Der Sohn der Bestie

Vor wenigen Minuten hatte Jonathan die Grenze überquert, hatte sich über den Río Suchiate setzen lassen, den Fluss, der Guatemala und Mexiko voneinander trennt. Bis Mexiko hatte er es also schon geschafft, gar nicht schlecht, dachte er, und jetzt war er in Frontera Hidalgo, Bundesstaat Chiapas, und eigentlich sah es hier aus wie daheim, wie in Nicaragua.

Vor ihm lag eine gerade Straße. Links und rechts standen schäbige Häuser. Der Duft von gekochten Bohnen stieg ihm in die Nase. Er hatte Hunger, vielleicht hatte irgendwo eine Taquería noch geöffnet. Da kamen aus einer dunklen Seitenstraße drei Polizisten, sie waren bewaffnet.

Sie drängten ihn gegen eine Mauer. Er musste seinen Rucksack ausleeren, sein Portemonnaie aushändigen. Im Schein der Taschenlampe studierten sie seinen Pass, fanden das Geld. Sie sprachen schnelleres Spanisch als er, fiel ihm auf, singender, irgendwie lustiger. Doch was sie dann sagten, klang weniger lustig.

Amigo, dein Geld gehört jetzt uns!

Fast alle Flüchtlinge verstecken ihr Geld. Ein paar Scheine, in Plastik gewickelt, schieben sie in die Schuhe, oder sie nähen das Geld in den Hosenbund ein. Manche haben eine Mango, in die sie einen unauffälligen Schlitz schneiden, um Münzen hineinzustecken. Es gibt auch die Methode, die Geldscheine in ein verschraubbares Aluminiumröhrchen zu stecken, das Röhrchen einzufetten, im After unterzubringen. Jonathan hatte sein Geld einfach nur im Portemonnaie.

Die Polizisten nahmen es ihm ab, 650 US-Dollar, außerdem sein Handy. Den Ausweis durfte er behalten, auch das braune Portemonnaie mit dem Gedicht darin; ein Mädchen, mit dem Jonathan mal ging, hatte es für ihn geschrieben, es war sein Glücksbringer. Die Polizisten stiegen in ihr Auto, lachten, dann waren sie weg.

Drei Tage zuvor war Jonathan José Pazpalma, Sohn von Marvin Pazpalma und Leonce, geboren in Chinandega, Nicaragua, aufgebrochen. Sein Ziel: die Vereinigten Staaten von Amerika. Mexiko war ein großes Land, und es lag auf dem Weg, also musste er es durchqueren, so viel wusste er. Was er nicht wusste: wie es jetzt weitergehen sollte.

Jonathans Reisegeld hätte wahrscheinlich knapp gereicht, um Mexiko mit Bussen zu durchqueren, nicht schnell, aber doch halbwegs sicher. Nun hatte Jonathan keine andere Wahl, als den nächsten Güterbahnhof zu finden, auf einen Zug aufzuspringen. Er hatte davon gehört, er hatte sich davor immer gefürchtet.

Etwa 4000 Kilometer lagen nun vor ihm und eine der gefährlichsten Reisen, die ein Mensch wagen kann, nämlich als blinder Passagier auf den Güterzügen, die durchs Land rumpeln, vom Süden Mexikos bis in den Norden. Für die Flüchtlinge, die aus Zentralamerika kommen, verschmelzen diese Züge zu einem einzigen, dem „Zug der Tränen“. Sie nennen ihn auch den „eisernen Wurm“, gusano de hierro. Am häufigsten aber: la bestia , die Bestie.

Jonathan marschierte los, raus aus der Stadt, ohne eine Karte, ohne Orientierung. So machte er sich auf die Suche nach einem Zug, nach seinem Schicksal.

Inzwischen kommen die meisten Migranten, die in die USA einwandern, aus Nicaragua, Honduras, El Salvador, Guatemala. Dort liegt der Tagesverdienst oft nur bei drei, vier, fünf US-Dollar. Alle Geschichten, die die Flüchtlinge erzählen, laufen darauf hinaus: Wir lieben unsere Heimat, aber wir konnten dort nicht bleiben.

Fast immer sind es, wie in Jonathans Fall, die Starken der Familie, die den Schritt wagen. Zu 80 Prozent junge Männer unter dreißig. Zehn Prozent der migrantes sind Halbwüchsige; sogar Kinder sieht man auf den Zügen, an den Gleisen, mager, verschmutzt, misstrauisch. Etwa zehn Prozent der Flüchtlinge sind junge Frauen.

Das Risiko, ausgeraubt, verletzt, getötet zu werden, liegt für Männer bei mehr als 60 Prozent; die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, vergewaltigt zu werden, bei rund 85 Prozent.

Jonathan kann von seiner Reise berichten – denn er hat sie überlebt, bisher. Er hat es bis Tijuana geschafft, im Nordwesten von Mexiko. Er sitzt auf einem weißen Plastikstuhl, er redet. Ein kleiner, dunkler Mann. Kräftige Schultern, an Arbeit gewöhnte Hände. Kurz geschnittenes Haar, kein Ring, keine Uhr, keine Tätowierung. Er wäre gern Tierarzt geworden, sagt er.

Jonathan hat 13 von 32 mexikanischen Bundesstaaten durchquert, hat Kidnapper, Klapperschlagen, Moskitoschwärme, Durst, Folter, Hitze, Kälte überlebt – 79 Tage und Nächte, und jede Sekunde, sagt er, habe sich ihm eingebrannt.

Es ist noch früh am Abend. Die Casa del Migrante in Tijuana ist eine Unterkunft für Flüchtlinge. Jonathan ist hier untergekommen, für zwei, drei Tage, um Kraft zu schöpfen für die letzte Etappe. Er erzählt, als stünde er unter einem Druck, immer wieder befühlt er seine Zähne. Auf halber Strecke, in Orizaba, erzählt er, hielt man ihn gefangen, die Kidnapper wollten Geld aus ihm herauspressen, sie traten ihm ins Gesicht, zwei Zähne sind seitdem weg.

In jener ersten Nacht in Mexiko, nach der Begegnung mit den Polizisten, marschierte Jonathan einfach los. Irgendwann kam er an eine Kirche. Sie war verschlossen, dennoch fühlte er sich hier geschützt. Er betete das Vaterunser, legte sich auf die Erde, schlief ein.

In den folgenden Tagen schlug er sich durch bis Tapachula, die nächste größere Stadt. Doch dort erwartete ihn eine weitere Überraschung. Ein Hurrikan hatte die Schienen unterspült. Jonathan erfuhr, dass er bis Arriaga gehen musste – rund 250 Kilometer entfernt.

Er marschierte auf Landstraßen, schlug sich durch die Felder. Sobald er ein Auto hörte, duckte er sich hinter einen Baum, bis er wusste, dass es kein Polizeiwagen war. Links und rechts der Straße wuchs Kaffee, Papageien krächzten in den Mangobäumen. Wasser fand sich am Wegesrand, hier ein Bach, dort ein Brunnen, manchmal lag irgendwo eine Avocado, eine halb zermatschte Mango.

Daheim waren sie sieben Kinder, Jonathans Vater war Plantagenarbeiter. Es gab Tage, da hatten sie nur eine Tortilla pro Kind. Manchmal bestand das Abendessen aus einem Krug Wasser, in das die Mutter zwei Teelöffel Zucker rührte. Schlaft auf dem Bauch, riet sie, dann vergeht der Hunger.

Gelegentlich wurde Jonathan ein Stück weit mitgenommen, die meiste Zeit ging er. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen; dann setzte er sich irgendwo an den Wegesrand. Aber vielleicht hat ihm diese Route das Leben gerettet.

Die Zugstrecken durch den Bundesstaat Chiapas gehören zu den gefährlichsten. Die Menschen auf den Waggons sind die perfekte Beute für Gangster: Sie hocken auf den Dächern, unbewaffnet, verfroren, klammern sich erschöpft an den Leitern oder Rosten fest. Manche der Männer bewaffnen sich zwar mit Steinen, schnitzen sich einen Stock; aber die Gangster haben Macheten, sie kommen mit Pistolen, Kalaschnikows. Oft rauchen sie Dope oder schnupfen Crystal Meth, bevor sie einen Zug überfallen, die Drogen nehmen ihnen alle Hemmungen.

Nach etwa eineinhalb Wochen hatte Jonathan sich bis Arriaga durchgeschlagen. Er fand den Güterbahnhof, hier standen Züge – doch sie fuhren nicht. Später, erfuhr Jonathan. Vielleicht in ein paar Tagen.

Im besseren Teil von Arriaga stehen die richtigen Hotels, hier gibt es sogar einen Geldautomaten, Straßenlaternen, hier befindet sich auch derzócalo , der Rathausplatz. Dahinter führt die Straße abwärts über die Gleise, zu schmuddeligen Bars und Absteigen, wo sich normalerweise zehn, zwölf Migranten ein Zimmer teilen. Selbst dafür hatte Jonathan kein Geld. Sechs Tage verbrachte er in Arriaga – wartend. Hier lernte er seine erste Lektion: betteln, um nicht zu verhungern.

Jonathan erwies sich als miserabler Bettler, er schämte sich zu sehr. Doch abermals hatte er Glück. Vor dem Verhungern rettete ihn eine Bekanntschaft, die er irgendwo an den Gleisen gemacht hatte, im struppigen Gebüsch. Es war eine Familie aus Honduras, die Vilegas: Vater, Mutter, zwei Kinder, ungefähr sechs und zehn Jahre alt. Die Kinder erbettelten viel mehr als Jonathan, an manchen Abenden schleppten sie 50 oder sogar 100 Pesos an, bis zu fünf Euro. Die Eltern luden Jonathan ein, mit ihnen zu essen, Tacos, Bohnen. Er hasste sich dafür, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Dafür schlief Jonathan bei der Familie, ein junger, kräftiger Mann, der sich zu verteidigen wusste, war willkommen.

Bei Einbruch der Dunkelheit legten sich Vater, Mutter, Jonathan zu einem Dreieck neben den Gleisen auf den Boden, unter sich Pappen. Die Kinder rollten sich in der Mitte des Dreiecks zusammen. Jonathan lag oft wach, sah das Flirren der Glühwürmchen; hörte Skorpione und Ratten, die durchs Gebüsch raschelten. Die Mutter erzählte den Kindern vor dem Einschlafen, wie schön es sein würde in el norte . Dort gebe es Turnschuhe, Fahrräder, der Vater werde Arbeit finden, es würde wunderschön; die Kinder wurden nicht müde, davon zu hören.

Jonathan dachte an seine eigenen Geschwister, rief sich ins Gedächtnis, warum er diese Strapazen auf sich nahm. Auch davon handelt die Geschichte des Jonathan José Pazpalma: wie viel man aushält, was man schaffen kann, für seine Familie, aus Liebe.

Am sechsten Tag setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Sie fuhren 16 Stunden bis Ixtepec, im Bundesstaat Oaxaca, wo sie im dortigen Flüchtlingsheim unterkamen. Jonathan und die anderen konnten duschen, er wusch seine T-Shirts, es gab Bohnen mit Brot, er schlief viel. Ausruhen, Kraft schöpfen.

Die Casa del Migrante gleicht einer Festung, bewacht, verriegelt. Gegründet hat das Flüchtlingsheim Pater Alejandro Solalinde, ein zarter Mann mit Nickelbrille. Hier in der Gegend gibt es Splittergruppen der „Mara Salvatrucha“, einer der größten Verbrecherorganisationen Mittelamerikas. Für die Gangster sind Solalinde und seine Einrichtung ein Ärgernis; jeder Migrant, der hier unterkommt, ist einer weniger, den sie berauben können. Pater Solalinde hat schon viele Morddrohungen erhalten.

Etwa 50 solcher Flüchtlingsheime gibt es in Mexiko, von der Kirche betrieben, wie in Ixtepec, Tijuana oder Tapachula. In solchen Heimen landen jene, die sich ausruhen müssen – und die Unglücklichen, die auf der Strecke blieben, aber überlebt haben, jene, die einen Arm, ein Bein verloren haben. Das Aufspringen auf einen anfahrenden Güterzug ist heikel: Man muss schnell sein, darf nicht zögern, sonst stürzt man. Und wer stürzt, dem schneiden die eisernen Räder des Zuges oft ein Bein, einen Fuß, beide Beine ab.

Es kommt nicht selten vor, dass die Reisenden schlafend vom Zug fallen. Oder hinuntergestoßen werden, wenn Gangster kommen, um sie auszuplündern. Die Machete, mit schwerer, gleichzeitig scharfer Klinge, ist deren bevorzugte Waffe bei Überfällen. Viele Männer in den Herbergen haben abgeschlagene Finger, verstümmelte Hände, weil sie Machetenhiebe abzuwehren suchten.

In den folgenden Tagen lernte Jonathan seine Lektionen. Er lernte das Mitlaufen, das Tempo des Zuges zu halten, das Aufspringen, mit einer Hand eine Sprosse oder einen Haken zu ergreifen, sich nur mit Armkraft auf den Waggon zu ziehen. Er lernte, sich flach auf den Dachrost zu pressen; sobald der Warnruf ¡rama! , Zweig!, ertönte, sich seitlich wegzurollen, um Ästen oder durchhängenden Stromleitungen auszuweichen. Er lernte, sich mit einem anderen Mann nachts die Wache zu teilen: Rücken an Rücken auf dem Rost hockend, die Arme untergehakt.

Von Oaxaca aus fuhr die „Bestie“ durch den Bundesstaat Veracruz. Es war noch früh am Morgen, als Jonathan entlang der Gleise Menschen sah, die jenen, die in Trauben auf dem Zug hingen, etwas zuriefen. Sie warfen Pakete! Jonathan konnte drei der Päckchen fangen. In einer Tüte fand sich ein ganzer Kuchen, in den anderen beiden waren Wasserflaschen, außerdem Hühnchensalat, Tortillas, in Zeitungspapier eingewickelt.

Ich weinte vor Glück, sagt Jonathan. Wunderbare Menschen, dachte ich, die so etwas tun.

Aber dann kamen die Gangster.

Es war am selben Tag, spät am Abend. Kurz vor der Stadt Orizaba fuhr der Zug langsam in einen Tunnel. Auf den Waggons befanden sich etwa 150, 200 Menschen. Fast alle waren schläfrig, dösten, als der Zug im Tunnel zum Stehen kam. Jonathan gefiel das nicht, instinktiv. Er rief den Vilegas zu: Schnell, die Frau, die Kinder – in den Container-Waggon!

Jetzt waren Männer auf dem Zug. Sie schienen bewaffnet zu sein, sprangen von Waggon zu Waggon. Sie hatten Taschenlampen. Sie brüllten Anweisungen.

He, alle runter vom Zug!

Die meisten Flüchtlinge, erinnert sich Jonathan, hätten gar nicht daran gedacht, sich zu wehren. Die gebellten Kommandos nahmen ihnen allen Mut. Auch Jonathan gehorchte.

Die Flüchtlinge wurden in Gruppen aufgestellt, in einer langen, dunklen Reihe neben dem Zug im Tunnel. Dann wurden Frauen und Männer getrennt. Jonathan hörte, wie sie die Frauen wegführten. Er hörte sie weinen, schreien, kreischen.

Manche Frauen benutzen Tape, um ihren Busen flach erscheinen zu lassen, und sie schneiden sich die Haare kurz, um als Jünglinge durchzugehen. Aber die Männer, die sie jagen, wissen das. Andere Flüchtlingsfrauen schreiben sich „Tengo Sida“ auf die Brust – „Habe Aids“. Viele lassen sich vor der Flucht ein Kontrazeptivum spritzen, das etwa drei Monate lang den Eisprung verhindert.

Vor Jonathans Gruppe trat nun einer der Gangster, er brüllte. Wir werden euch jetzt in Gruppen hier rausbringen! Denn dies ist unser Revier! Wir sind Zetas!

Die Bewaffneten teilten Jonathan und die übrigen Opfer ein in Gruppen zu ungefähr 15 Personen. Zu jeder Gruppe stellten sich sieben, acht Bewacher. Jonathan sah Macheten, Pistolen, Maschinenpistolen, Messer.

Der Vater der Familie Vilegas trat vor, zitternd vor Angst: Bitte, meine Frau, meine Kinder sind in einem der Waggons, bitte, ich will nicht von ihnen getrennt werden! Die Gangster zerrten die Versteckten aus dem Container, berieten sich flüsternd. Dann trat einer der Gangster vor: Okay, du darfst bei der Familie bleiben! Denn dies ist unser Gesetz: Los niños no tienen la culpa de nada , Kinder sind unschuldig! Will sagen: Sie werden nicht angerührt.

Die anderen Männer aber wurden abgeführt, unter ihnen Jonathan. Aus dem Tunnel hinaus, ein Stück die Gleise entlang. Sie kamen an eine Straße. Ein Haus, ein leeres Zimmer. Auf den Bauch legen. Die Hände wurden ihnen auf den Rücken gefesselt.

Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind in Mexiko rund 300 000 bis 400 000 Gangster in den größeren Kartellen organisiert – wie die Zetas eines sind. Polizei und Militär stellen zur Bekämpfung mehrere Zehntausend Mann – und sind ihnen trotzdem unterlegen: Die Gangster haben hochmoderne Schusswaffen, Handgranaten, Mörser. Sie sind auf Twitter und Facebook, betreiben Websites, auf denen sie Triumphe und Hinrichtungen dokumentieren.

Jonathan lag in einem dunklen Zimmer, mit anderen Männern. Seine Hände wurden taub. Er versuchte, sich aufzurichten. Jemand kam von hinten zu ihm.

Du da, hinlegen!

Tritte gegen den Kopf, in die Nieren.

Der Mund voller Blut.

Die Zetas begannen als kleine Gruppe, etwa 30 ehemalige Elitesoldaten, sie wurden 1999 formiert, als Kampftruppe und Auftragskiller des Golfkartells. Vor einigen Jahren entdeckten sie die Migranten aus Zentralamerika als Opfer von Entführungen. Dies erwies sich als ziemlich lukrativ.

Es gibt vier Methoden, einem entführten Migranten Geld abzupressen. Erstens: Man nimmt ihm seine magere Reisekasse ab. Zweitens: Man lässt sich erzählen, wo genau in El Salvador oder Nicaragua seine Eltern, seine Geschwister leben, zwingt ihn dann unter Drohungen, als Drogenkurier über die Grenze zu gehen. Drittens: Man verkauft Frauen und Kinder als Sexsklaven.

Die vierte Methode ist die am häufigsten angewandte: Man foltert das Opfer, lässt sich sagen, wo Onkel oder Bruder in den USA leben, der Gepeinigte muss dort anrufen. Den Verwandten wird ein Code für eine Schnellüberweisung genannt. In der Regel verlangen die Verbrecher Beträge um 500 Dollar. Schmerzensschreie während des Telefonats beschleunigen den Vorgang. Sobald das Geld da ist, wird das Opfer freigelassen.

Nach einer Studie der Nationalen Menschenrechtskommission für 2011 wurden in einem halben Jahr etwa 11 000 Personen entführt.

Fünf Tage und Nächte wurde Jonathan befragt, nach Methode vier. Wo lebt sein Bruder, welche Telefonnummer hat sein Onkel? Doch Jonathan hat keinen Onkel oder Bruder in den USA. Sie glaubten ihm nicht.

Immer wieder Schläge, mal mit Fäusten auf den Hinterkopf, mal mit einem Holzbrett. Tritte auf die Waden, ins Gesicht, in die Nieren, auf die gefesselten Hände. Seine Folterer hielten ein brennendes Feuerzeug an seine Augen.

Nach den Verhören wurde Jonathan zurück in den Raum geschleift. Oft fiel er in Ohnmacht. Wenn er wach war, betete er das Vaterunser.

Padre nuestro, que estás en los cielos …

In der fünften Nacht schlich sich einer seiner Bewacher zu ihm. Er sei aus Honduras, sagte der Mann. Er habe Jonathans Gebete gehört. Auch er sei ein Christ, wirklich. Er mache diesen Job, um seine Familie zu ernähren. Ja, schmutziges Geld, aber egal. Er wolle Jonathan helfen.

Der Typ hat mich tatsächlich freigelassen, ich weiß nicht, warum, sagt Jonathan.

Die Reise des Jonathan José Pazpalma führte ihn in die Abgründe menschlicher Gemeinheit; aber nicht nur. Er fand auch Hilfe, Güte. Nahe der Station Lechería, nördlich von Mexiko-Stadt, war er kurz vor einem Kollaps, als ihn „La Polla“, der mexikanische Sprachgebrauch für die Glucke, ein dicklicher Transvestit, auf einer Müllkippe fand, ihn mit Wasser versorgte, mit Lebensmitteln, Schmerztabletten – einfach so. Später, in Guadalajara, traf er eine Frau aus Guatemala, die beiden freundeten sich an, reisten eine Weile gemeinsam. Vielleicht half ihm vor allem seine Arglosigkeit, sein unerschütterlicher Glaube, dass alles irgendwie gut werden würde.

Dann kam die Wüste. In der Wüste, im Norden Mexikos, war Jonathan dem Tod so nah wie nie zuvor.

Vor Hermosillo, im Bundesstaat Sonora, blieb der Zug eines Morgens unvermittelt stehen, vielleicht ein Defekt an der Maschine. Die Männer auf den Wagendächern konnten nichts tun, nur durchhalten. Es gab keinen Schatten. Ohne Fahrtwind heizte sich der Zug auf, als stünde er im Feuer. Das Blech glühte. Jonathan besaß zwei Pappstücke: Auf einem hockte er, eines hielt er als Sonnenschutz über sich.

Flirrende Luft.

Darf nicht runterfallen, nur das nicht, sagte sich Jonathan.

Muss sitzen bleiben.

Irgendwann fuhr der Zug weiter.

Zehn Minuten länger, und ich wäre vom Dach gefallen, sagt Jonathan heute.

79 Tage nach Anbruch der Reise kommt er in Tijuana an. Er hat viel ausgehalten, aber noch hat er es nicht geschafft. Die letzte Etappe steht noch bevor, und er muss sich entscheiden – soll er übers Meer oder durch die Wüste in die USA fliehen?

Unweit der Stadt Rosarito gebe es Männer, hat er sich erzählen lassen, die Fischerboote haben, mit Außenbordmotoren. Es sind keine professionellen Schlepper, sondern Fischer. 350 Dollar pro Kopf nehmen sie. Dieses Geld würde ihm die Frau aus Guatemala vorstrecken, sie ist ebenfalls bis Tijuana gekommen, hält sich in einer Unterkunft für Frauen auf.

Aber was, falls das Boot kentert, nachts? Oder abgetrieben wird?

Die andere Möglichkeit: ein Marsch durch die Wüste. Dauert länger, ist aber womöglich sicherer. Östlich von Tijuana gibt es angeblich Tunnel, Durchbrüche im Grenzzaun. Dann vier, fünf Tage marschieren, nachts. Tagsüber verstecken. Die Gruppe besteht aus vier bis acht Leuten. Der Mann, mit dem Jonathan telefoniert hat, besorgt Lampen, Decken, er hat einen Kompass, angeblich.

Eine letzte Entscheidung. Vielleicht ist es die schwierigste seiner Reise. Er denkt nach, er wägt ab.

Es vergehen elf Tage, in denen Jonathan sich nicht meldet. Dann eine SMS, ein Telefonat. Er hat es bis San Diego geschafft, durch die Wüste. Jemand hat ihm inzwischen eine Unterkunft besorgt. Er kann manchmal arbeiten, als Anstreicher. Er verdient Geld, es ist ein Anfang.


Siehe hierzu auch den Film „Jonathans Reise