Ich und ich

Neulich erfuhr ich einige Wahrheiten über mich, auf die ich, im Nachhinein, auch gut hätte verzichten können. Grob gesagt ist es so, dass ich mich gewissermaßen habe klonen lassen. Ich habe einen Doppelgänger von mir in Auftrag gegeben, eine 3-D-Miniaturversion im Maßstab von exakt 1:11,3, und seit einigen Tagen steht die Figur zu Hause im Esszimmer, auf unserer Anrichte. Gäste geben unterschiedliche Kommentare, von begeistert bis befremdet. Mir geht es genauso. Manchmal finde ich die Figur ganz lustig, oft ist es einfach nur unangenehm, sich so auf der eigenen Anrichte zu sehen.

Es begann damit, dass ich eines Abends in ein Kaufhaus in der Hamburger Innenstadt reinschaute. Rechts vom Haupteingang war ein schwarzes Fotostudio aus Holzwänden aufgebaut, etwa so groß wie ein Partyzelt. Davor standen Glasvitrinen. In den Vitrinen befanden sich kleine Figuren – Alltagstypen, keine Leute, die man aus dem Fernsehen kennt. Jungs, Mädchen, Rentner. Ein Typ mit Skateboard, Dreiviertelhose und offenem Mund. Eine junge, schöne Frau, in Leggins und Mickymaus-T-Shirt. Ein Rentnerpaar in beigefarbenen Wetterjacken. Es war, als hätte man die durchschnittliche Fußgängerzone geschrumpft und hinter Glas gepackt.

Ein Verkäufer kam heran, er trug einen schmalen Schlips. Die Technik sei ziemlich neu, erzählte er, jedenfalls auf diesem Perfektionsniveau. Übrigens habe Giovane Élber schon eine Figur von sich, der frühere Fußballer, und auch Samy Deluxe, der Rapper.

Ich hörte nur halb hin; ich war hingerissen von der Perfektion dieser kleinen Figuren. Man sah die ausgebeulten Ellbogen am Sakko. Man sah die abgeriebenen Stellen der Jeans. Man konnte das winzige Tattoo am Nacken einer Frau erkennen – diese Detailgenauigkeit in Verbindung mit etwas Spielzeughaftem; wirklich faszinierend. Die billigste Figur, 10 Zentimeter groß, kostete 99 Euro, die größte, 35 Zentimeter, 799 Euro.

Die Idee gefiel mir. Es hatte etwas Verwegenes, Übermütiges, sich einen kleinen Doppelgänger zuzulegen. Eine Grenzübertretung war es auch: sich zu verdoppeln, damit man sich hinstellen und anschauen kann? Beziehungsweise von anderen betrachtet werden kann, war das nicht unsäglich eitel?

Vielleicht war das nur der Untertan in mir, der diese Bedenken hatte? Der fragt: Darf man das, so als ganz normaler Mensch? Abbilder von sich selbst in die Welt setzen zu lassen, das war bis vor einigen hundert Jahren das Privileg von Göttern, von Königen, später von Staatenlenkern. Es löste sich nur langsam auf.

Die Maler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten ihren Anteil daran, sie entdeckten den einfachen Menschen, dessen Gesichter, Geschichten: van Goghs „Kartoffelesser“ etwa. Oder die Huren, Gangster und Sträflinge des George Grosz. Picassos Artisten. Das Porträt war auch ein Mittel zur Erkenntnis, zur Selbsterkenntnis.
Der Befreiung durch die Malerei folgte die Fotografie, die Demokratisierung des Porträts. Inzwischen leben wir in einer Phase der Inflation von Bildern und Ichbotschaften. Jeder breitet sein Ich im Netz aus. Eine Figur von sich selbst ist entwicklungsgeschichtlich wahrscheinlich nur konsequent.

Vielleicht war es wirklich unsäglich eitel, den kleinen König zu spielen – aber man muss auch zu seinen Neigungen stehen. Lieber eitel als unehrlich, dachte ich. Ich überlegte, wie viel ich mir wert war. 200 Euro war die Grenze, ich nahm eine 15-Zentimeter-Figur, das zweitbilligste Modell.

Der Mann mit dem schmalen Schlips schloss das Fotostudio auf. Drinnen war alles gleißend weiß. 65 Kameras waren im Kreis aufgestellt, auf Stativen. In der Mitte ein kleines Podest. Ich solle mich hinstellen, Standbein, Spielbein, locker bleiben, einen Punkt fixieren. Er zog die Tür hinter sich zu, 65 Blitzlichter flammten auf, der Mann öffnete die Tür, winkte mich zu seinem Bildschirm.

Ich sah 65 Fotos von mir, sah mich von links, von oben, unten, rechts, hinten, vorn, in klinischer Präzision. Ob das okay sei, fragte der Mann. Klar, sieht prima aus, sagte ich. Aber eigentlich war ich erschrocken.

Unsere Selbstbildnisse sind ja nie ganz echt, nicht wirklich wahrhaftig – die Fotowand im Treppenhaus, die Urlaubsbilder von den Kindern, die an der Pinnwand kleben, sie alle unterliegen der Zensur durch uns selbst, dem Wunsch nach Innigkeit und vorteilhaftem Nachmittagslicht. Darum sind die frühen Fotografien, etwa von August Sander, so authentisch. Die ersten Fotografierten hatten noch keine Abwehrmimik; inzwischen haben wir gelernt, wie wir auf Fotos aussehen wollen.

Bei diesen 65 Aufnahmen auf dem Rechner hatte ich keine Chance, mich anders oder besser zu präsentieren, als ich wirklich bin. Der Körper kann kein falsches Spiel spielen, irgendetwas daran verrät er uns immer. In meinem Fall: meine verspannten Schultern, vom langen Hocken am Bildschirm. Der vorgeschobene Bauch. Die platte Stelle am Hinterkopf. Das war so eindeutig ich, dass es schon wehtat.

Die Bilddateien wurden auf einen Server gestellt. Ich steckte die Quittung ein und ging nach Hause.

Am nächsten Morgen griff in der Viktoriastraße in Dortmund, wo die Zentrale und Werkstatt der Firma sitzt, ein 3-D-Artist auf diese Dateien zu. Er lud sie runter und legte sie gleichsam übereinander, aus 65 Dateien erstellte er eine Punktwolke, eine Skizze von mir im dreidimensionalen Raum. Ein Programm wählte aus 160 000 Farben jenes Blau, das dem Blau meiner Schuhe am nächsten kommt. Aus der Punktwolke wurde eine dichte Wolke von etwa eineinhalb Gigabyte, schließlich ein Modell. Das Ganze dauerte vier Stunden, dann war ich ausgerechnet.

Der 3-D-Drucker steht in einem gefliesten Kellerraum in Dortmund. Dort wurde ich ausgedruckt, in 900 Schichten, aus Farbe und Polymergips. Man wickelte meinen Doppelgänger in Luftpolsterfolie und schickte die Lieferung nach Hamburg. Am nächsten Tag packte ich ihn aus. Der Kerl sah mir verblüffend ähnlich, natürlich; andererseits fand ich das Männchen anders, als ich erwartet hätte, oder gewünscht. Steifer, verkniffener, als ich gedacht hatte. So laufe ich durch die Welt? Meine Güte. Kann man was dagegen tun? Vielleicht wird es Zeit für mich, mich mit mir abzufinden.