Streit

Als der Landarbeiter Juacelo Nunes de Oliveira am Abend des 28. Dezember 2014 in die Notaufnahme der Unfallklinik „Professor Zenon Rocha“ kommt, ist er bei klarem Bewusstsein, er kann sogar mit seiner Frau sprechen, was nicht selbstverständlich ist, denn in seinem Kopf steckt, bis zum Anschlag, ein Messer.

Juacelo, auf einer Trage liegend, erklärt seiner Frau in abgerissenen Worten, dass es ihm leidtue, sie möge die Kinder in seinem Namen küssen, was sie unter Tränen verspricht.

Das Messer ist an der linken Schläfe eingedrungen, es steckt schräg im Schädel, bis an den rechten Unterkiefer. Länge der Klinge: 30 Zentimeter, ein Grill- und Küchenmesser.

Die Klinik „Professor Zenon Rocha“ liegt an der Bundesstraße 343, am südlichen Stadtrand von Teresina. Die Stadt ist Verwaltungssitz des Bundesstaates Piauí im Nordosten Brasiliens. Die „Rocha“ ist ein dreistöckiger Bau, erst seit 2008 in Betrieb, 289 Zimmer, und in der Notaufnahme herrscht an diesem Abend wieder mal Hochbetrieb – zwischen Weihnachten und Neujahr gibt es überdurchschnittlich viele Unfälle, Schlägereien, die Ärzte haben alle Hände voll zu tun. Einer von ihnen ist Salomão Oka; jung, tüchtig, freundlich. Oka ist gerade dabei, einem Mädchen das Kinn zu bandagieren, als ein Kollege die Tür zum Behandlungszimmer aufreißt, sinngemäß sagt er: Komm, ein hammerharter Fall!

Wenige Stunden zuvor, am frühen Abend des 28. Dezember, hatte Juacelo, trotz Monatsende, immer noch etwas Geld übrig, er beschloss, zur Bar do Zanzão zu fahren, dort würde Seresta gespielt werden, weiche Folkmusik aus dem Nordosten, die Songs von Chico Paulo oder Chico Seresteiro, und er würde zwei, drei Bier trinken, auf keinen Fall mehr, Juacelo nahm sich selbst das Versprechen ab.

Juacelo und seine Familie, Frau und vier Kinder, leben in der Kleinstadt Agua Branca, anderthalb Autostunden von Teresina entfernt. In Juacelos Gegend haben die Straßen keine Namen: Straße 3, Block 3. Juacelo bebaut dort ein kleines Stück Land, Mais, Süßkartoffeln, Gemüse, außerdem gehört ihm ein schwarzes Honda-Motorrad, 125 Kubikzentimeter, mit dem er Leute kutschiert und gelegentlich Besorgungen macht. Die Kinder heißen Jardel, Jardiel, Jardeana, Ismael. Die Frau arbeitet auf dem Feld mit. Sie kommen gerade so durch. Es ist ein hartes, eintöniges Leben.

Bei Zanzão lief erstklassige Musik, Juacelo trank ein schnelles Bier, mit dem zweiten ließ er sich mehr Zeit, er fühlte sich gut. Irgendwann musste er pinkeln, wollte zur Toilette, da verstellte ihm E. den Weg, ein großer, dunkler, muskulöser Mann, der vor der Toilettentür stand und ihn anschnauzte. Warum?

„Ach, weil er mich hasst, das war schon immer so!“

So geht Juacelos Version, er erzählt sie später am Telefon. Es gibt aber auch eine andere Version, die die Leute von Agua Branca sich erzählen, eine, die erklärt, woher der Hass gekommen sein könnte: Juacelo habe mit E.s Freundin angebandelt. Und in der Macho-Welt, in der Juacelo lebt, wird aus Eifersucht und Wut schnell Gewalt.

E., so erzählen es Augenzeugen, schubste Juacelo vor sich her. Er schlug nach ihm. Juacelo wich den Fausthieben aus, wollte fliehen, so bestätigt es auch die Polizei nach Zeugenbefragungen, aber plötzlich hatte E. ein Messer in der Hand, er stach viermal zu, plötzlich war das Messer weg.

Der Griff ragte aus Juacelos Kopf, der stöhnend zusammenbrach, während E. aus der Bar hastete. Und seitdem fehle von E. jede Spur, sagt die Polizei.

Im Krankenhaus in Teresina ordnet Oka jetzt eine Computertomografie an; das Gehirn ist unverletzt, der Sehnerv ebenfalls. Oka lässt Juacelo in den OP 9 bringen. Die Operation ist heikel: Beim Herausziehen der Klinge könnten Blutgefäße verletzt werden, die dann sofort versorgt werden müssten. Außerdem wollen die Ärzte Juacelo keine Vollnarkose geben, Grund: Sie können ihn nicht künstlich beatmen, die breite Klinge blockiert den Nasenrachenraum, dort, wo der Tubus in die Luftröhre eingeführt werden müsste. Das heißt, Juacelo ist zwar sediert, muss die Operation aber bei Bewusstsein durchstehen. Zum Glück, denkt Oka, steht Juacelo unter Schock, und die Hormone, die ausgeschüttet werden, vor allem Adrenalin und Kortison, bewirken, dass er die Schmerzen nicht so stark verspürt.

Sie legen Juacelo auf den Rücken, eine Schwester hält seine Hand. Sie ziehen die Klinge jetzt heraus, sehr langsam, sehr behutsam, immer nur etwa einen halben Zentimeter, dann schauen sie nach, ob es Blutungen gibt.

Noch ein halber Zentimeter.

Zu Juacelos Glück befanden sich an jenem Abend, als er verwundet wurde, zwei Freunde in Zanzãos Bar: José Souza Amorim und Leo Gonçalves de Souza. Sie halfen Juacelo hoch, besprachen sogar, ob sie selbst das Messer aus seinem Schädel ziehen sollten, entschieden sich aber dagegen, eine auf jeden Fall richtige Entscheidung. Sie halfen dem Verletzten auf ein Motorrad und nahmen ihn zwischen sich. Sie fuhren ihn zu der kleinen Klinik von Agua Branca, etwa 15 Minuten holpriger Fahrt. Von dort brachte ihn eine Ambulanz nach Teresina, schließlich auf den Behandlungstisch in Zimmer 9.

Noch ein halber Zentimeter.

Noch ein kleines Stück.

Wenige Tage später wurde Juacelo als geheilt entlassen. Er ist wieder daheim, bei seiner Familie, eine Narbe ist ihm geblieben. Er wolle jetzt sein Leben ändern, sagt er, seiner Frau keinen Kummer mehr machen, das habe er aus der Geschichte gelernt.

Während der Operation, erzählt er, habe er kaum Schmerzen gespürt, nur das Knirschen und Reiben des Metalls auf Knochen sei unangenehm gewesen. Er habe gebetet während der Operation, und es sei gut gewesen, dass da jemand seine Hand hielt.