Ab und zu ein Wal

Aleksander Doba springt auf von seinem Stuhl. „Hab ich von der Begegnung mit dem Pottwal erzählt? Es war an einem Abend. Glatte See. Schöne Luft. Plötzlich spüre ich eine Präsenz. Da ist was. Und ich drehe mich um, und da war er, ganz ruhig, ganz nah …“ Doba schluckt, macht eine Pause, ein Mann von 67 Jahren. Er trägt im Sommer kurze Hosen und wohnt in der Ulica Roweckiego, in Police, im Norden Polens. Er hat kräftige Hände, wenig Sitzfleisch und einen langen Bart. Von Beruf Ingenieur, inzwischen in Rente, verheiratet, Söhne, Enkel – ein ganz normales Leben, einerseits.

Andererseits ging die jüngste Reise des Mannes quer über den Atlantischen Ozean, in einem Kanu. Ein Mann, ein Meer. Über sechs Monate. Und ab und zu ein Wal.

„Die Schwanzflosse war so breit wie dieses Zimmer“, sagt er, er schaut sich in seinem Wohnzimmer um, blickt zum Fenster hinaus. Dann, leise: „War ein sehr schöner Moment.“

Am 5. Oktober 2013, um 16.08 Uhr Ortszeit, kletterte Aleksander Doba am Jachthafen von Lissabon, Portugal, in sein Kajüt-Seekajak aus Karbonfaser und Epoxidharz mit Schaumkern, ergriff sein Paddel, winkte kurz, und los ging’s, Richtung Westen, Amerika. An Bord hatte er Fleisch- und Kartoffelkonserven für 100 Tage, 220 Liter Trinkwasser sowie ein Meerwasserentsalzungsgerät. Drei Flaschen selbst gemachten Wein, 200 Tafeln Schokolade. Vier Zahnbürsten, fünf Leinenhüte, Nähzeug, Handschuhe, Schraubenzieher, Batterien, Handbücher, GPS-Gerät.

Etwa 8000 Kilometer lagen vor ihm. Er fuhr allein, klar. Weniger klar sind Sinn und Zweck der Sache. Warum über den Atlantik paddeln, wenn man zu Hause bleiben kann?

Zu Hause sei er lange genug gewesen, sagt Doba. Als junger Mann kannte er vor allem die Restriktionen in Polen; nirgends durfte man hin, alles Mögliche war verboten. Sehr spät erst habe er die Freiheit des Reisens entdecken können.

Doba sitzt an dem kleinen, polierten Esstisch im kleinen Wohnzimmer der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, Ulica Roweckiego 82, Wohnung Nummer 4, er wohnt hier mit seiner Frau, aber die will übrigens nur, dass dies seine letzte Reise war.

Er hat Kaffee gekocht. Er holt ein Schälchen Karamellbonbons und erzählt von Weite und Aufbruch. Von Lissabon aus paddelte er zunächst Richtung Süden, die afrikanische Küste entlang. Auf der Höhe von Casablanca bog er rechts ab. Von nun an ging es stur geradeaus. Links, rechts, er und der Atlantik, links, rechts, schätzungsweise 30 000-mal am Tag tauchte er das Paddel ein, und er kam von der Stelle, aber eben sehr, sehr langsam; der Paddler, Pilger der Meere.

Doba folgte erst dem Kanarenstrom, dann dem Nordäquatorialstrom, am 20. nördlichen Breitengrad entlang. Oft war die See glatt. Tagelang nichts als Stille, Einsamkeit. Das Glucksen des Wassers am Kanu. Manchmal kamen Fische, der Schatten des Kanus hatte sie womöglich angelockt. Er habe mit ihnen geredet. „Ich sagte Dinge wie: ,He, dich kenne ich! Warst du schon mal hier? Was hast du für eine schöne Flosse!'“

Albatrosse am Himmel. Fregattvögel kamen, landeten auf dem Boot, ruhten sich aus, putzten ihr Gefieder. Ein kleines Exemplar landete auf Dobas ausgestrecktem Zeigefinger. Er habe, sagt er, noch lange das hauchzarte Gewicht dieses Tieres auf seinem Finger gefühlt.

Eines Abends, auf der Hälfte der Reise, traf ein Hieb das Kanu; ein Tigerhai hatte das Boot gerammt. „Er blieb nur wenige Handbreit unter der Oberfläche, war angriffslustig. Aber wozu hab ich ein Paddel? Zwei kräftige Schläge gegen den Kopf, tack-tack, so, fertig!“ Der Hai, erzählt Doba, sei dann unter dem Boot hindurchgeglitten, in mörderischer Anmut. Wegen der Haie traute sich Doba übrigens nicht, sich schwimmend abzukühlen. Auch seinen Darm zu entleeren, was nur alle paar Tage nötig war, wagte er nur, wenn er zuvor lange das Wasser beobachtet hatte, denn er musste sich dazu über die Bordwand hängen. Wochen vergingen. Links, rechts. Beim Paddeln trug er Hemd, Hut, Halstuch; untenherum: nic totalny, nichts.

Er geriet in Stürme. Aber was für welche, sagt Doba. „Gibt ja auf dem Meer keinen Schutz.“ Tage und Nächte hindurch trommelte der Regen, und die Wellen türmten sich, hochgeschoben wurde das winzige Kanu, tanzte auf dem Wellenkamm, raste abwärts auf der Welle. Blitze schlugen ins Wasser ein, und dort, wo sie eingeschlagen hatten, war die Luft erhitzt, wie elektrisch. Es war, sagt Doba, als wäre man mittendrin im Urknall.

Nach jedem Sturm: Erschöpfung. Trotzdem paddeln, immer westwärts. Links, rechts. Jeden Tag acht Stunden. Dann an die Entsalzungspumpe, drei Stunden lang, um Trinkwasser zu erzeugen. Anschließend Trockennahrung, zwei oder drei Tassen Wasser, Schokolade. Und schlafen.

Die Zähigkeit, den Willen für diesen Kraftakt – diese Eigenschaften musste Doba erst ausfindig machen. Äußerlich überquerte er den Atlantik, tatsächlich ging seine Reise nach innen. Irgendwo in den Ressourcen seiner Persönlichkeit muss er etwas entdeckt haben, was er daheim nicht entdeckt hätte – Mut vielleicht, das Gefühl, alles schaffen zu können.

Am 19. April 2014, nach 167 Tagen auf See, kam er an in New Smyrna Beach, Florida. Er war dehydriert, taumelte, sein Körper war bedeckt mit schmerzenden Salzwassergeschwüren. Die Augenlider waren entzündet, die Hände geschwollen, die Nägel aufgequollen, er war sehr glücklich.