er rauche auch nicht, er lebe für seine Ideen.

Rosen ist 47 Jahre alt, Sohn eines Lehrerpaars, aufgewachsen in Kiel, Kunststudium in Hamburg, hier lebt er, schlägt sich als Künstler durch. Ab und zu übernimmt er Vertretungen an Schulen, eine halbe Stelle, befristet. Karg bezahlt, sagte er, wenn man bedenke, dass er jede Stunde minutiös vorbereite.

Ich glaubte ihm das. Und was er sagte über seine Auftritte, das klang zwar selbstverliebt und wenig überraschend – Sehgewohnheiten brechen, Leute zum Nachdenken bringen, solche Dinge. Aber er meinte es ernst. Am Ende des Abends war ich zwar kein Fan des Bildersängers, aber auch nicht mehr sein Feind.

Zumindest werden sich die Schüler an diesen Lehrer erinnern. Zumindest hat er sie aus ihrem Phlegma aufgescheucht.

Henri, unser Sohn, kam unlängst heim und erzählte, bei Herrn 3Rooosen seien sie jetzt dabei, mit Deorollern ein Bild zu malen. Gut, sagte ich.