„Ich bin total verantwortungslos“

Mit nur 52 Minuten Verspätung, und das ist für ihn nicht viel, betritt Karl Lagerfeld die Räume in der Rue de Lille N° 7 in Saint-Germain, Paris.

Das Haus aus dem 19. Jahrhundert hat er nach seinen Vorstellungen umbauen lassen, vorn ein Buchladen, klein und exquisit, von dort geht es durch eine Schiebetür in zwei große Besprechungsräume. Hohe Decken, klares Licht, jeweils ein großer, quadratischer Tisch. Vasen mit weißen Gladiolen. Stapel von Kunstbüchern, Fotobüchern, Gedichtbänden. Gerahmte Fotos, großformatig, lehnen an den Wänden. Hinter den beiden Konferenzräumen liegt Lagerfelds Fotostudio, so hoch wie ein Hallenbad, an den Wänden Bücherregale. Lagerfeld hat einen etwas trippelnden Gang, er redet sehr schnell, Französisch, Deutsch, Englisch durcheinander. Es ist, als wäre eine Comicfigur zum Leben erwacht – die weißen Haare, der Gehrock, die Sonnenbrille: Karl Lagerfeld, 81 Jahre alt. Er ist der wohl mächtigste Modedesigner unserer Zeit, seit über 30 Jahren entwirft er für Chanel, außerdem für Fendi und für seine eigene Lagerfeld-Linie. Nebenbei ist er Fotograf und seit einiger Zeit auch Verleger. Seine Assistenten, darunter viele junge, muskulöse Männer in T-Shirt und mit grauer Wollmütze, rücken Stühle, räumen Bücherstapel weg und stellen für ihren Chef ein Glas Diet Coke bereit. Die Pressesprecherin achtet darauf, wer rechts von Lagerfeld sitzt, links hört er nicht mehr so gut. Das Gespräch wird fast zwei Stunden dauern, während dieser Zeit nimmt Lagerfeld seine Sonnenbrille nur einmal kurz ab.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, dürfen wir fragen, was Sie heute tragen?

Lagerfeld: Das wollen Sie wirklich wissen? Na gut, einen Gehrock, wie man früher sagte, von Dior. Einen Schlips und ein Hemd von Hilditch & Key, das Hemd mit einem Kragen frei nach Harry Kessler, wie man ihn um 1912 trug. Dazu Halsketten von einem jungen Schmuckdesigner, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Eine Brosche aus den Dreißigerjahren von Suzanne Belperron, Wildlederjeans von Dior und passende Wildlederschuhe von Massaro. Das wär’s.

SPIEGEL: Warum kleiden Sie sich immer gleich, ist das eine Art Uniform für Sie?

Lagerfeld: Sie nehmen das vielleicht nicht so wahr, aber es sieht schon immer sehr unterschiedlich aus. Die Uniform, die ist nicht das ganze Jahr über feldgrün. Und außerdem: Das gehört dazu. Herrgott, ich lebe in der Welt der Mode. Und ich habe etwas gegen schlampige Leute. Es hat auch etwas mit Disziplin zu tun, sich um das Äußere zu kümmern.

SPIEGEL: Sie könnten es aber auch wie Giorgio Armani halten und ständig Jeans mit schwarzem T-Shirt anziehen.

Lagerfeld: Ja, aber es gibt Momente im Leben, in denen das schwarze T-Shirt, womöglich auch noch ärmellos, einfach nicht mehr angebracht ist.

SPIEGEL: Seit über 60 Jahren entwerfen Sie Mode, seit 1965 für Fendi, seit 1983 für Chanel. Die Bundeskunsthalle in Bonn widmet Ihrem bisherigen Werk gerade eine große Ausstellung. Rührt Sie das?

Lagerfeld: Ich habe mir das gar nicht erst angesehen. Meine Mitarbeiter wollten unbedingt, dass ich nach Bonn fahre. Aber ich wollte das nicht. Auf keinen Fall! Ich bin gegen dieses ewige Feiern. Man feiert sich gegenseitig, man feiert sich selbst. Ist okay für die anderen, mal zu sehen, was ich so gemacht habe. Aber ich will das Zeug nicht wiedersehen – ich muss mich darum kümmern, was ich morgen mache.

SPIEGEL: Hört sich an, als ob Sie ein interessantes Verhältnis zur Vergangenheit hätten. Angeblich bewahren Sie auch nichts von Ihren alten Zeichnungen und Entwürfen auf. Warum?

Lagerfeld: Alle Kollegen, die sich in ihrer Vergangenheit und in ihren Kreationen geräkelt haben wie in einem ungemachten Bett, haben danach nichts Neues mehr zustande gebracht. Ich halte das für gefährlich. Es gibt dieses jüdische Sprichwort: Keinen Kredit auf die Vergangenheit. Danach lebe ich. Ich habe immer das Gefühl: Ich bin faul. Ich könnte mehr machen. Ich könnte besser werden. Es ist, als ob ich eine Glaswand vor mir hätte, die ich noch durchbrechen muss.

SPIEGEL: Was genau treibt Sie?

Lagerfeld: Ich lebe in einem permanenten Zustand der Unzufriedenheit mit mir selbst. Ich weiß, ich habe Arbeitsbedingungen wie kaum ein anderer Mensch. Aber ich bin nie mit mir zufrieden.

SPIEGEL: Andere Menschen sind auch ehrgeizig.

Lagerfeld: Ehrgeiz habe ich überhaupt nicht. Ich weiß gar nicht, was das ist. Ich mach das alles nur für mich. Ich bin für radikalen Wandel, man muss sich immer wieder selbst erneuern, einen neuen Rahmen schaffen, sich von Dingen trennen.

SPIEGEL: Okay, wir haben verstanden, Sie leben in der Gegenwart, wahrscheinlich noch lieber in der Zukunft?

Lagerfeld: Mein Zitatenschatz ist limitiert, aber Goethe hat einmal gesagt, was er sich wünsche, sei eine bessere Zukunft mit den erweiterten Elementen der Vergangenheit. Und dann habe ich noch eine Devise, ich zeichne ja noch, was die meisten anderen Modemacher gar nicht mehr können. Ich bin ja eigentlich Illustrator. Also, jedenfalls: Ich zeichne viel. Und ich habe riesige Papierkörbe. Denn das meiste wandert in den Papierkorb, 99 Prozent! Aber was übrig bleibt, wird auch genau so umgesetzt. Es wird gemacht, wie von mir entworfen. Ich sitze da nicht und fummle hundert Stunden rum! Ich habe das Glück, dass ich mir Entwürfe in drei Dimensionen vorstellen kann. Bei der ersten Anprobe ist das schon beinahe perfekt. Andere haben zehn Zeichner, die für sie am Computer zeichnen. Dann wird das diskutiert, stundenlang besprochen: Oh, ist der Knopf da richtig? Fürchterlich.

SPIEGEL: Sie entscheiden alles allein und beschleunigen so die Abläufe?

Lagerfeld: Absolut. Sonst könnte ich gar nicht so viel machen. Allein für Chanel sind es im Jahr acht Kollektionen, für Fendi vier. Und da spreche ich noch nicht von der Lagerfeld-Linie. Es gibt einen Satz der amerikanischen Interieurdesignerin Lady Mendl, sie wurde von einem Auftraggeber gefragt, ob sie nicht eine zweite Idee habe. Sie hat geantwortet: „No second option.“ Der Besitzer von Chanel hat über meine Studiotür schreiben lassen: „Kreativität ist nicht demokratisch.“

SPIEGEL: Sie machen keine Meetings, der kreative Part Ihrer Arbeit findet nicht im Team statt. Würden Sie sich als Egoisten bezeichnen?

Lagerfeld: Vielleicht. Aber von meinen Egoismen leben viele Leute. Wenn ich nicht ungestört arbeiten kann, kommt da nichts raus. Ich liebe es, allein zu sein. Ich bin derart egoistisch, dass ich auf andere keine Rücksicht nehmen kann. Darum habe ich auch nie eine Familie gewollt. Wäre ich als Frau geboren, hätte ich vielleicht zwölf Kinder gehabt. So wie ich arbeite, könnte ich mich nicht aber auch noch um die Ferien der Kinder kümmern oder so was. So ist es, ich kann kein anderer Mensch werden als der, der ich bin, mich keinem sozialen oder familiären Vorbild anpassen, das mir nicht entspricht.

SPIEGEL: Wie würden Sie den Egoisten Lagerfeld beschreiben?

Lagerfeld: Zum Glück muss ich den nicht beschreiben, das wäre so negativ, dass Sie es nicht veröffentlichen würden. Im Ernst: Was ich über mich denke, da gibt es Tage, da ist es okay. Und dann gibt es Tage, an denen es äußerst negativ ist! Aber ich kann über mich lachen. Im Grunde kann ich mich über mich selbst totlachen.

SPIEGEL: Von außen besehen haben Sie sich um sich herum ein kleines Paradies gebaut. Sie besitzen schöne Häuser, umgeben sich mit schönen Dingen, reisen mit schönen, jungen Menschen, die Sie einladen. Wie viel Realität lassen Sie in diesem Leben noch zu?

Lagerfeld: Wenig. Sehr wenig. Ich gehe ja nicht mal mehr auf die Straße.

SPIEGEL: Warum nicht? Vor 15 Jahren haben Sie noch mit einer kleinen Kamera stundenlang Streifzüge durch Paris unternommen.

Lagerfeld: Es geht nicht mehr, weil die Leute mich verfolgen mit ihren Handys und Kameras. Ich habe es erreicht, dass meine karikaturale Silhouette auf der ganzen Welt bekannt ist. Ich hab es also in Paris nicht nur mit Deutschen oder Franzosen zu tun, sondern auch mit Amerikanern und Japanern, jeder ist hinter mir her, es ist absolut lächerlich. Jeder will ein Selfie. Aber ich habe keine Lust, auf Fotos mit Leuten zu sein, die ich nicht kenne.

SPIEGEL: Fehlt Ihnen die Begegnung mit der Realität?

Lagerfeld: Nein. Die Idee der Realität ist stimulierender als die wirkliche Realität. Mein Leben besteht daraus, Realität zu idealisieren, zu verschönern, zu verklären. Im Beruf und für mich. Mein Leben ist nicht die Begegnung mit der echten Wirklichkeit. Neulich war ich in dem Laden, wo ich meine Bilder rahmen lasse. Da bin ich ausnahmsweise mal ganz allein hingegangen und hatte mir vorher eine dicke Mütze aufgesetzt. Dann stand aber gleich so ein Kerl neben mir und sagte: „Alors, Monsieur Lagerfeld, fangen wir jetzt an, uns zu verkleiden?“

SPIEGEL: Wie informieren Sie sich über das, was in der Welt geschieht?

Lagerfeld: Ich lese sehr viel – französische, englische, deutsche Zeitungen, den SPIEGEL, die „Bunte“, die „New York Times“, „Libération“, englische Zeitungen, das lese ich früh am Morgen, da hab ich sonst keine Rendezvous, da will ich auch nicht nach der Uhr sehen. Darum verspäte ich mich immer.

SPIEGEL: Und lesen Sie alles gleichermaßen – Feuilleton, Politik, Wirtschaft?

Lagerfeld: Alles. Ich habe keinerlei Interesse an intellektuellen Diskussionen, aber ich liebe es, meinen Kopf mit Wissen vollzustopfen.

SPIEGEL: Dann müssten Sie ja den Eindruck teilen, dass einem da draußen die Welt gerade um die Ohren fliegt.

Lagerfeld: Das kann man wohl sagen!

SPIEGEL: Der Vormarsch des „Islamischen Staates“, der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlinge im Mittelmeer – beschäftigt Sie das? Sie haben drei Wochen nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ im Pariser Grand Palais eine sehr verträumte Modenschau gezeigt – mit floralen Motiven, unschuldig und märchenhaft schön.

Lagerfeld: Wir verkaufen Träume, keine Realität. Soll ich ein Defilee mit Bombenanschlägen machen? Diese Show war wie ein Bilderbuch für Kinder, inmitten der grauenvollen Zeit, in der wir leben.

SPIEGEL: Taugt Mode als Modell für Eskapismus?

Lagerfeld: Ich bin der lebende Beweis dafür. Und ich bekomme trotzdem mit, was passiert. Ich kannte ja die Leute von „Charlie Hebdo“, ich liebe Karikaturen, ich habe die Zeitung immer gekauft. Und natürlich hat mich schockiert, was da geschehen ist. Die Qualität hing ganz und gar von jenen ab, die getötet wurden. Jetzt ist es nur noch in Eile hingekritzelter Hass. Aber: The beat goes on. Ich hab auch nach dem 11. September ganz normal weitergemacht.

SPIEGEL: Sind Sie selbst ein ängstlicher Mensch?

Lagerfeld: Nein, ich bin Fatalist, eindeutig, für mich selbst und die anderen.

SPIEGEL: Beschäftigt Sie, was die Attentäter umtrieb, hätten Sie sie danach fragen wollen?

Lagerfeld: Nein. Ich hätte mich auch mit Hitlers Leuten nicht unterhalten wollen. Mit Fanatikern soll man seine Zeit nicht verlieren. Wissen Sie, ich habe da eine ganz persönliche Erfahrung, ich habe ein Landhaus und dort einen Hauswart. Sein Vater ist Marokkaner, der Sohn ist hier geboren, französischer geht es nicht. Ich kenne den ewig. Lustig, aufgeschlossen, wahnsinnig netter Kerl. Und in den vergangenen fünf Jahren verändert sich was, plötzlich trägt die Frau eine Burka. Das sind die nettesten Leute der Welt. Und plötzlich das!

SPIEGEL: Und haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Lagerfeld: Ja. Ich habe ihm verboten, für seine radikalen Belange zu werben. Das musste ich tun. Er gab meinen Freunden auf einmal Bücher zu lesen und so. Und er gibt keiner Frau mehr die Hand. Wenn wir kommen, geht das Fenster zu, damit man seine Ehefrau nicht sieht. Sie wagt sich nur morgens um fünf Uhr raus, wenn niemand sie sieht. Aber ich diskutiere nicht mit ihm. Ich würde auch nicht mit fanatischen Katholiken oder sonstigen hysterischen Gläubigen diskutieren. Ich selbst gehöre keiner Kirche an. Meine Eltern sind ausgetreten. Meine Großeltern väterlicherseits waren Protestanten, die fanatische Katholiken geworden sind. Völlig hysterisch. Grauenhaft!

SPIEGEL: Ihr Vater Otto Lagerfeld war Unternehmer, Fabrikant der Kondensmilchmarke Glücksklee. Warum wollten Sie eigentlich nie eine eigene Firma haben?

Lagerfeld: Weil ich total verantwortungslos bin!

SPIEGEL: Das glauben wir nicht.

Lagerfeld: Das glauben Sie vielleicht nicht, aber ich weiß es. Deshalb wollte ich auch nie eine Familie. Ich will nur für meine Arbeit verantwortlich sein. Die moralische Verantwortung für Angestellte, die will ich nicht. Wenn Sie ein einfaches Mittel wissen wollen, wie man seine Freiheit verlieren kann: Schaffen Sie sich eine Firma an. Ich tu mir das nicht an. Keine Realität! Lieber lebe ich in meiner idealisierten Welt.

SPIEGEL: Sie wollten lieber ein Leben lang Angestellter bleiben?

Lagerfeld: Ich bin kein Angestellter. Ich bin frei. Ich kann meinen Interessen frönen: alles zu wissen, mich für alles zu interessieren, überall meine Nase reinzustecken. Aber bitte keine Verantwortung!

SPIEGEL: Jemand, der so viel Einfluss hat wie Sie, könnte zum Beispiel auch eine Stiftung gründen, um Gutes zu tun.

Lagerfeld: Da hab ich keine Zeit für! Wenn Sie so viele Kollektionen machen müssen wie ich, geht das einfach nicht. Sie haben ja keine Ahnung, welchen Rhythmen ich gehorchen muss! Diese Verpflichtungen erfülle ich punktgenau. Mehr geht nicht.

SPIEGEL: Vielleicht haben Sie auch einfach keine Lust, Gutes zu tun?

Lagerfeld: Solche humanitären Sachen, dafür bin ich nicht begabt, das würde opportunistisch wirken. Und ich habe noch dazu diese grauenhafte Angewohnheit, die Dinge schnell sattzuhaben. Immerhin unterhalte ich diesen Buchladen. Und meine eigene Sammlung von Büchern, 300 000 Bücher. Ein kleiner Teil nur ist hier, etwa 70 000. Der Rest ist in meinen anderen Häusern, in Südfrankreich, überall. Ich bin gut zu Büchern, ich liebe Bücher.

SPIEGEL: Sie könnten auch gut zu Menschen sein.

Lagerfeld: Ich bin dafür nicht gemacht, es ist einfach so, wie es ist. Aber so ein schlechter Mensch bin ich ja hoffentlich auch nicht.

SPIEGEL: Es heißt, Sie spenden sehr viel.

Lagerfeld: Das braucht niemand zu wissen.

SPIEGEL: Aber stimmt es?

Lagerfeld: Ich sollte jetzt Nein sagen, aber: Ja. Wissen Sie, ich bin in Wahrheit großzügig. Ich hab ein großes Herz, das bekenne ich. Aber ich denke, man soll großzügig sein und es nicht an die große Glocke hängen. Ist auch Erziehungssache. Als ich aufwuchs, da gab es viel Armut in Deutschland. Aber als Kind durfte ich Bettlern nichts geben. Ich musste es jemandem geben, der es dem Bettler gab. Es war nicht erlaubt, dass daraus eine Befriedigung für mich heraussprang.

SPIEGEL: Ihre Mutter soll zu Ihnen gesagt haben: „Die Welt, Karl, muss dir egal sein, dann hast du auch Erfolg.“

Lagerfeld: Das hat sie gesagt, so hat sie mich erzogen. Und im Grunde hatte sie recht.

SPIEGEL: Ihnen ist die Welt egal?

Lagerfeld: Mehr oder weniger. Aber man kann Verantwortung ablehnen und sich trotzdem zivilisiert benehmen und ein gutes Herz haben. Mein Leben ist ganz normal und banal – für mich. Aber ich weiß, für die anderen ist es weder normal noch banal. Für sie lebe ich in einer falschen Realität. Doch für mich ist es die richtige.

SPIEGEL: Ist das ein Plädoyer für ein hedonistisches Leben?

Lagerfeld: Ja, im Grunde haben Sie recht. Aber das ist mir schon wieder zu ausgedacht. Zu formuliert. Ich lebe so, wie es für mich richtig ist.

SPIEGEL: Wie sieht das im Alltag aus?

Lagerfeld: Ich stehe gegen acht Uhr auf, frühstücke, aber sehr wenig, lese Zeitungen. Dann fange ich an zu arbeiten, bei mir zu Hause, nie im Studio, dort könnte ich nie arbeiten. Da kommen die Mädchen von der Presse, da wird telefoniert, geklönt, Kaffee gekocht. Das Mittagessen wird mir dann gebracht. In dem Haus, wo ich wohne und zeichne, da will ich niemanden, der da kocht, da will ich kein Personal um mich haben.

SPIEGEL: Wie groß ist der Apparat um Sie herum?

Lagerfeld: Der Apparat! Kleiner, als Sie denken. Ich sehe nur den engsten Zirkel. Die müssen es dann weitergeben. Ich habe zwar mehrere Studios, aber niemand entwirft da – nur ich.

SPIEGEL: Und wie geht das vor sich?

Lagerfeld: Ich mache meine Zeichnungen zu Hause, dann gebe ich sie an die Studios weiter, schicke das nach Italien, oder die Leute kommen zu mir, und ich erkläre ihnen die Zeichnungen – das, das und das, wenn ich dann ins Studio komme, ist schon alles fertig.

SPIEGEL: Würden Sie sich selbst als Künstler bezeichnen?

Lagerfeld: Nein, das ist angewandte Kunst. Kunst, die Gewänder macht. Coco Chanel oder Balenciaga, die hielten sich auch nicht für Künstler, obwohl sie alles selbst entwarfen. Die waren nur stolz, dass die Damen der Gesellschaft ihre Kleider trugen. Ich bin kein Künstler.

SPIEGEL: Glauben Sie, diese Haltung hat zu Ihrem Erfolg beigetragen?

Lagerfeld: Natürlich, weil ich total bodenständig bin. Weil ich mir über mich selbst keine Illusionen erlaube.

SPIEGEL: Es heißt, Ihnen wird schnell langweilig.

Lagerfeld: Das ist das wahre Drama meines Lebens.

SPIEGEL: Ist Ihnen jetzt auch langweilig – bei diesem Gespräch?

Lagerfeld: Nein, Sie sind ja zu dritt gekommen, da muss ich schon aufpassen. Sie können weitermachen.

SPIEGEL: Danke. Sie sind gebildet, belesen, Sie wirken wie ein Mensch aus einem anderen Jahrhundert, der auf die Welt mit fast freundlicher Verachtung blickt.

Lagerfeld: Nein, nein, das stimmt nicht! Ich verstehe, dass nicht jeder gebildet sein kann. Ich komme gut mit total unkultivierten Menschen aus, wenn die keine Chance hatten. Was ich hasse: Leute, die jede Möglichkeit zu Wissen, Bildung, Kultur hatten und sich schlecht benehmen! Weil die faul sind. Aber mit Arbeiterinnen kann ich sehr wohl umgehen, ich habe da kein Problem. Und ich werde von ihnen mit Vornamen angesprochen. Der Fahrer, der Hausmeister, die Näherin – keiner sagt zu mir „Monsieur“. Ich bin für alle Karl.

SPIEGEL: Auf der einen Seite haben Sie diese beeindruckende Sammlung an Büchern, auf der anderen interessieren Sie sich für alle neuen digitalen Produkte, müssen jedes neue Gadget sofort haben.

Lagerfeld: Absolut, aber das ist ja kein Widerspruch. Sonst wäre ich nur ein staubiger Privatgelehrter. Schauen Sie hier, meine Uhr, ich habe die erste iWatch in Gold. Die haben weltweit nur drei Menschen: die Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, Anna Wintour, Beyoncé und ich.

SPIEGEL: Warum wollten Sie die unbedingt haben?

Lagerfeld: Weil sie neu ist.

SPIEGEL: Wie viele iPods besitzen Sie?

Lagerfeld: Viele. Sehr viele. Weil ich Musik auswähle, die ich auf die iPods spiele und dann verschenke. Ich mache gern Geschenke. Von den iWatches habe ich mindestens 40 Stück gekauft und meinen Mitarbeitern geschenkt, natürlich nicht in der Goldausführung. Ich hätte es sonst grauenhaft gefunden. Ich habe eine und sie nicht. Das wäre ja fürchterlich!

SPIEGEL: Reden wir über die Inszenierung der Person Karl Lagerfeld.

Lagerfeld: Das ist keine Inszenierung, das ist eine ganz normale Entwicklung, bei der das Resultat vielleicht ein wenig seltsam ist.

SPIEGEL: Ihre Katze Choupette hat zwei Zofen, einen Leibkoch, ein iPad und kann zu den Mahlzeiten zwischen verschiedenen Menüs wählen – ist das auch Teil einer normalen Entwicklung?

Lagerfeld: Ich habe das Talent, Leute bekannt zu machen, und das gilt eben auch für Tiere – in diesem Fall für Katzen. Choupette ist die berühmteste Katze der Welt! Sie hat über 48 000 Follower auf Twitter. Neulich stand in einer französischen Zeitung, dass die Leser schockiert seien, weil Choupette so viel Geld kostet in ihrem Unterhalt. Da hab ich der Chefredakteurin geschrieben, ihre Leser seien nur neidisch. Denn Choupette fragt ja nach nichts, das feine Essen, ihr Leben – das wird ihr angeboten. Außerdem hat Choupette mit Werbung für Autos und für den japanischen Kosmetikkonzern Shu Uemura einen tollen Umsatz gemacht! Wir leben in einer Welt, wo eine Katze mehr Umsatz machen kann als jemand, der hart in einer Fabrik arbeitet. Das ist vielleicht ungerecht, aber dafür kann ich nichts.

SPIEGEL: Choupette hat auch eine maßgeschneiderte eigene Louis-Vuitton-Katzenreisetasche.

Lagerfeld: Nicht von mir, es ist ein Geschenk des Louis-Vuitton-Chefs Bernard Arnault.

SPIEGEL: Worin besteht für Sie Dekadenz?

Lagerfeld: Das ist eine Vokabel, die ich aus meinem Wortschatz rausgenommen habe. Ich bin total undekadent.

SPIEGEL: Aber Sie verstehen, dass Leute das Leben von Choupette unmöglich finden?

Lagerfeld: Ja, das verstehe ich, aber so ist die Welt, sie ist disproportioniert.

SPIEGEL: Und Sie haben kein komisches Gefühl dabei?

Lagerfeld: Nein, ich habe gar kein Gefühl dabei, ich bin da total gewissenlos.

SPIEGEL: Hätte der Karl Lagerfeld von vor 40 Jahren dieses Leben seltsam gefunden?

Lagerfeld: Das kann man nicht vergleichen, damals gab es kein Instagram, kein Twitter. Vergleichen Sie niemals frühere Zeiten mit heutigen Zeiten. Man kann sich von der Belle Époque inspirieren lassen, aber man muss auch immer dran denken: Damals war es tausendmal schlimmer als heute. Die Belle Époque, das waren nicht nur Luxusnutten in Paris.

SPIEGEL: Sie leben völlig im Einklang mit der jetzigen Zeit?

Lagerfeld: Ich finde es heute besser als früher, ich schaue nie bedauernd zurück.

SPIEGEL: Gilt das auch für die Mode, dieses Geschäft, das global, schnell, eklektizistisch geworden ist?

Lagerfeld: Wir sind keine Richter über Gut und Böse. Ich jedenfalls nicht. Wir müssen damit fertigwerden, was die Zeit uns vorschlägt. Sobald Sie anfangen, nicht in die Zeit zu passen, sind Sie dépassé, nicht die Zeit an sich ist schlecht.

SPIEGEL: Aber man hat trotzdem eine Meinung, eine Haltung zu den Dingen.

Lagerfeld: Nein. Ich passe mich an, hemmungslos. Und rücksichtslos, was meine eigene Sentimentalität eventuell anbetrifft.

SPIEGEL: Verkneifen Sie sich Ihre Meinung?

Lagerfeld: Verkneifen – grauenhaftes Wort! Lange nicht gehört.

SPIEGEL: Entschuldigung.

Lagerfeld: Nein, ist schon gut – und ich verkneife mir nichts, ich lege meine eigene Meinung einfach beiseite, dafür bin ich zu sehr Opportunist!

SPIEGEL: Die Chinesinnen und Japanerinnen – alle wollen jetzt gleich aussehen, wie Europäerinnen. Schade?

Lagerfeld: Schade, schade, schade! Nein, nochmals: Ich bin nicht der Richter über richtig und falsch. Außerdem, wir hatten hier Moderichtungen, die waren vom Kimono inspiriert, wir hatten marokkanische, arabische Einflüsse, alles inspiriert alles.

SPIEGEL: Mode wird immer schneller, viele Teile der sogenannten Fast Fashion werden durchschnittlich nur noch fünf Wochen lang getragen. Ist das bedauernswert?

Lagerfeld: Sie dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen davon leben. Die Leute wollen das Thema moralisch aufladen, aber Sie dürfen den schlichten ökonomischen Aspekt nicht vergessen. Je schneller die Leute ihre Kleider wegwerfen, desto eher kaufen sie neue – so dreht das Rad sich eben. Ich gebe ja zu: Aufs Ganze gesehen, ist das vielleicht nicht gesund, aber kurzfristig belebt die Mode die Textilwirtschaft. Sie müssten dann das ganze System ändern, den Kapitalismus abschaffen. Aber so ist die Realität nun mal nicht.

SPIEGEL: Sie kommen langsam in ein Alter, in dem man sich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt. Tun Sie das?

Lagerfeld: Oh, nein, nein, ich bin unsterblich! Im Ernst: Man soll diese Beschäftigung mit dem Altern und dem Tod nicht übertreiben. Warum soll ich mir darüber graue Haare wachsen lassen?

SPIEGEL: Vielleicht weil man sich fragt, was hinterlasse ich, was ist mein Vermächtnis?

Lagerfeld: Nein. Es ist für mich ganz simpel: Mein Leben fängt mit mir an, hört mit mir auf.

SPIEGEL: Haben Sie ein Testament?

Lagerfeld: Ja, aber das ändere ich ständig. Ein schräger Blick von jemandem, dann wird der gestrichen, dann kriegt der nichts mehr. Ich lege auch Wert darauf, dass Leute, die ihr Leben lang mit mir gearbeitet haben, danach niemals mehr mit einem anderen Menschen arbeiten müssen. Das sollen die nicht nötig haben, das fände ich irgendwie unangenehm, auch für mich.

SPIEGEL: Und was wird aus Ihren Büchern?

Lagerfeld: Das ist eine Frage, die ich noch nicht geklärt habe. Was ist mit der Zukunft von Büchern? Ich muss mir da noch was einfallen lassen.

SPIEGEL: Sie wollen der Welt gar nichts hinterlassen?

Lagerfeld: Es ist mir wirklich total gleichgültig. Ich lebe im Jetzt. Ich will auch kein Grab. Ich mag diese Gedichtzeile von Friedrich Rückert, die Mahler vertont hat: „Ich bin der Welt abhandengekommen.“ Mehr will ich nicht. Meine Asche sollen sie irgendwo verstreuen. Im Ozean oder in den Wäldern, wo genau, ändert sich bei mir täglich.

SPIEGEL: Und vielleicht vorher schön gemütlich in den Ruhestand, das ist kein Gedanke?

Lagerfeld: Entsetzlich. Das klingt wie Rollstuhl. Solange man’s noch kann, warum sollte man das tun? Zumal meine Kartenleserin mir gesagt hat: Für dich fängt es an, wenn es für die anderen aufhört.

SPIEGEL: Sie sind abergläubisch.

Lagerfeld: Das bin ich, und bisher ist alles, was sie mir prophezeit hat, eingetreten. Sie hat mir zum Beispiel mal gesagt: Sie riskieren nichts in Flugzeugen und Autos, aber bitte nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

SPIEGEL: Sie fahren eh selten Bus.

Lagerfeld: Aber einmal, da war der Chauffeur verhindert, bin ich Bus gefahren. Es gab prompt einen Unfall, und ich habe mir fast das Knie zertrümmert. Von da an war Schluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

SPIEGEL: Sind Sie sonst noch abergläubisch?

Lagerfeld: Ja, ich gehe nie unter einer Leiter durch und stelle mir keine Pfauenfedern ins Haus.

SPIEGEL: Noch mehr?

Lagerfeld: Ja, nie ein Hut auf dem Bett.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Britta Sandberg, Stefanie Schütte und Ralf Hoppe.