Kauai ‚o ‚o

Der nette Mr Prentice, er möchte übrigens, dass man ihn bei seinem Vornamen, Will, nennt, – Will also steht in Tonstudio 3, er beugt sich über den Rechner und – ah, da ist sie, die gesuchte Datei, Will klickt sie an, man hört einen Vogel mit einem hellen, simplen Ruf, piep-piep-flöt. Drei Töne, mehr oder weniger. Das Ganze dauert 29 Sekunden. Nicht sehr aufregend.

Oh, sagt Will, diese Aufnahme ist etwas ganz Besonderes!

Das Tondokument, erzählt er, stammt aus dem Jahr 1983, aufgenommen auf Kauai, einer der acht Hauptinseln von Hawaii. Und der Vogel ist der „Kauai ‚o ‚o“ aus der Familie Mohoidae, ein Nektar liebender, aber auch Insekten nicht verschmähender kleiner Kerl, den sein aufwendiger Name nicht vor einem sang- und klanglosen Aussterben bewahrte: Sein Lebensraum wurde umgewandelt, ausradiert, hinzu kamen diverse Krankheiten und Ratten, die die Nester plünderten – und, jedenfalls, im Jahr 1982 gab es auf der ganzen Insel nur noch ein einziges Pärchen, das unzertrennlich war, verständlicherweise. „Und dann“, sagt Will, „kam ein Hurrikan.“

Bei der Aufnahme, die im Jahr darauf entstand, hört man den allerletzten Vogel seiner Art, das Männchen. Es fahndet nach seinem Weibchen. „Aber dieses Weibchen wurde beim Hurrikan getötet“, sagt Will, und darum sei, bei allem Engagement des Männchens, das Ganze ein „uphill battle“, ein aussichtsloser Kampf. Es sei, als würde der letzte Mensch auf Erden sich noch bei Parship.de eintragen.

Die Aufnahme ist eines von sechseinhalb Millionen Dokumenten – manche währen nur Sekunden, andere gehen über Stunden -, die Will und sein Team archivieren, hier im Norden von London, in der Euston Road 96. Hier residiert das Sound Archive des Königreichs, Unterabteilung der British Library, im zweiten Stock die Werkstätten und Labors, drei unterirdische Geschosse beherbergen das Archiv, Zugang nur mit Sonderausweis. Nur die Library of Congress in Washington, D. C., sagt Will, habe einen ähnlichen Bestand.

In London haben sie den verzweifelten Kauai ‚o ‚o, aber sie haben auch Hitler, Stalin, Churchill, und sie haben ein grollend anrückendes Gewitter über dem Meer vor Schottland. Es gibt das Geschepper von Kirchenglocken aus der Normandie, es gibt eine australische Radioshow aus den Zwanzigerjahren, es gibt das Dröhnen der deutschen Bombenangriffe auf London.

Sie haben das Hämmern und die derben Witze im Cockney-Slang der Werftarbeiter, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Docks, wo sie an den aufgedockten Schiffsrümpfen schufteten. Sie haben einen Buschmann aus der Kalahari-Wüste, der einen girrenden Gesang anstimmt. Pete Townshend von The Who spielt eine Frühversion seines „Pinball Wizard“ ein – es ist, alles in allem, der Soundtrack von fast eineinhalb Jahrhunderten, ein toller Schatz, ein Rheingold der Klänge, und Will und seine Kollegen, eine Truppe nett verschrobener Sound-Ingenieure und Tonband-Bastler, sie sind die Hüter.

Aber sie plagt auch ein Problem. Das Material zerfällt gerade zu Staub. Das Alter, sagt Will.

Die ersten Tonaufzeichnungen sind sehr betagt; die Geschichte dieser Technik beginnt im Jahr 1857 mit der Erfindung eines Pariser Buchhändlers und Freizeitgenies namens Édouard-Léon Scott de Martinville. Der bastelte aus einem Horn nebst Membran eine Art Mikrofon. Als Schwingungsschreiber nahm er eine Schweinsborste. Und als Aufzeichnungsmedium benutzte er eine mit Ruß beschichtete Walze; später wird der Ruß durch Wachs ersetzt werden. Im klimatisierten Keller in der Euston Street lagern 3500 solcher Wachszylinder aus der Zeit um 1880. Will gibt ihnen nur noch wenige Jahre.

Und das gelte, sagt er, auch für viele der Zinnfolien, für das Hartgummi der Grammophonplatten, für die Tonbänder, Kassetten, Minidisks, Floppy-Disks, Dat-Bänder, Betamax-Bänder – Material besteht eben, wie der Name sagt, aus Materie, es zerfällt, und Will und seine Kollegen überspielen alles auf vier im Land verteilte Server. Fünf Aufnahmestudios sind ständig in Betrieb; in der Werkstatt und im Labor lagern rund 2500 Geräte – einige Dutzend Grammophone, Studer-Tonbandgeräte, Kassettenrekorder. Und natürlich gibt es eine Prioritätenliste, und natürlich schuften Will und seine Leute – aber es reicht nicht. „Wir haben noch etwa 15 Jahre Zeit, dann wird der Großteil des Materials nicht mehr zu retten sein. Im bisherigen Tempo brauchen wir aber noch 48 Jahre. Uns fehlen also 33 Jahre.“

Oder 40 Millionen Pfund. Wenn sie die bekämen, zusätzlich zu ihrem sonstigen, gerade fünfstelligen Budget, wären ihre Probleme gelöst. Doch die Haushaltslage in Großbritannien ist nicht gerade glänzend; im Parlament, Unter- und Oberhaus, regnet es durchs Dach, im Tea Room gibt es eine Mäuseplage, und nicht mal dafür ist Geld da.

Und so haben sie zwar zahllose Berichte verfasst, Briefe geschrieben, sich an die Presse gewandt – vergebens. Natürlich gibt Will nicht auf, wie auch der Kauai ‚o ‚o, der kleine Vogel, zäh kämpfte, kein Wunder, dass Will ihn mag.

Aber ist es wirklich wichtig, die Klänge von eineinhalb Jahrhunderten zu retten? Ist das 20. Jahrhundert nicht ohnehin rauf und runter dokumentiert – durch Fotos, Filme, Romane, Gedichte, Malerei? Und ist es nicht auch mal wohltuend, anregend, manches nicht zu wissen? Hätte Büchner „Dantons Tod“ verfasst, wenn er die Sitzungen der Jakobiner und des Wohlfahrtsausschusses auf seinem Smartphone gehabt hätte?

Aber Will und seine Leute denken eben anders. Sie sind Archivare. Das Sammeln und Systematisieren ist ihre Mission. Sie arbeiten für künftige Generationen, sie glauben an die Menschheit und an die Zukunft, und vielleicht sind es solche Leute, die die Welt zusammenhalten.