Mein Opa, der Peschmerga

Er ist ein kleiner kräftiger Herr, der Großvater Khorshid Tofish, 69 Jahre alt, sorgfältig gestutzter Schnurrbart, beim Tiefschwarz seiner Haare hat er nachgeholfen. Er hat eine Vorliebe für die kurdische Nationaltracht, die pludrigen Hosen mit der breiten Schärpe, und jetzt sitzt der Großvater in seinem Lieblingssessel, ohne Socken, lutscht Bonbons und erzählt seine Lieblingsgeschichten.

Sie handeln von Hinterhalten, Gefechten, Verletzungen, von verstümmelten Kindern, verzweifelten Frauen und Männern, die mit ihrem Blut die Erde tränkten, um es mit Khorshids Worten zu sagen – Geschichten aus Kurdistan, dem Land der Krieger, die dem Tod ins Auge sehen, auf Kurdisch: Peschmerga.

Es ist ein Feiertag in Arbil, im Norden des Irak; von der Moschee ertönt der Ruf zum Asr, zum Nachmittagsgebet. Nebenan bereiten die Frauen das Abendessen, Reis mit Hammelfleisch, Joghurt, Gurken. Während Khorshid Tofish redet, sitzt neben ihm sein Sohn – Dedewan Tofish, Drei-Sterne-General der Peschmerga-Armee. Und dann ist da noch Dedewans Sohn, Siriyan, 23 Jahre alt, auch er in Uniform. Ehrerbietig hören Vater und Sohn zu, wie der Alte aus seinem Leben erzählt. Und staunen und lachen an den richtigen Stellen, sie kennen ja die Geschichten.

Großvater, Vater, Sohn sind Peschmerga, drei Generationen im Kriegszustand, zäh, unbeugsam – wenn auch jahrzehntelang international unbeachtet. Denn wen kümmerten schon die Kurden?

Aber das hat sich geändert. Die Kurden im Nordirak und ihre Peschmerga-Kämpfer sind plötzlich wichtig geworden. Immer neue Waffenlieferungen treffen ein, aus Deutschland kamen in den vergangenen sechs Wochen Panzerfäuste, Gewehre, Feldküchen und mehr, alles in allem Material im Wert von 70 Millionen Euro.

Das ist ein historisches Novum, denn der Nordirak ist Kriegsgebiet – nur eine Autostunde von Arbil entfernt stehen die Truppen des „Islamischen Staats“ (IS), und morgen in aller Frühe wird sich General Dedewan Tofish ins Auto setzen und dorthin fahren, für sieben Tage, zum Kämpfen. Sein Sohn und der Großvater ziehen ebenfalls in den nächsten Tagen in den Kampf.

Die drei Männer auf der Couch kämpfen ihren Krieg – und auch für die Interessen des Westens. Je barbarischer die Terrortruppen des Abu Bakr al-Baghdadi vorgingen, je mehr Jesiden sie massakrierten und Westlern medienwirksam den Kopf abschnitten, desto wichtiger wurden die Peschmerga.

Aber wer weiß schon, wer diese Männer sind, Großvater Khorshid Tofish etwa, mit seinen blutrünstigen Erzählungen, sein Sohn, der Drei-Sterne-General, und dessen Sohn, der gern Rechtsanwalt geworden wäre, aber dann eine Ausbildung als Kämpfer einer Spezialeinheit absolvierte? Warum widmen drei Generationen ihr Leben dem Kampf?

Die Wohnzimmertür geht auf, Khorshids Urenkelin tappt herein. Heya, zwei Jahre alt, braunlockig, der Alte lächelt, winkt sie zu sich, hebt das Mädchen auf seinen Schoß – und erzählt die Geschichte einer ganz normalen kurdischen Familie.

Als Khorshid Tofish im Frühjahr 1945 in dem Dorf Bibani, unweit von Kirkuk, geboren wurde, als letztes von fünf Kindern, hatten die Kurden gerade die Aussicht auf einen eigenen Staat verloren. Das Osmanische Reich war nach dem Ersten Weltkrieg zerbrochen, die Reste waren aufgeteilt worden; die Kurden waren leer ausgegangen.

Als Khorshid zwei Jahre alt war, starb seine Mutter, im Jahr darauf der Vater. Der Junge wuchs in der Obhut der älteren Geschwister auf, sie hatten ein großes Steinhaus, versorgten ihre Schafe, Ziegen, Pferde, Hühner, davon konnte man leben. Die nächste Schule war sieben Kilometer entfernt.

„Also ging ich nicht hin. Sehr spät erst habe ich ein wenig schreiben und lesen gelernt“, sagt Khorshid Tofish. „Aber ich schwor, dass meine Kinder zur Schule gehen würden!“ Mit sieben oder acht Jahren konnte Khorshid Ziegen melken, reiten wie der Teufel, er ging mit Steinschleudern auf Kaninchenjagd.

„Ich wollte immer was erleben“, sagt er.

Als er zwölf war, kam eine Gruppe Peschmerga-Kämpfer ins Dorf, er bewunderte sie, sprach mit ihnen und wusste nun, was seine Bestimmung war.

Er war 16, als sie ihn endlich akzeptierten, zunächst nur als Tschai-Tschi, als Burschen, der den Tee kochte, der sauber machte. „Ich hasste den Job, ich wollte kämpfen. Aber ich hatte kein Gewehr!“

Zwei Dinge hatten sich damals zugunsten der Peschmerga geändert: Zum einen gab es plötzlich einen charismatischen Anführer der Kurden – endlich. Der Mann hieß Mustafa Barzani, der Vater des gegenwärtigen Kurdenpräsidenten, und er sollte sich in den kommenden Jahren als politisches Talent erweisen.

Und zum anderen steckte der Irak gerade im Umbruch. Drei Jahre zuvor hatte eine Gruppe panarabisch gestimmter Offiziere die Monarchie gestürzt, gegen Unruhestifter gingen sie rigide vor.

Barzani zettelte eine Revolte an, anfangs nur mit 600 Getreuen, bald waren es 15 000, unterstützt durch den jungen Schah von Persien. Das hatte Symbolcharakter, denn Iran hatte sich inzwischen an die USA gebunden. „Wir dachten deshalb, die Amerikaner seien auf unserer Seite, das war ein Irrtum“, sagt Khorshid Tofish.

Das Muster wiederholt sich in der irakisch-kurdischen Geschichte: Die Kurden erhalten immer dann Unterstützung, wenn es opportun erscheint. Und sie suchen sich die Partner, die ihren Interessen entgegenkommen. Für Schah Mohammad Reza etwa stellte das antimonarchische Regime im Irak eine Gefahr dar, in den Augen der USA liebäugelte das sozialistisch angehauchte Regime zu sehr mit der Sowjetunion. Dann lieber die Kurden zum Kämpfen aufstacheln.

1963 kämpfte Großvater Khorshid Tofish als MG-Munitionierer gegen eine Übermacht irakischer Infanteristen. „Das Gefecht dauerte vom frühen Morgen bis in die Nacht, wir töteten nahezu alle, verloren aber fast alle eigenen Männer. Ich sammelte die Waffen ein, suchte mir das beste Gewehr heraus. Von da an musste ich keinen Tee mehr kochen, ich war ein Mann.“

Der Waffenkult und der Mythos des Kriegers haben sich in der kurdischen Alltagskultur bis heute erhalten – aber ohne ihren Stolz wären die Kurden vermutlich schon längst zerrieben worden. Und noch ein Wesenszug spricht aus Khorshid Tofishs Erzählungen: zähe Geduld und die Fähigkeit, Enttäuschungen einzustecken.

Khorshid Tofish und seine Einheit, etwa zwei Dutzend Männer, kämpften im Nordirak, vorwiegend in den Bergen. Dorfbewohner versteckten und versorgten sie; dafür griffen die Peschmerga irakische Verbände an, sobald die sich blicken ließen. Zwischendurch fand Khorshid sogar Zeit zu heiraten, Rana, seine große Liebe. Im April 1969 wurde ihr erstes Kind geboren, ein Sohn, sie gaben ihm den Namen Dedewan. Im Jahr 1970 dann gab Bagdad scheinbar nach. Den Kurden wurde Autonomie zugestanden. Doch der Mann, der auf irakischer Seite die Verhandlungen führte, würde sich später rächen. Sein Name: Saddam Hussein.

Khorshids Telefon klingelt, es sind seine Veteranenkameraden. Sie wollen wissen, wann sie wieder an die Front fahren und ob Khorshid Tofish Panzerfäuste organisiert hat.

Der Frontabschnitt von Chasar, wo die Kämpfer des „Islamischen Staats“ stehen, ist etwa eine Autostunde entfernt. Morgen wird Dedewan dorthin fahren. Sein Sohn Siriyan hat zwei Tage länger frei, dann muss auch er sich bei seiner Einheit melden, hier in Arbil. Der Großvater wird ausrücken, sobald er die Ausrüstung besorgt hat. Die drei Männer kämpfen im Schicht-rhythmus: sieben Tage im Einsatz, dann sieben Tage daheim.

Die Familie wohnt in der Basar-Straße im Stadtteil Binaslawa, in zwei kleinen Flachbauten. In den Vorgärten stehen Zitronenbäume, im Kräuterbeet wächst Minze, auf der Terrasse ist eine Hollywood-schaukel aufgestellt. Im Haus ist alles sehr aufgeräumt, als wollte man den Krieg mit seinem Chaos und seiner Gefahr draußen halten. Schwere Sessel und Sofas im Wohnzimmer, ein großer Flachbildschirm, ein Aquarium.

Sie leben hier seit Anfang der Neunzigerjahre, die „Demokratische Partei Kurdistans“ von Masoud Barzani hat ihnen die Häuser besorgt, das ist so üblich. Die drei Männer der Familie Tofish sind seine Gefolgsleute.

Die Parteien sind an die Stelle der alten Stammes- und Clan-Loyalitäten getreten. Und sie haben deren Versorgermentalität, auch den Hang zur Vetternwirtschaft, übernommen. Ein Peschmerga zu sein, das ist – auch – eine soziale Absicherung, zumindest in Friedenszeiten.

Arbil ist eine merkwürdige Stadt. Auf den ersten Blick: eine boomende Stadt, alles ist neuer, besser organisiert, als man es aus Bagdad oder Kairo kennt, keine Müllberge vor den Häusern, die Nebenstraßen sind asphaltiert, überall schweben die Ausleger der Baukräne durch den Himmel. Es gibt Viertel wie das „English Village“, es gibt eine aufstrebende Mittelklasse.

Das ist die eine Seite von Arbil.

Die andere ist die einer Stadt im Belagerungszustand. Allerdings auf eine sehr lässige Art. Im Peschmerga-Ministerium, in dem die Truppenbewegungen koordiniert werden, schieben sie Sonderschichten. Der Schwarzmarktpreis für Munition hat sich angeblich verdoppelt; die Läden an der Kirkuk-Straße, wo es Uniformen, Helme, schusssichere Westen gibt, haben bis spät in den Abend geöffnet.

Und immer wieder sieht man junge Soldaten, die in ein Sammeltaxi steigen, an die Front fahren.

Großvater, Vater und Sohn schlafen jeweils mit einer geladenen Neun-Millimeter-Pistole unter dem geblümten Kopfkissen. Fünf Gewehre und Maschinengewehre können sie aus ihren Schlafzimmerschränken holen. Ihre Feinde zu töten, sagen sie, damit hätten sie kein Problem. „Wir oder sie“, sagt General Dedewan Tofish, „und dann lieber sie.“

Wie viele Männer haben Sie in den diversen Kämpfen getötet?

Der Jüngste lächelt, schüttelt den Kopf.

„Mehr als hundert“, sagt der General.

„Ah, ich viel mehr“, sagt der Großvater.

Der Patriarch war noch vor zweieinhalb Wochen mit der Truppe, die er befehligt, knapp 120 Mann, an der Front, an einem Abschnitt 30 Kilometer südlich von Kirkuk. Sie hätten zwei Spähtrupps der IS-Kämpfer attackiert, die meisten getötet, die anderen gefangen genommen, um sie zu verhören und erst anschließend zu töten. In den Erzählungen der drei Männer erscheinen die Peschmerga stets als sehr heldenhaft. Aber es gibt auch andere Geschichten: wie sie wegliefen, statt Christen und Jesiden zu beschützen.

Meistens, so erzählt Khorshid Tofish, brächten diese Vernehmungen aber nichts. „Die IS-Typen stehen unter Drogen, sie nehmen kleine weiße Tabletten, sie betteln darum, dass wir ihnen diese Pillen nicht wegnehmen. Was es für ein Zeug ist, weiß ich nicht. Wir lassen sie erst mal ausnüchtern, aber dann sind sie oft verstockt. Und freuen sich auf den Tod. Einer kam aus Malaysia, aus Kuala Lumpur. Das muss man sich mal vorstellen! Kommt um die halbe Welt geflogen, um mein Volk anzugreifen! Er sagte: ‚Bitte, tötet uns jetzt, es ist gerade Mittagszeit, dann können wir mit dem Propheten zu Mittag essen, in alle Ewigkeit!‘ Ich antwortete: ‚Nein, Freundchen, wir töten dich erst nach dem Essen, dann kannst du da oben den Abwasch machen, in alle Ewigkeit!'“

Ist es angemessen, Gefangene zu töten?

Khorshid Tofish zuckt die Achseln. Die Peschmerga sind vielleicht die Partner des Westens. Aber sie kämpfen nach ihren eigenen Regeln. Und die sind die einer Miliz, nicht die einer professionellen Armee.

Die Jahre 1970 bis 1975, die ersten Kindheitsjahre von Dedewan Tofish, dem späteren General, verliefen noch einigermaßen friedlich. Dann griff die Weltpolitik in sein Leben ein, im Abkommen von Algier schlossen Iran und der Irak Frieden. Sie legten ihre Grenzstreitigkeiten bei, als Folge entzog der Schah den Kurden jede Hilfe. Die Familie musste nach Iran fliehen, zwei Schwestern von Dedewan Tofish wurden in Zelten geboren, sie hausten in Flüchtlingscamps, wanderten von Stadt zu Stadt. Der Vater war fast nie da, er versteckte sich, oder er kämpfte. Dedewan träumte oft davon, der Vater käme, würde ihn abholen, zum Kämpfen mitnehmen.

„Manchmal murmelte ich nur das Wort vor mich hin: Vater, Vater. Immer wieder. Warum? Weil ich ihn vermisste und um ihn nicht zu vergessen.“

Im September 1980 überfiel Saddam Hussein die, wie er glaubte, schwache Islamische Republik Iran, wie das Land nach Khomeinis Sieg hieß. Und plötzlich waren die Kurden wieder mal nützlich. Khorshid und seine Leute ließen sich einspannen, bekamen von den Iranern Material, Waffen, Geld.

Dedewan Tofish war 16, als sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging – er durfte bei den Peschmerga mitmachen, seine Einheit wurde von 1987 an in der Nähe eines Ortes namens Halabdscha eingesetzt. Und so wurde der junge Rekrut Dedewan Tofish Zeuge eines der größten Verbrechen an seinem Volk.

Im August 1988 kam es zum Waffenstillstand zwischen Iran und dem Irak, nach acht Jahren Krieg. Unverzüglich ordnete Saddam Hussein eine Operation gegen die Kurden an, die sich auf die Seite Teherans gestellt hatten. Der Name der Operation lautete Anfal, übersetzt „Beute“. Die Zahl der Toten wird heute auf bis zu 150 000 geschätzt, die Armee setzt Giftgas ein. Das Massaker wird später als Genozid anerkannt werden.

„Wir kampierten an einem Fluss. Plötzlich kam ein durchdringender Geruch auf, wie nach Knoblauch, aber schärfer, beißender. Wir schlichen von Dorf zu Dorf. Alles war voller Leichen. Ab und zu Überlebende, denen halfen wir. Dann versteckten wir uns. Ich weiß noch, wie wir einige Monate in einer Höhle lebten. Fast wären wir verhungert. Ab und zu fingen wir ein Kaninchen.“

Das Erlebnis prägte den 18-jährigen Soldaten, von nun an wird er bei den Peschmerga bleiben. Dedewan Tofish wusste, was es zu verhindern galt, wie gefährdet die Existenz der Kurden war.

Anfang der Neunzigerjahre lebte die Familie erstmals vereint unter einem Dach, in Arbil. Dedewan Tofish, damals noch ein junger Offizier, hatte geheiratet, sein Sohn war geboren, Siriyan. Inzwischen hatte Saddam Hussein Kuwait überfallen, aber am Ende musste der Irak einen demütigenden Waffenstillstand akzeptieren. Für die Kurden war das die Gelegenheit, einen unabhängigen Teilstaat zu verkünden.

Für die Familie Tofish begann eine Zeit relativer Normalität. Siriyan ging in die Belessa-Schule in der Innenstadt, er war ein sehr guter Schüler, vor allem in Mathematik. Als er älter wurde, interessierte er sich für Computer, Fußball, Karate, Musik. Aber der Krieg trat auch in sein Leben, es gab kein Entkommen.

Im März 2003 griffen 43 Länder unter Führung der USA und Großbritanniens Saddam Hussein an, die Kurden schlugen sich auf die Seite der Angreifer. Mit deren Sieg setzte der Boom in Arbil ein – hier ging das Geld hin, denn hier herrschte Sicherheit. Doch als die Amerikaner 2009 mit den ersten Truppenabzügen begannen, stand dem Irak abermals eine Zeit der Unsicherheit bevor. Siriyan war damals 18, er musste sich entscheiden.

Und er wurde, nicht ganz leichten Herzens, Peschmerga. Heute hat er den Rang eines Fähnrichs, bekommt 650 US-Dollar Sold im Monat, kann sparen, weil er noch daheim wohnt, das Geld braucht er auch, irgendwann will er heiraten.

Und sosehr sich die Biografien dieser drei Männer ähneln, sie stehen auch für den Weg der irakischen Kurden von einer Kultur des Kampfes hin zu einer Zivilgesellschaft. Großvater Tofish ging noch zu den Kämpfern, weil er das Abenteuer suchte. Sein Sohn, der General, war schon zögerlicher. Siriyan hatte andere Träume für sein Leben, bis die Ereignisse ihn einholten, weil er Kurde ist. Vielleicht wird einst sein Kind kein Peschmerga mehr sein.