Ein ganzer Kerl
Er war auf der Hälfte der Strecke, letzte Etappe, als er fürchtete, dass er es nicht schaffen würde. Das Meer war wie Eisbrei. Die Wellen prügelten auf ihn ein, als wäre er ihr ganz persönlicher Feind. Er war aber nur Philippe Croizon, ein Mann ohne Arme und Beine.
Der Schauplatz: die Beringstraße, zwischen Alaska und Sibirien. Wassertemperatur: vier Grad.
Croizon war 44 Jahre alt, hatte Jahre brutalsten Trainings hinter sich, an seinen Beinstümpfen waren Prothesen befestigt, daran die Flossen, eine Spezialanfertigung. Vor allem aber hatte er einen Joker: Er fürchtete den Tod nicht. Er kannte ihn.
Man begegnet Philippe Croizon, wenn man ihn kennenlernt, mit Befangenheit. Er und seine Freundin wohnen zweieinhalb Stunden südlich von Paris, in einem Bungalow, behindertengerecht, größtenteils finanziert von dem Geld, das die Versicherung damals zahlen musste. Sehr sauber, sehr ordentlich: Hier wohnen zwei, die ihr Leben organisieren müssen, damit es ihnen nicht entgleitet.
Croizon sitzt in einem Rollstuhl, festgegurtet. Er hebt den rechten Armstumpf zur Begrüßung. Es ist ein Händeschütteln ohne Hand: warm, weich, knochenlos. Croizon lächelt, als wollte er sagen: keine Angst. Er rollt an den Tisch. „Wovon soll ich erzählen? Von dem Mann, der ich jetzt bin? Oder von dem Mann, der ich vorher war?“
Am 5. März 1994, einem Samstag, leiht sich Philippe Croizon bei seinem Großvater eine Aluminiumleiter aus und macht sich daran, seine Fernsehantenne abzubauen. Croizon wohnt mit seiner Familie in einem grauen Haus in dem Dorf Saint-Rémy-sur-Creuse, seine damalige Frau und er haben einen Sohn, Jeremy. Sie wollen umziehen. Die Antenne will Croizon mitnehmen.
Croizon ist damals 25, Vorarbeiter bei einem Autozulieferer. Ein eher schmaler Mann, 60 Kilogramm bei 1,76 Metern, er gilt als freundlich, umsichtig. An diesem Morgen jedoch begeht er einen Fehler.
Er hat sich am Kamin festgebunden und die Schrauben der Antennenhalterung gelöst, er hievt die Antenne aus der Verankerung, als er merkt, dass er sie nicht mehr halten kann. Sie ist zu schwer. Es ist eine dieser altmodischen Antennen, mit einer Querstange obenauf. Sie kippt nach hinten, Croizon lässt nicht los, die Antenne verfängt sich in der Starkstromleitung, die in einem Abstand von etwa eineinhalb Metern – viel zu nah, wie die Untersuchung später erweisen wird – am Haus vorüberführt. Jetzt jagen etwa 20 000 Volt von der Leitung durch die Antenne, durch Croizons Körper, in die Leiter. Croizon ist augenblicklich gelähmt. Die Hitze ist überwältigend, sein Fleisch fängt an zu schmoren. Die oberen Holme der Leiter schmelzen. Dreimal, werden Ärzte später sagen, bleibt Croizons Herz stehen, aber der Strom setzt es immer wieder in Gang.
„Ich sah mein Leben vorüberziehen, mein erstes Fahrrad, meinen Vater, der mich zum Fluss mitnimmt, meine Heirat, Geburt meines Sohnes, alles im Zeitraffer. Ich weiß, das ist ein Klischee. Aber es ist wahr. Ich weiß es.“
Croizons Hände und Füße sind beinahe verkohlt. Die Operationen, erst in Tours, dann in Paris, dauern zusammen etwa hundert Stunden, Croizon erwacht aus der Narkose als Rest von sich, als Rumpf.
In den Tagen und Wochen danach, sagt er heute, habe sich sein Schicksal entschieden. Erst wollte er sterben, schließlich entschied er sich für das Leben. Aber er würde nicht jener sein, der er war. Also musste er ein anderer werden. Dann sah er, noch im Krankenhausbett, im Fernsehen eine Sendung über Ausdauerschwimmer. Und erkannte: Das ist mein neues Leben.
Das bin ich.
Ich werde durch Meere schwimmen.
Im Wasser ist sein Handicap mit entsprechenden Hilfen nahezu ausgeglichen. Mit eigens gefertigten Prothesen, mit langen Flossen etwa, ist er einem normalen Schwimmer sogar überlegen.
Vier Jahre dauert es, bis er so weit ist, dass er mit dem Schwimmen beginnen kann. Es folgen zehn Jahre Training. Die Suche nach Sponsoren. 400 000 Euro treibt er auf. Zwischendurch verlässt ihn seine Frau, er lernt Susanna kennen. Sie liebt und unterstützt ihn. Er schreibt ein Buch. Sie starten das Projekt. Jeden Tag legt er sich in seine Badewanne, nachdem er sie mit Eiswürfeln gefüllt hat. Philippe Croizons Programm reicht für mehrere Leben.
Am 18. September 2010 durchschwimmt er den Ärmelkanal. Dann die Passage zwischen Papua-Neuguinea und Indonesien. Die Meerenge zwischen Ägypten und Jordanien. Die Straße von Gibraltar. Schließlich die Beringstraße.
Es war die anstrengendste Etappe von allen, wegen der Brecher, der Kälte. Er hatte auf der Hälfte der Strecke das Gefühl, es nicht zu schaffen, erzählt er heute. Man kann nicht erklären, wie er es schaffte. Man kann nur annehmen, dass Philippe Croizon irgendwo in sich Reserven an Willenskraft fand, von denen er nichts ahnte, wie er sagt. Er sagt auch, es habe mit dem Tod zu tun.