Neues, fremdes Leben

Ein Mann, klein, kräftig, in einer braunen Jacke, läuft über ein Stoppelfeld. Es liegt unweit der Ortschaft Röszke, an der ungarisch-serbischen Grenze. In der linken Hand trägt der Mann einen Stoffbeutel mit der Aufschrift „Bio macht schön“. Vor sich im Arm, während er rennt, hält er ein wimmerndes Kind, seinen Sohn Said, sieben Jahre alt. In der Unterhose des Mannes, eingenäht, befinden sich 600 Dollar. Sein Name: Osama Abdul Mohsen, 53 Jahre alt, syrischer Staatsbürger, Sportlehrer, Fußballtrainer, Flüchtling.

Es ist der 8. September 2015 – ein Tag, der dem Leben des Osama Abdul Mohsen eine entscheidende Wende geben wird.

Mohsen und sein kleiner Sohn Said sind zwei von Hunderttausenden, die im Krisenjahr 2015 aufgebrochen sind, die sich auf den Weg machten nach Europa, auf der Suche nach einem sicheren oder menschenwürdigen oder besseren Leben. Beinahe 4000 Menschen ertranken im Mittelmeer oder gelten als vermisst; manche dieser Geschichten enden dramatisch und tragisch. Es gibt andere, die ein gutes Ende finden. Aber keine ähnelt der von Osama Abdul Mohsen: Ihn und seinen Sohn erwartet ein besonderes Schicksal.

Auf dem Feld bei Röszke, oder Reske, wie der serbische Name lautet, befinden sich an jenem Tag schätzungsweise 1000 bis 1500 Menschen, neben den Flüchtlingen sind mehrere Hundertschaften ungarischer Polizisten dort, außerdem Journalisten, Kamerateams. Manchmal kommen Busse, um Flüchtlinge von hier nach Budapest zu karren, doch es sind zu wenige. Die Polizisten wiederum haben offenbar den Befehl bekommen, die Flüchtlinge auf dem Feld und unter Kontrolle zu halten, eine Order, gegen die die Menschen erbittert aufbegehren. Alle laufen, schreien durcheinander.

Der Himmel über dem Feld ist grau. Nachts wird es jetzt schon kalt, sinkt die Temperatur auf zwei, drei Grad über null.

Mohsen und sein Sohn haben die vergangenen Nächte draußen verbracht, die letzten beiden hier auf dem Feld. Said hustet seitdem, seine Stirn fühlt sich heiß an. Sie hatten eine Decke, bis heute, am Morgen wurde sie ihnen gestohlen. Einige Nächte unter freiem Himmel kann Said noch überstehen, ohne ernsthaft krank zu werden, aber nicht viele.
Sie kommen aus der Stadt Deir al-Sor im Osten Syriens, und eigentlich wollen sie nach Deutschland, wo Mohsens 18-jähriger Sohn Mohammad bereits angekommen ist und auf ihn wartet. Vielleicht aber auch nach Dänemark oder Schweden. Bislang ging es einigermaßen, sie wurden nicht beraubt, sie kamen voran, sie haben noch etwas Geld, und vor allem leben sie noch.
Trotzdem ist dieser Dienstag der Tiefpunkt ihrer Reise; die Polizisten halten sie fest, seit zwei Tagen. Mohsen ist verzweifelt wie nie zuvor.

Es wird ihn gleich noch schlimmer treffen. Eine ungarische Journalistin wird ihm ein Bein stellen, während er über das Feld läuft. Die Szene wird zufällig gefilmt werden, im Netz landen und viele Millionen Male aufgerufen werden. Die Frau wird ihren Job verlieren, ihr Leben, wie es zuvor war, wird zerbrechen, Mohsen wird ein neues bekommen.

Eigentlich ist die Kamerafrau Petra László an diesem Tag als Reporterin in Röszke, sie arbeitet für einen rechtslastigen Sender; aber vielleicht fühlt sie sich mehr als Ungarin, die ihr Land verteidigt, die den Polizisten hilft. Oder sie hat einen Blackout. Oder sie ist einfach kein freundlicher Mensch. Der SPIEGEL hat mehrmals versucht, mit Petra László Kontakt aufzunehmen, sie zu einem Interview oder einer Stellungnahme zu bewegen, vergebens. Der Eindruck: eine Frau, die sich ganz in sich zurückgezogen hat.
Als Mohsen an ihr vorüberhastet, nachdem er eine Lücke in den Reihen der Polizisten entdeckt hat, reagiert sie mit einer beiläufigen Bewegung – halb ist es ein Tritt, halb stellt sie ihm ein Bein. Er stolpert, er stürzt. Said schreit. Mohsen rappelt sich auf. Hält irrtümlich einen Polizisten, der danebensteht, für den Täter. Brüllt den Beamten an, selbst dabei den Tränen nahe: „Das ist die Tat eines Hundes, jawohl!“

Die Szene wird von einem RTL-Reporter gefilmt, zufällig. Erst später wird der aber die Bilder sichten und entdecken, was er da eigentlich aufgenommen hat.
Mohsen und Said schlagen sich nach dem Sturz schließlich zu einem Wäldchen durch, finden gegen Abend eine Straße und machen sich auf den Weg nach Budapest, zu Fuß. Sie wissen nicht, dass sie gefilmt worden sind, sie denken nicht im Traum daran, dass die Sequenz vom Sturz sie berühmt machen, dass sie Mohsen aus der Masse der Migranten herausheben wird.
Wenig im Leben des Osama Abdul Mohsen ließ vermuten, dass ihm ein besonderes Schicksal bestimmt war. Mohsen wuchs auf in dem Dorf Mahatta al-Sania nahe der irakisch-syrischen Grenze, als Sohn eines Lastwagenfahrers, als achtes von zehn Kindern. Es ist eine Zeit, da auch in Syrien die Verhältnisse durchlässiger werden. Osamas Vater konnte mit Not seinen Namen schreiben; Mohsen hingegen studierte in Aleppo und entschied sich für einen damals in der arabischen Welt exotischen Beruf: den des Fußballtrainers.

Nach dem Militärdienst heiratete er, vier Kinder kamen. Er wurde Sportlehrer, trainierte Jugendmannschaften, war Trainer in der Profiliga. Den Druck und die Demütigungen, die ein Leben unter einer Diktatur mit sich brachte, die ständige Einmischung des Regimes in sportliche Belange, die Manipulation von Spielen, die Überwachung durch die Geheimpolizei, hielt er aus. Für alles entschädigte ihn das Spiel, die Freiheit.

„Fußball ist wie das Leben“, sagt Mohsen, „zwischen Anpfiff und Abpfiff, wie zwischen Geburt und Tod, enthält es alle Möglichkeiten“, man müsse sie nur nutzen.
Mohsen hatte sich arrangiert mit seinem Leben, er war zufrieden. Doch dann kam der Arabische Frühling. Und der Krieg kam nach Deir al-Sor.

Die Erinnerung an die Monate unter ständigem Beschuss sitzt ihm noch immer in den Knochen. Wenn die Granatfeuer einsetzten, mit dem sich schnell nach oben schraubenden Heulton, drei- oder viermal am Tag, schnappte Mohsen sich seine Tasche mit Wasser, Streichhölzern, Verbandszeug, nahm Said auf den Arm und scheuchte seine Familie vom dritten Stock nach unten in den improvisierten Bunkerraum. Die Wohnung lag in der Firdaus-Straße. Die Altstadt war ein beliebtes Ziel für Granatwerfer. Sie hatten inzwischen einen Belagerungsring um die Stadt gelegt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie erwischen würde.

Anfang 2012 konnte man noch aus Deir al-Sor entkommen. Doch man brauchte Geld zur Flucht; Geld, das Mohsen nicht hatte. Eines Abends kam sein Bruder zu ihm in die Wohnung, öffnete den Wohnzimmerschrank, legte ein Bündel hinein und erklärte: Hier sind 3500 Dollar, es ist alles, was ich habe. Wenn du es brauchst, gehört es dir.

Jetzt konnten sie die Flucht antreten. Drei Jahre dauert ihre Odyssee.

Die erste Station ihrer Flucht ist die türkische Stadt Mersin, am Mittelmeer. Hier wollen sie bleiben. Aber die Jobs, die Mohsen dort bekommt, reichen nicht zum Leben. Sie fassen einen Entschluss: Sie werden weiterziehen. Aber nicht alle auf einmal. Mohsens Frau bleibt mit der Tochter und dem ältesten Sohn in der Türkei. Mohammad, der zweitälteste Sohn, flieht über Italien. Und Mohsen und Said, der Kleinste, wählen die Balkanroute.

Und so gelangen sie an jenem 8. September 2015 auf das Feld bei Röszke.

Der Grenzübergang bei Röszke, 164 Kilometer von Budapest entfernt, ist einer der wenigen zwischen Serbien und Ungarn, die zu jenem Zeitpunkt noch offen sind. Polizisten haben das Feld umringt, aber das Areal ist groß, es hat etwa die Größe von drei Fußballplätzen, es gibt Lücken in ihren Reihen.

Die Polizisten haben Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt; aber noch ist niemand brutal zusammengeschlagen worden. Was vielleicht auch an der Anwesenheit der Journalisten liegt: Etwa 30 Reporter und TV-Teams sind zugegen. Einer der Fernsehleute ist Stephan Richter, er kommt aus Deutschland und arbeitet für RTL.
Stephan Richter, schlaksig, freundlich, hat ein Problem, er hat in dem Gewühl seinen Kameramann verloren. Unweit von Richter steht eine ungarische Kamerafrau, die für N1TV arbeitet, einen Sender in Budapest, sie trägt einen Mundschutz. Es ist Petra László. Blond, schätzungsweise Mitte vierzig. Hellblaues Hemd, Jeans.

Richter zückt sein iPhone, schwenkt es über seinem Kopf – so kommt er wenigstens, auch ohne Kameramann, an Bilder.

Inzwischen bewegt sich Mohsen, um Unauffälligkeit bemüht, am Rand des Feldes. Dahinter liegt ein Wäldchen.

Über Deutschland, das seine neue Heimat werden soll, weiß Mohsen wenig. Nur die folgenden Namen kann er aufsagen wie am Schnürchen: Neuer, Boateng, Lahm, Rafinha, Badstuber, Alonso, Martínez, Vidal, Müller, Coman, Lewandowski, die Spieler von Bayern München. Er kennt auch die Teams von Borussia Dortmund, vom HSV, von Schalke, die halbe Bundesliga. Über Ungarn hingegen weiß er nichts. Aber er spürt Feindseligkeit.

Und jetzt, da er entwischen will, bringt ihn eine ungarische Kamerafrau zu Fall.
Und ein deutscher Fernsehjournalist filmt alles.

Noch am selben Abend twittert Richter, der RTL-Mann, die Szene. Sie wird 945 000-mal angeklickt. Bei Facebook sind es anfangs etwa 95 000 Klicks. Der britische Sender Channel 4 wird aufmerksam, stellt die Bilder ins Netz, jetzt gibt es mehrere Millionen Aufrufe. Insgesamt, schätzt Richter, der die Klickzahlen verfolgt, sei die Aufnahme wahrscheinlich 30 bis 40 Millionen Mal gesehen worden.

Der Film ist auch deshalb so erfolgreich, weil er wie geschaffen ist für YouTube. Die Szene ist kurz und bringt eine dramatische Krise auf ein für alle verständliches Format: Ein Flüchtling rennt, eine böse blonde Frau lässt ihn stürzen, pardauz, aber er kann aufstehen.

Bei aller Einfachheit enthält das Video auch einen moralischen Appell: So will Europa nicht sein, so weit darf es nicht kommen. Vielleicht hat Petra László an jenem Tag mehr für Flüchtlinge bewirkt als viele Mahner und Sonntagsprediger. Für Mohsen jedenfalls wendet sich das Blatt.

Denn inzwischen hat auch ein Mann in Spanien, in einem Vorort von Madrid, die Aufnahme gesehen. Er heißt Miguel Angel Galán und ist Presidente des spanischen Verbands der Fußballtrainer.

Hunderte Kilometer entfernt, in seinem schicken Büro an der Plaza de España in Getafe, lässt Galán der Gedanke nicht los, dass es sich bei dem armen Kerl auf dem Video um einen Kollegen handelt, einen Mann aus dem Fußballfach. Diese Information kursiert da bereits im Netz. Der Spanier reagiert wie ein empörter Trainer, der gegen ein besonders unfaires Foul protestiert.

„Mir war sofort klar, dass wir helfen müssen“, sagt er. „Der Mann war schließlich einer von uns, und so luden wir ihn ein nach Spanien.“

Die Haltung ist nicht ganz frei von Selbstgefälligkeit: Wäre der Flüchtling Mohsen ein Stabhochsprungtrainer, hätte man ihn dann seinem Schicksal überlassen?
In Deutschland angekommen, bekommt Mohsen einen Anruf, den er, wie er sagt, nie vergessen wird. Galán meldet sich, mit einem Dolmetscher: Ob Mohsen nicht nach Spanien kommen möchte, nach Madrid? Zu einer Trainerschule? Mit Arbeitsvertrag und Sprachkurs und Wohnung? Mohsen sagt, ihm sei fast die Sprache weggeblieben.

Mohsen traf in München seinen Sohn Mohammad, der sich bis dort allein durchgeschlagen hatte. Gemeinsam fuhren sie mit dem Zug nach Madrid. Miguel Galán hatte eine Feier zur Ankunft der drei im Bahnhof Puerta de Atocha organisiert. Der Superstar Cristiano Ronaldo würde sich Tage später mit Mohsen fotografieren lassen. Said, Mohsens kleiner Sohn, durfte sogar mit Ronaldo bei einem Spiel im Stadion einlaufen. Ein Happy End, vorläufig.

Einige Wochen später sitzt Osama Abdul Mohsen auf einem knarrenden Stuhl unter einer funzeligen Wohnzimmerlampe, in einer kleinen Wohnung in einem Vorort von Madrid, die Wohnung hat man ihm zugewiesen.

Die Kinder, Said und Mohammad, hat er zu Bett geschickt, morgen ist wieder Schule. Und er, Mohsen, müsste eigentlich noch die Küche in Ordnung bringen, abwaschen, aufräumen, den Müll runterbringen. Aber er ist zu erschöpft. Dieses Saubermachen hat er nie geübt, es gab immer seine Mutter, dann seine Ehefrau, die das erledigten. Arabische Männer stehen nicht oft in der Küche.

Die beiden anderen Kinder, der siebenjährige Said und der ältere Mohammad, sind nun bei Mohsen in Madrid. Er gibt sich Mühe. Er kann ein wenig kochen, Rührei mit Tomaten ist seine Spezialität. Bohnen mit Huhn kriegt er ebenfalls hin. Aber die Küche sieht danach aus wie ein Sturmschaden.

Mohsens Wohnung liegt in der Calle de Madrid, in Getafe, einem Vorort der spanischen Hauptstadt. Die Leute vom landesweiten Verband der Fußballtrainer, „Cenafe Escuelas“, haben ihm die Wohnung beschafft, ausgestattet, Bettzeug, Handtücher, Küchenutensilien, Stühle, einen Fernseher. Sie waren es auch, die ihm eine Arbeitserlaubnis besorgten und eine Anstellung gaben. Offiziell soll er eine Abteilung aufbauen, die Kontakte zu arabischen Fußballverbänden knüpft.

Der Job ist Fassade, noch jedenfalls. Mohsen weiß, er muss erst mal die Sprache lernen, was ihm schwer genug fällt. Aber wenigstens kriegt er ein Gehalt, knapp 2000 Euro, und abzüglich der Ausgaben für Miete und Essen bleiben ihm 200 oder auch mal 300 Euro, die er seiner Frau schicken kann. Ansonsten muss er daran arbeiten, hier anzukommen.

Denn angekommen ist er noch nicht. Auch wenn Getafe, Spanien, jetzt seine Heimat ist. Doch er hätte nicht gedacht, sagt er, wie fremd und andersartig diese Welt hier sei.

Während seine Söhne sich gierig in ihr neues Dasein fallen lassen, spanische Vokabeln aufschnappen, lernen, wie Paella schmeckt und wie das mit dem Flaschenpfand funktioniert, kann ihr Vater noch immer nicht nach dem Preis für ein Pfund Tomaten fragen. Er hat dieser Tage die Verben auf -er und -ar gelernt. Doch wenn drei Spanier laut und schnell durcheinanderreden, dann versteht er nichts. „Als würden Steine auf mich regnen, so klingt es“, sagt er.

Manchmal, am Samstagnachmittag oder am Abend, geht er zu der Getafe-Sportanlage, wo ein Dutzend Mannschaften trainieren, aber dort drückt er sich herum wie ein Fremder. Keiner kennt ihn, grüßt ihn, er wird nicht zu Rate gezogen, er ist nur Zuschauer.

Zum Fußballgucken bevorzugt Mohsen das Café Marroquin in der Calle Doctor Barraquer. Hier sitzen Marokkaner, Ägypter, Tunesier, nur Männer, sie sitzen vor dem Flachbildschirm und schlürfen Pfefferminztee, stark gesüßt, oder rühren mit klimpernden Löffeln in ihren Mokkatassen. Hier wird Arabisch gesprochen, wie ein Baldachin spannt sich die gemeinsame Sprache über den Köpfen der Männer, das Gemurmel schwillt nur an, wenn ein Tor fällt.

Es gäbe zig andere Cafés, die von Mohsens Wohnung bequemer zu erreichen wären. Aber im Marroquin wird er als Freund begrüßt. Er schüttelt Hände, klopft auf Schultern, genießt das weiche „Salam alaikum“ statt des einschüchternd hingezischten „Buenos días!“.

Mohsen weiß, dass es keine Lösung wäre, in einer Parallelkultur unterzuschlüpfen – jedenfalls nicht, wenn er als Fußballtrainer arbeiten will. Er muss in dieser anderen Welt ankommen, in Europa, in Spanien.

Seine Ängste und Bedenken behält er für sich, meistens. Andere Flüchtlinge aus Syrien leben in Zelten oder Notunterkünften, in Beirut ziehen sie bettelnd durch die Straßen. Dagegen ist er ein Luxusflüchtling, der Vorzeigesyrer, so ist er schon genannt worden. Er ist zu einer Symbolfigur geworden: Andere Flüchtlinge rufen ihn an, bitten ihn um Hilfe, halten ihn für einen Mann mit Einfluss.

Kurze Zeit gab es auch andere, böse Gerüchte um ihn, die sich im Netz verbreiteten. Der berühmte Flüchtling sei ein Sympathisant der radikalislamischen Nusra-Front, hieß es da. Er sei beteiligt gewesen an einer Gewaltaktion gegen die Kurden. „Ich habe damit nichts zu tun, ich lehne Gewalt grundsätzlich ab“, sagt Mohsen dazu. Wehren konnte er sich nicht gegen diese Anschuldigungen ohne jegliche Beweise.

Osama Abdul Mohsens derzeitiges Leben ist auch eine Art Testlauf, ein öffentlich zu beobachtendes Experiment für Integration. Wenn es nicht mal ihm gelingt, hier erfolgreich anzukommen, mit all der Unterstützung, dem Wohlwollen seiner Gönner, wie soll man es dann von anderen Flüchtlingen verlangen?

Mohsen bekam eine Wohnung, Möbel, Sprachkurs – ansonsten überließ man ihn sich selbst. Er hat 50 Jahre in Syrien gelebt, sein Leben dort hat ihn nicht auf Europa vorbereitet. Er brauchte jetzt Geduld, Kraft, doch diese Ressourcen hat er in den vergangenen Jahren aufgebraucht. Er wirkt jetzt oft einsam.

Vor ein paar Tagen hat er erfahren, dass sein sehnlichster Wunsch wohl erst mal nicht in Erfüllung gehen wird, dass es Probleme gibt, seine Frau und seine beiden anderen Kinder nachkommen zu lassen. Das spanische Einwanderungsgesetz verlangt ein polizeiliches Führungszeugnis, einen Nachweis der Familienzugehörigkeit und eine Personenidentifikation. Diese Papiere könnte nur die syrische Botschaft in Ankara ausgeben.

Doch dort weigert man sich, nicht sehr überraschend, Mohsens Frau zu empfangen. Ohne die Dokumente aber wollen die Spanier den Familiennachzug nicht erlauben. Die Regierung ist da ganz streng, will keine Ausnahmen zulassen, um die sechsköpfige Familie zusammenzuführen.

Noch kurz vor Weihnachten lud Galán vom spanischen Trainerverband gemeinsam mit seinem Schützling Mohsen zu einer Pressekonferenz. Im Namen von Mohsen hat der Verband einen Brief an den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy geschrieben und ihn aufgefordert, ein beschleunigtes Asylverfahren für die Familie einzuleiten – fraglich, ob es etwas nützt.
Galán besorgte Mohsen Flugtickets; damit er seine Familie in der Türkei nach mehr als vier Monaten wenigstens für ein paar Tage sehen kann.

„Said fragt sehr oft nach seiner Mama“, sagt Mohsen. Der Nachzug seiner Familie war für ihn die Voraussetzung für das, was sie alle hier Integration nennen, endlich ankommen.
Andererseits, sagt er, leben sie noch, seine Frau, seine Kinder, auch er, und dafür sei er dankbar, so viele seien tot. Über Weihnachten ist er zu seiner Familie geflogen, nach Mersin, mit den beiden Söhnen. Aber irgendwann müssen sie wieder zurückkehren, nach Spanien, in ihr neues, fremdes Leben.

Apokalyptische Wiese

Henri ist, wenn es um schulische Themen geht, diskret: Er kommt vom Unterricht nach Hause, wir stellen eine Unmenge von Fragen, er antwortet im Telegrammstil. Er ist 14, unser Sohn.

Hey, Henri! Du bist ja schon da, wie war’s denn in der Schule, was hast du gelernt, wann schreibst du die nächste Arbeit, wie läuft es in Mathe, wie läuft es in Physik, Deutsch, Französisch? Erzähl doch mal!

„Läuft ganz okay, danke.“

Das klingt doch prima, erzähl doch mal mehr, wie kommst du mit den Lehrern zurecht?

„Ganz okay.“

Das ist der Ablauf. Nur neulich – da war es anders.

Neulich hatte Henri, kaum dass er in der Tür stand, eine Neuigkeit zu vermelden. Ein neuer Kunstlehrer sei an der Schule. Aber was für einer! Einer, der seine Bilder nicht male oder zeichne, mit Pinsel oder Stift, sondern schreie und singe. Er stelle sich vor die leere Leinwand und brülle, bis das Bild fertig sei, sozusagen. Er sei eben eindeutig Künstler, kein Kunstlehrer, und daraus mache er auch kein Geheimnis. Er nenne sich Herr „3Rooosen“, mit drei o und der Ziffer 3 davor. Und er verlange, genau so und nicht anders von den Schülern angesprochen zu werden.

Das waren mehr Informationen über einen einzigen Lehrer an einem einzigen Tag als sonst in einem ganzen Schuljahr. Zweierlei war offensichtlich: In der Rolle als Lehrer gastierte ein Quartalsirrer, und mein Sohn war stolz darauf.

Meine Frau und ich fanden die einschlägige Website und die YouTube-Links: Man sah einen korrekt gekleideten Mann mittleren Alters, offenbar in einer Galerie oder jedenfalls vor Zuschauern, man sah ihn zwölf Minuten und neun Sekunden lang vor einer leeren Leinwand gestikulieren, toben, grunzen, spucken, jaulen. Das Bild, das er produzierte, hieß: „Apokalyptische Blumenwiese“. Es klang so: „Der Himmel hängt soo schief / Vom Hooorizont kommt ein Zyklop und schmeißt mit Farben um sich! Waaa! Paff! Aaaah! Uuuh! Urrrrg!!“

Dabei sprang er, wahrscheinlich den Zyklopen darstellend, vor der leeren Leinwand auf und ab. Man konnte, wenn man wollte, seine Fantasie in Gang setzen und auf der (natürlich immer noch leeren) Leinwand ein wildes Gemälde imaginieren, ein Bild, das gleichsam im Kopf des Betrachters entstand, indem der Mann es schreiend beschrieb. Wenn man wollte.

Dies also war der Pädagoge, der unsere Kinder in das Zauberreich der Kunst einführen sollte, der ihnen die Vermeers, die Rothkos dieser Welt vorstellen würde? Der ihre Kreativität wecken sollte? Wen würde diese Schule als Nächsten einstellen? Eine Stripperin, die den Satz des Pythagoras tanzt?

Es gab andere, ebenfalls im Netz dokumentierte Aktionen des Herrn 3Rooosen, eine „Geschenkeverbrennung“ zur Weihnachtszeit vor einem Kaufhaus, mit einem kleinen Grill, und eine Aktion, auf der er mit Bildern spazieren ging. Man kann darin ein Potpourri aus Studentenulk und Dada sehen, man kann aber auch der Meinung sein, dass da jemand rumläuft, der offensichtlich durchdreht. Dieser Meinung war ich.

Sohn Henri, beim Abendbrot, sah das anders. Er berichtete, dass 3Rooosen gut ankomme in der Schule. Auf jeden Fall sei es mal was anderes. Sein älterer Bruder: Bei Kunstunterricht dürfe man nicht zu viel verlangen. Meine Frau fand, es sei immerhin eine Abwechslung. Und was für ein Kunstunterricht wäre denn meiner Meinung nach angemessen?

Sie hatten natürlich recht. Gibt es so etwas überhaupt: angemessenen Kunstunterricht? Für eine Klasse pubertierender Mädchen und Jungs, die eine Million andere Dinge im Kopf haben?

Die Kunst, der sie gegenüberstehen, ist eine befreite Kunst; sie haben Bekanntschaft gemacht mit Action-Painting, mit Happening, mit Fluxus und Land Art und Neuen Wilden. Irgendwo in diesem Meer, etwa in den Breitengraden von Performance und Fluxus, schwimmt Herr 3Rooosen umher, ein kleiner Fisch, aber munter. Ich rief ihn an, verabredete mich mit ihm, in meinen Eigenschaften als Vater und Journalist.

Ich erinnere mich an die Kunstlehrer meiner Schulzeit. Sie waren nett und lasch. Sie gönnten uns eine Auszeit, zwei Stunden zwischen Mathe und Latein. Wer ein Minimum an Eifer an den Tag legte, kriegte eine Eins, alle anderen eine Zwei. Vielleicht haben wir was verpasst.

Davon erzählte ich dem Bildersänger. Wir saßen im Chinarestaurant, aßen frittiertes Huhn, und Rosen (so nannte ich ihn, alles andere war mir zu blöd) trank ein alkoholfreies Bier. Was mich erstaunte. Ich dachte, wer Bilder singt, der kippt drei Pils und am Ende noch ein paar Schnäpse; aber nein, er erklärte, Alkohol schade seiner Kreativität, er rauche auch nicht, er lebe für seine Ideen.

Rosen ist 47 Jahre alt, Sohn eines Lehrerpaars, aufgewachsen in Kiel, Kunststudium in Hamburg, hier lebt er, schlägt sich als Künstler durch. Ab und zu übernimmt er Vertretungen an Schulen, eine halbe Stelle, befristet. Karg bezahlt, sagte er, wenn man bedenke, dass er jede Stunde minutiös vorbereite.

Ich glaubte ihm das. Und was er sagte über seine Auftritte, das klang zwar selbstverliebt und wenig überraschend – Sehgewohnheiten brechen, Leute zum Nachdenken bringen, solche Dinge. Aber er meinte es ernst. Am Ende des Abends war ich zwar kein Fan des Bildersängers, aber auch nicht mehr sein Feind.

Zumindest werden sich die Schüler an diesen Lehrer erinnern. Zumindest hat er sie aus ihrem Phlegma aufgescheucht.

Henri, unser Sohn, kam unlängst heim und erzählte, bei Herrn 3Rooosen seien sie jetzt dabei, mit Deorollern ein Bild zu malen. Gut, sagte ich.

„Ich bin total verantwortungslos“

Mit nur 52 Minuten Verspätung, und das ist für ihn nicht viel, betritt Karl Lagerfeld die Räume in der Rue de Lille N° 7 in Saint-Germain, Paris.

Das Haus aus dem 19. Jahrhundert hat er nach seinen Vorstellungen umbauen lassen, vorn ein Buchladen, klein und exquisit, von dort geht es durch eine Schiebetür in zwei große Besprechungsräume. Hohe Decken, klares Licht, jeweils ein großer, quadratischer Tisch. Vasen mit weißen Gladiolen. Stapel von Kunstbüchern, Fotobüchern, Gedichtbänden. Gerahmte Fotos, großformatig, lehnen an den Wänden. Hinter den beiden Konferenzräumen liegt Lagerfelds Fotostudio, so hoch wie ein Hallenbad, an den Wänden Bücherregale. Lagerfeld hat einen etwas trippelnden Gang, er redet sehr schnell, Französisch, Deutsch, Englisch durcheinander. Es ist, als wäre eine Comicfigur zum Leben erwacht – die weißen Haare, der Gehrock, die Sonnenbrille: Karl Lagerfeld, 81 Jahre alt. Er ist der wohl mächtigste Modedesigner unserer Zeit, seit über 30 Jahren entwirft er für Chanel, außerdem für Fendi und für seine eigene Lagerfeld-Linie. Nebenbei ist er Fotograf und seit einiger Zeit auch Verleger. Seine Assistenten, darunter viele junge, muskulöse Männer in T-Shirt und mit grauer Wollmütze, rücken Stühle, räumen Bücherstapel weg und stellen für ihren Chef ein Glas Diet Coke bereit. Die Pressesprecherin achtet darauf, wer rechts von Lagerfeld sitzt, links hört er nicht mehr so gut. Das Gespräch wird fast zwei Stunden dauern, während dieser Zeit nimmt Lagerfeld seine Sonnenbrille nur einmal kurz ab.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, dürfen wir fragen, was Sie heute tragen?

Lagerfeld: Das wollen Sie wirklich wissen? Na gut, einen Gehrock, wie man früher sagte, von Dior. Einen Schlips und ein Hemd von Hilditch & Key, das Hemd mit einem Kragen frei nach Harry Kessler, wie man ihn um 1912 trug. Dazu Halsketten von einem jungen Schmuckdesigner, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Eine Brosche aus den Dreißigerjahren von Suzanne Belperron, Wildlederjeans von Dior und passende Wildlederschuhe von Massaro. Das wär’s.

SPIEGEL: Warum kleiden Sie sich immer gleich, ist das eine Art Uniform für Sie?

Lagerfeld: Sie nehmen das vielleicht nicht so wahr, aber es sieht schon immer sehr unterschiedlich aus. Die Uniform, die ist nicht das ganze Jahr über feldgrün. Und außerdem: Das gehört dazu. Herrgott, ich lebe in der Welt der Mode. Und ich habe etwas gegen schlampige Leute. Es hat auch etwas mit Disziplin zu tun, sich um das Äußere zu kümmern.

SPIEGEL: Sie könnten es aber auch wie Giorgio Armani halten und ständig Jeans mit schwarzem T-Shirt anziehen.

Lagerfeld: Ja, aber es gibt Momente im Leben, in denen das schwarze T-Shirt, womöglich auch noch ärmellos, einfach nicht mehr angebracht ist.

SPIEGEL: Seit über 60 Jahren entwerfen Sie Mode, seit 1965 für Fendi, seit 1983 für Chanel. Die Bundeskunsthalle in Bonn widmet Ihrem bisherigen Werk gerade eine große Ausstellung. Rührt Sie das?

Lagerfeld: Ich habe mir das gar nicht erst angesehen. Meine Mitarbeiter wollten unbedingt, dass ich nach Bonn fahre. Aber ich wollte das nicht. Auf keinen Fall! Ich bin gegen dieses ewige Feiern. Man feiert sich gegenseitig, man feiert sich selbst. Ist okay für die anderen, mal zu sehen, was ich so gemacht habe. Aber ich will das Zeug nicht wiedersehen – ich muss mich darum kümmern, was ich morgen mache.

SPIEGEL: Hört sich an, als ob Sie ein interessantes Verhältnis zur Vergangenheit hätten. Angeblich bewahren Sie auch nichts von Ihren alten Zeichnungen und Entwürfen auf. Warum?

Lagerfeld: Alle Kollegen, die sich in ihrer Vergangenheit und in ihren Kreationen geräkelt haben wie in einem ungemachten Bett, haben danach nichts Neues mehr zustande gebracht. Ich halte das für gefährlich. Es gibt dieses jüdische Sprichwort: Keinen Kredit auf die Vergangenheit. Danach lebe ich. Ich habe immer das Gefühl: Ich bin faul. Ich könnte mehr machen. Ich könnte besser werden. Es ist, als ob ich eine Glaswand vor mir hätte, die ich noch durchbrechen muss.

SPIEGEL: Was genau treibt Sie?

Lagerfeld: Ich lebe in einem permanenten Zustand der Unzufriedenheit mit mir selbst. Ich weiß, ich habe Arbeitsbedingungen wie kaum ein anderer Mensch. Aber ich bin nie mit mir zufrieden.

SPIEGEL: Andere Menschen sind auch ehrgeizig.

Lagerfeld: Ehrgeiz habe ich überhaupt nicht. Ich weiß gar nicht, was das ist. Ich mach das alles nur für mich. Ich bin für radikalen Wandel, man muss sich immer wieder selbst erneuern, einen neuen Rahmen schaffen, sich von Dingen trennen.

SPIEGEL: Okay, wir haben verstanden, Sie leben in der Gegenwart, wahrscheinlich noch lieber in der Zukunft?

Lagerfeld: Mein Zitatenschatz ist limitiert, aber Goethe hat einmal gesagt, was er sich wünsche, sei eine bessere Zukunft mit den erweiterten Elementen der Vergangenheit. Und dann habe ich noch eine Devise, ich zeichne ja noch, was die meisten anderen Modemacher gar nicht mehr können. Ich bin ja eigentlich Illustrator. Also, jedenfalls: Ich zeichne viel. Und ich habe riesige Papierkörbe. Denn das meiste wandert in den Papierkorb, 99 Prozent! Aber was übrig bleibt, wird auch genau so umgesetzt. Es wird gemacht, wie von mir entworfen. Ich sitze da nicht und fummle hundert Stunden rum! Ich habe das Glück, dass ich mir Entwürfe in drei Dimensionen vorstellen kann. Bei der ersten Anprobe ist das schon beinahe perfekt. Andere haben zehn Zeichner, die für sie am Computer zeichnen. Dann wird das diskutiert, stundenlang besprochen: Oh, ist der Knopf da richtig? Fürchterlich.

SPIEGEL: Sie entscheiden alles allein und beschleunigen so die Abläufe?

Lagerfeld: Absolut. Sonst könnte ich gar nicht so viel machen. Allein für Chanel sind es im Jahr acht Kollektionen, für Fendi vier. Und da spreche ich noch nicht von der Lagerfeld-Linie. Es gibt einen Satz der amerikanischen Interieurdesignerin Lady Mendl, sie wurde von einem Auftraggeber gefragt, ob sie nicht eine zweite Idee habe. Sie hat geantwortet: „No second option.“ Der Besitzer von Chanel hat über meine Studiotür schreiben lassen: „Kreativität ist nicht demokratisch.“

SPIEGEL: Sie machen keine Meetings, der kreative Part Ihrer Arbeit findet nicht im Team statt. Würden Sie sich als Egoisten bezeichnen?

Lagerfeld: Vielleicht. Aber von meinen Egoismen leben viele Leute. Wenn ich nicht ungestört arbeiten kann, kommt da nichts raus. Ich liebe es, allein zu sein. Ich bin derart egoistisch, dass ich auf andere keine Rücksicht nehmen kann. Darum habe ich auch nie eine Familie gewollt. Wäre ich als Frau geboren, hätte ich vielleicht zwölf Kinder gehabt. So wie ich arbeite, könnte ich mich nicht aber auch noch um die Ferien der Kinder kümmern oder so was. So ist es, ich kann kein anderer Mensch werden als der, der ich bin, mich keinem sozialen oder familiären Vorbild anpassen, das mir nicht entspricht.

SPIEGEL: Wie würden Sie den Egoisten Lagerfeld beschreiben?

Lagerfeld: Zum Glück muss ich den nicht beschreiben, das wäre so negativ, dass Sie es nicht veröffentlichen würden. Im Ernst: Was ich über mich denke, da gibt es Tage, da ist es okay. Und dann gibt es Tage, an denen es äußerst negativ ist! Aber ich kann über mich lachen. Im Grunde kann ich mich über mich selbst totlachen.

SPIEGEL: Von außen besehen haben Sie sich um sich herum ein kleines Paradies gebaut. Sie besitzen schöne Häuser, umgeben sich mit schönen Dingen, reisen mit schönen, jungen Menschen, die Sie einladen. Wie viel Realität lassen Sie in diesem Leben noch zu?

Lagerfeld: Wenig. Sehr wenig. Ich gehe ja nicht mal mehr auf die Straße.

SPIEGEL: Warum nicht? Vor 15 Jahren haben Sie noch mit einer kleinen Kamera stundenlang Streifzüge durch Paris unternommen.

Lagerfeld: Es geht nicht mehr, weil die Leute mich verfolgen mit ihren Handys und Kameras. Ich habe es erreicht, dass meine karikaturale Silhouette auf der ganzen Welt bekannt ist. Ich hab es also in Paris nicht nur mit Deutschen oder Franzosen zu tun, sondern auch mit Amerikanern und Japanern, jeder ist hinter mir her, es ist absolut lächerlich. Jeder will ein Selfie. Aber ich habe keine Lust, auf Fotos mit Leuten zu sein, die ich nicht kenne.

SPIEGEL: Fehlt Ihnen die Begegnung mit der Realität?

Lagerfeld: Nein. Die Idee der Realität ist stimulierender als die wirkliche Realität. Mein Leben besteht daraus, Realität zu idealisieren, zu verschönern, zu verklären. Im Beruf und für mich. Mein Leben ist nicht die Begegnung mit der echten Wirklichkeit. Neulich war ich in dem Laden, wo ich meine Bilder rahmen lasse. Da bin ich ausnahmsweise mal ganz allein hingegangen und hatte mir vorher eine dicke Mütze aufgesetzt. Dann stand aber gleich so ein Kerl neben mir und sagte: „Alors, Monsieur Lagerfeld, fangen wir jetzt an, uns zu verkleiden?“

SPIEGEL: Wie informieren Sie sich über das, was in der Welt geschieht?

Lagerfeld: Ich lese sehr viel – französische, englische, deutsche Zeitungen, den SPIEGEL, die „Bunte“, die „New York Times“, „Libération“, englische Zeitungen, das lese ich früh am Morgen, da hab ich sonst keine Rendezvous, da will ich auch nicht nach der Uhr sehen. Darum verspäte ich mich immer.

SPIEGEL: Und lesen Sie alles gleichermaßen – Feuilleton, Politik, Wirtschaft?

Lagerfeld: Alles. Ich habe keinerlei Interesse an intellektuellen Diskussionen, aber ich liebe es, meinen Kopf mit Wissen vollzustopfen.

SPIEGEL: Dann müssten Sie ja den Eindruck teilen, dass einem da draußen die Welt gerade um die Ohren fliegt.

Lagerfeld: Das kann man wohl sagen!

SPIEGEL: Der Vormarsch des „Islamischen Staates“, der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlinge im Mittelmeer – beschäftigt Sie das? Sie haben drei Wochen nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ im Pariser Grand Palais eine sehr verträumte Modenschau gezeigt – mit floralen Motiven, unschuldig und märchenhaft schön.

Lagerfeld: Wir verkaufen Träume, keine Realität. Soll ich ein Defilee mit Bombenanschlägen machen? Diese Show war wie ein Bilderbuch für Kinder, inmitten der grauenvollen Zeit, in der wir leben.

SPIEGEL: Taugt Mode als Modell für Eskapismus?

Lagerfeld: Ich bin der lebende Beweis dafür. Und ich bekomme trotzdem mit, was passiert. Ich kannte ja die Leute von „Charlie Hebdo“, ich liebe Karikaturen, ich habe die Zeitung immer gekauft. Und natürlich hat mich schockiert, was da geschehen ist. Die Qualität hing ganz und gar von jenen ab, die getötet wurden. Jetzt ist es nur noch in Eile hingekritzelter Hass. Aber: The beat goes on. Ich hab auch nach dem 11. September ganz normal weitergemacht.

SPIEGEL: Sind Sie selbst ein ängstlicher Mensch?

Lagerfeld: Nein, ich bin Fatalist, eindeutig, für mich selbst und die anderen.

SPIEGEL: Beschäftigt Sie, was die Attentäter umtrieb, hätten Sie sie danach fragen wollen?

Lagerfeld: Nein. Ich hätte mich auch mit Hitlers Leuten nicht unterhalten wollen. Mit Fanatikern soll man seine Zeit nicht verlieren. Wissen Sie, ich habe da eine ganz persönliche Erfahrung, ich habe ein Landhaus und dort einen Hauswart. Sein Vater ist Marokkaner, der Sohn ist hier geboren, französischer geht es nicht. Ich kenne den ewig. Lustig, aufgeschlossen, wahnsinnig netter Kerl. Und in den vergangenen fünf Jahren verändert sich was, plötzlich trägt die Frau eine Burka. Das sind die nettesten Leute der Welt. Und plötzlich das!

SPIEGEL: Und haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Lagerfeld: Ja. Ich habe ihm verboten, für seine radikalen Belange zu werben. Das musste ich tun. Er gab meinen Freunden auf einmal Bücher zu lesen und so. Und er gibt keiner Frau mehr die Hand. Wenn wir kommen, geht das Fenster zu, damit man seine Ehefrau nicht sieht. Sie wagt sich nur morgens um fünf Uhr raus, wenn niemand sie sieht. Aber ich diskutiere nicht mit ihm. Ich würde auch nicht mit fanatischen Katholiken oder sonstigen hysterischen Gläubigen diskutieren. Ich selbst gehöre keiner Kirche an. Meine Eltern sind ausgetreten. Meine Großeltern väterlicherseits waren Protestanten, die fanatische Katholiken geworden sind. Völlig hysterisch. Grauenhaft!

SPIEGEL: Ihr Vater Otto Lagerfeld war Unternehmer, Fabrikant der Kondensmilchmarke Glücksklee. Warum wollten Sie eigentlich nie eine eigene Firma haben?

Lagerfeld: Weil ich total verantwortungslos bin!

SPIEGEL: Das glauben wir nicht.

Lagerfeld: Das glauben Sie vielleicht nicht, aber ich weiß es. Deshalb wollte ich auch nie eine Familie. Ich will nur für meine Arbeit verantwortlich sein. Die moralische Verantwortung für Angestellte, die will ich nicht. Wenn Sie ein einfaches Mittel wissen wollen, wie man seine Freiheit verlieren kann: Schaffen Sie sich eine Firma an. Ich tu mir das nicht an. Keine Realität! Lieber lebe ich in meiner idealisierten Welt.

SPIEGEL: Sie wollten lieber ein Leben lang Angestellter bleiben?

Lagerfeld: Ich bin kein Angestellter. Ich bin frei. Ich kann meinen Interessen frönen: alles zu wissen, mich für alles zu interessieren, überall meine Nase reinzustecken. Aber bitte keine Verantwortung!

SPIEGEL: Jemand, der so viel Einfluss hat wie Sie, könnte zum Beispiel auch eine Stiftung gründen, um Gutes zu tun.

Lagerfeld: Da hab ich keine Zeit für! Wenn Sie so viele Kollektionen machen müssen wie ich, geht das einfach nicht. Sie haben ja keine Ahnung, welchen Rhythmen ich gehorchen muss! Diese Verpflichtungen erfülle ich punktgenau. Mehr geht nicht.

SPIEGEL: Vielleicht haben Sie auch einfach keine Lust, Gutes zu tun?

Lagerfeld: Solche humanitären Sachen, dafür bin ich nicht begabt, das würde opportunistisch wirken. Und ich habe noch dazu diese grauenhafte Angewohnheit, die Dinge schnell sattzuhaben. Immerhin unterhalte ich diesen Buchladen. Und meine eigene Sammlung von Büchern, 300 000 Bücher. Ein kleiner Teil nur ist hier, etwa 70 000. Der Rest ist in meinen anderen Häusern, in Südfrankreich, überall. Ich bin gut zu Büchern, ich liebe Bücher.

SPIEGEL: Sie könnten auch gut zu Menschen sein.

Lagerfeld: Ich bin dafür nicht gemacht, es ist einfach so, wie es ist. Aber so ein schlechter Mensch bin ich ja hoffentlich auch nicht.

SPIEGEL: Es heißt, Sie spenden sehr viel.

Lagerfeld: Das braucht niemand zu wissen.

SPIEGEL: Aber stimmt es?

Lagerfeld: Ich sollte jetzt Nein sagen, aber: Ja. Wissen Sie, ich bin in Wahrheit großzügig. Ich hab ein großes Herz, das bekenne ich. Aber ich denke, man soll großzügig sein und es nicht an die große Glocke hängen. Ist auch Erziehungssache. Als ich aufwuchs, da gab es viel Armut in Deutschland. Aber als Kind durfte ich Bettlern nichts geben. Ich musste es jemandem geben, der es dem Bettler gab. Es war nicht erlaubt, dass daraus eine Befriedigung für mich heraussprang.

SPIEGEL: Ihre Mutter soll zu Ihnen gesagt haben: „Die Welt, Karl, muss dir egal sein, dann hast du auch Erfolg.“

Lagerfeld: Das hat sie gesagt, so hat sie mich erzogen. Und im Grunde hatte sie recht.

SPIEGEL: Ihnen ist die Welt egal?

Lagerfeld: Mehr oder weniger. Aber man kann Verantwortung ablehnen und sich trotzdem zivilisiert benehmen und ein gutes Herz haben. Mein Leben ist ganz normal und banal – für mich. Aber ich weiß, für die anderen ist es weder normal noch banal. Für sie lebe ich in einer falschen Realität. Doch für mich ist es die richtige.

SPIEGEL: Ist das ein Plädoyer für ein hedonistisches Leben?

Lagerfeld: Ja, im Grunde haben Sie recht. Aber das ist mir schon wieder zu ausgedacht. Zu formuliert. Ich lebe so, wie es für mich richtig ist.

SPIEGEL: Wie sieht das im Alltag aus?

Lagerfeld: Ich stehe gegen acht Uhr auf, frühstücke, aber sehr wenig, lese Zeitungen. Dann fange ich an zu arbeiten, bei mir zu Hause, nie im Studio, dort könnte ich nie arbeiten. Da kommen die Mädchen von der Presse, da wird telefoniert, geklönt, Kaffee gekocht. Das Mittagessen wird mir dann gebracht. In dem Haus, wo ich wohne und zeichne, da will ich niemanden, der da kocht, da will ich kein Personal um mich haben.

SPIEGEL: Wie groß ist der Apparat um Sie herum?

Lagerfeld: Der Apparat! Kleiner, als Sie denken. Ich sehe nur den engsten Zirkel. Die müssen es dann weitergeben. Ich habe zwar mehrere Studios, aber niemand entwirft da – nur ich.

SPIEGEL: Und wie geht das vor sich?

Lagerfeld: Ich mache meine Zeichnungen zu Hause, dann gebe ich sie an die Studios weiter, schicke das nach Italien, oder die Leute kommen zu mir, und ich erkläre ihnen die Zeichnungen – das, das und das, wenn ich dann ins Studio komme, ist schon alles fertig.

SPIEGEL: Würden Sie sich selbst als Künstler bezeichnen?

Lagerfeld: Nein, das ist angewandte Kunst. Kunst, die Gewänder macht. Coco Chanel oder Balenciaga, die hielten sich auch nicht für Künstler, obwohl sie alles selbst entwarfen. Die waren nur stolz, dass die Damen der Gesellschaft ihre Kleider trugen. Ich bin kein Künstler.

SPIEGEL: Glauben Sie, diese Haltung hat zu Ihrem Erfolg beigetragen?

Lagerfeld: Natürlich, weil ich total bodenständig bin. Weil ich mir über mich selbst keine Illusionen erlaube.

SPIEGEL: Es heißt, Ihnen wird schnell langweilig.

Lagerfeld: Das ist das wahre Drama meines Lebens.

SPIEGEL: Ist Ihnen jetzt auch langweilig – bei diesem Gespräch?

Lagerfeld: Nein, Sie sind ja zu dritt gekommen, da muss ich schon aufpassen. Sie können weitermachen.

SPIEGEL: Danke. Sie sind gebildet, belesen, Sie wirken wie ein Mensch aus einem anderen Jahrhundert, der auf die Welt mit fast freundlicher Verachtung blickt.

Lagerfeld: Nein, nein, das stimmt nicht! Ich verstehe, dass nicht jeder gebildet sein kann. Ich komme gut mit total unkultivierten Menschen aus, wenn die keine Chance hatten. Was ich hasse: Leute, die jede Möglichkeit zu Wissen, Bildung, Kultur hatten und sich schlecht benehmen! Weil die faul sind. Aber mit Arbeiterinnen kann ich sehr wohl umgehen, ich habe da kein Problem. Und ich werde von ihnen mit Vornamen angesprochen. Der Fahrer, der Hausmeister, die Näherin – keiner sagt zu mir „Monsieur“. Ich bin für alle Karl.

SPIEGEL: Auf der einen Seite haben Sie diese beeindruckende Sammlung an Büchern, auf der anderen interessieren Sie sich für alle neuen digitalen Produkte, müssen jedes neue Gadget sofort haben.

Lagerfeld: Absolut, aber das ist ja kein Widerspruch. Sonst wäre ich nur ein staubiger Privatgelehrter. Schauen Sie hier, meine Uhr, ich habe die erste iWatch in Gold. Die haben weltweit nur drei Menschen: die Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, Anna Wintour, Beyoncé und ich.

SPIEGEL: Warum wollten Sie die unbedingt haben?

Lagerfeld: Weil sie neu ist.

SPIEGEL: Wie viele iPods besitzen Sie?

Lagerfeld: Viele. Sehr viele. Weil ich Musik auswähle, die ich auf die iPods spiele und dann verschenke. Ich mache gern Geschenke. Von den iWatches habe ich mindestens 40 Stück gekauft und meinen Mitarbeitern geschenkt, natürlich nicht in der Goldausführung. Ich hätte es sonst grauenhaft gefunden. Ich habe eine und sie nicht. Das wäre ja fürchterlich!

SPIEGEL: Reden wir über die Inszenierung der Person Karl Lagerfeld.

Lagerfeld: Das ist keine Inszenierung, das ist eine ganz normale Entwicklung, bei der das Resultat vielleicht ein wenig seltsam ist.

SPIEGEL: Ihre Katze Choupette hat zwei Zofen, einen Leibkoch, ein iPad und kann zu den Mahlzeiten zwischen verschiedenen Menüs wählen – ist das auch Teil einer normalen Entwicklung?

Lagerfeld: Ich habe das Talent, Leute bekannt zu machen, und das gilt eben auch für Tiere – in diesem Fall für Katzen. Choupette ist die berühmteste Katze der Welt! Sie hat über 48 000 Follower auf Twitter. Neulich stand in einer französischen Zeitung, dass die Leser schockiert seien, weil Choupette so viel Geld kostet in ihrem Unterhalt. Da hab ich der Chefredakteurin geschrieben, ihre Leser seien nur neidisch. Denn Choupette fragt ja nach nichts, das feine Essen, ihr Leben – das wird ihr angeboten. Außerdem hat Choupette mit Werbung für Autos und für den japanischen Kosmetikkonzern Shu Uemura einen tollen Umsatz gemacht! Wir leben in einer Welt, wo eine Katze mehr Umsatz machen kann als jemand, der hart in einer Fabrik arbeitet. Das ist vielleicht ungerecht, aber dafür kann ich nichts.

SPIEGEL: Choupette hat auch eine maßgeschneiderte eigene Louis-Vuitton-Katzenreisetasche.

Lagerfeld: Nicht von mir, es ist ein Geschenk des Louis-Vuitton-Chefs Bernard Arnault.

SPIEGEL: Worin besteht für Sie Dekadenz?

Lagerfeld: Das ist eine Vokabel, die ich aus meinem Wortschatz rausgenommen habe. Ich bin total undekadent.

SPIEGEL: Aber Sie verstehen, dass Leute das Leben von Choupette unmöglich finden?

Lagerfeld: Ja, das verstehe ich, aber so ist die Welt, sie ist disproportioniert.

SPIEGEL: Und Sie haben kein komisches Gefühl dabei?

Lagerfeld: Nein, ich habe gar kein Gefühl dabei, ich bin da total gewissenlos.

SPIEGEL: Hätte der Karl Lagerfeld von vor 40 Jahren dieses Leben seltsam gefunden?

Lagerfeld: Das kann man nicht vergleichen, damals gab es kein Instagram, kein Twitter. Vergleichen Sie niemals frühere Zeiten mit heutigen Zeiten. Man kann sich von der Belle Époque inspirieren lassen, aber man muss auch immer dran denken: Damals war es tausendmal schlimmer als heute. Die Belle Époque, das waren nicht nur Luxusnutten in Paris.

SPIEGEL: Sie leben völlig im Einklang mit der jetzigen Zeit?

Lagerfeld: Ich finde es heute besser als früher, ich schaue nie bedauernd zurück.

SPIEGEL: Gilt das auch für die Mode, dieses Geschäft, das global, schnell, eklektizistisch geworden ist?

Lagerfeld: Wir sind keine Richter über Gut und Böse. Ich jedenfalls nicht. Wir müssen damit fertigwerden, was die Zeit uns vorschlägt. Sobald Sie anfangen, nicht in die Zeit zu passen, sind Sie dépassé, nicht die Zeit an sich ist schlecht.

SPIEGEL: Aber man hat trotzdem eine Meinung, eine Haltung zu den Dingen.

Lagerfeld: Nein. Ich passe mich an, hemmungslos. Und rücksichtslos, was meine eigene Sentimentalität eventuell anbetrifft.

SPIEGEL: Verkneifen Sie sich Ihre Meinung?

Lagerfeld: Verkneifen – grauenhaftes Wort! Lange nicht gehört.

SPIEGEL: Entschuldigung.

Lagerfeld: Nein, ist schon gut – und ich verkneife mir nichts, ich lege meine eigene Meinung einfach beiseite, dafür bin ich zu sehr Opportunist!

SPIEGEL: Die Chinesinnen und Japanerinnen – alle wollen jetzt gleich aussehen, wie Europäerinnen. Schade?

Lagerfeld: Schade, schade, schade! Nein, nochmals: Ich bin nicht der Richter über richtig und falsch. Außerdem, wir hatten hier Moderichtungen, die waren vom Kimono inspiriert, wir hatten marokkanische, arabische Einflüsse, alles inspiriert alles.

SPIEGEL: Mode wird immer schneller, viele Teile der sogenannten Fast Fashion werden durchschnittlich nur noch fünf Wochen lang getragen. Ist das bedauernswert?

Lagerfeld: Sie dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen davon leben. Die Leute wollen das Thema moralisch aufladen, aber Sie dürfen den schlichten ökonomischen Aspekt nicht vergessen. Je schneller die Leute ihre Kleider wegwerfen, desto eher kaufen sie neue – so dreht das Rad sich eben. Ich gebe ja zu: Aufs Ganze gesehen, ist das vielleicht nicht gesund, aber kurzfristig belebt die Mode die Textilwirtschaft. Sie müssten dann das ganze System ändern, den Kapitalismus abschaffen. Aber so ist die Realität nun mal nicht.

SPIEGEL: Sie kommen langsam in ein Alter, in dem man sich mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt. Tun Sie das?

Lagerfeld: Oh, nein, nein, ich bin unsterblich! Im Ernst: Man soll diese Beschäftigung mit dem Altern und dem Tod nicht übertreiben. Warum soll ich mir darüber graue Haare wachsen lassen?

SPIEGEL: Vielleicht weil man sich fragt, was hinterlasse ich, was ist mein Vermächtnis?

Lagerfeld: Nein. Es ist für mich ganz simpel: Mein Leben fängt mit mir an, hört mit mir auf.

SPIEGEL: Haben Sie ein Testament?

Lagerfeld: Ja, aber das ändere ich ständig. Ein schräger Blick von jemandem, dann wird der gestrichen, dann kriegt der nichts mehr. Ich lege auch Wert darauf, dass Leute, die ihr Leben lang mit mir gearbeitet haben, danach niemals mehr mit einem anderen Menschen arbeiten müssen. Das sollen die nicht nötig haben, das fände ich irgendwie unangenehm, auch für mich.

SPIEGEL: Und was wird aus Ihren Büchern?

Lagerfeld: Das ist eine Frage, die ich noch nicht geklärt habe. Was ist mit der Zukunft von Büchern? Ich muss mir da noch was einfallen lassen.

SPIEGEL: Sie wollen der Welt gar nichts hinterlassen?

Lagerfeld: Es ist mir wirklich total gleichgültig. Ich lebe im Jetzt. Ich will auch kein Grab. Ich mag diese Gedichtzeile von Friedrich Rückert, die Mahler vertont hat: „Ich bin der Welt abhandengekommen.“ Mehr will ich nicht. Meine Asche sollen sie irgendwo verstreuen. Im Ozean oder in den Wäldern, wo genau, ändert sich bei mir täglich.

SPIEGEL: Und vielleicht vorher schön gemütlich in den Ruhestand, das ist kein Gedanke?

Lagerfeld: Entsetzlich. Das klingt wie Rollstuhl. Solange man’s noch kann, warum sollte man das tun? Zumal meine Kartenleserin mir gesagt hat: Für dich fängt es an, wenn es für die anderen aufhört.

SPIEGEL: Sie sind abergläubisch.

Lagerfeld: Das bin ich, und bisher ist alles, was sie mir prophezeit hat, eingetreten. Sie hat mir zum Beispiel mal gesagt: Sie riskieren nichts in Flugzeugen und Autos, aber bitte nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

SPIEGEL: Sie fahren eh selten Bus.

Lagerfeld: Aber einmal, da war der Chauffeur verhindert, bin ich Bus gefahren. Es gab prompt einen Unfall, und ich habe mir fast das Knie zertrümmert. Von da an war Schluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

SPIEGEL: Sind Sie sonst noch abergläubisch?

Lagerfeld: Ja, ich gehe nie unter einer Leiter durch und stelle mir keine Pfauenfedern ins Haus.

SPIEGEL: Noch mehr?

Lagerfeld: Ja, nie ein Hut auf dem Bett.

SPIEGEL: Herr Lagerfeld, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Britta Sandberg, Stefanie Schütte und Ralf Hoppe.

Ich und ich

Neulich erfuhr ich einige Wahrheiten über mich, auf die ich, im Nachhinein, auch gut hätte verzichten können. Grob gesagt ist es so, dass ich mich gewissermaßen habe klonen lassen. Ich habe einen Doppelgänger von mir in Auftrag gegeben, eine 3-D-Miniaturversion im Maßstab von exakt 1:11,3, und seit einigen Tagen steht die Figur zu Hause im Esszimmer, auf unserer Anrichte. Gäste geben unterschiedliche Kommentare, von begeistert bis befremdet. Mir geht es genauso. Manchmal finde ich die Figur ganz lustig, oft ist es einfach nur unangenehm, sich so auf der eigenen Anrichte zu sehen.

Es begann damit, dass ich eines Abends in ein Kaufhaus in der Hamburger Innenstadt reinschaute. Rechts vom Haupteingang war ein schwarzes Fotostudio aus Holzwänden aufgebaut, etwa so groß wie ein Partyzelt. Davor standen Glasvitrinen. In den Vitrinen befanden sich kleine Figuren – Alltagstypen, keine Leute, die man aus dem Fernsehen kennt. Jungs, Mädchen, Rentner. Ein Typ mit Skateboard, Dreiviertelhose und offenem Mund. Eine junge, schöne Frau, in Leggins und Mickymaus-T-Shirt. Ein Rentnerpaar in beigefarbenen Wetterjacken. Es war, als hätte man die durchschnittliche Fußgängerzone geschrumpft und hinter Glas gepackt.

Ein Verkäufer kam heran, er trug einen schmalen Schlips. Die Technik sei ziemlich neu, erzählte er, jedenfalls auf diesem Perfektionsniveau. Übrigens habe Giovane Élber schon eine Figur von sich, der frühere Fußballer, und auch Samy Deluxe, der Rapper.

Ich hörte nur halb hin; ich war hingerissen von der Perfektion dieser kleinen Figuren. Man sah die ausgebeulten Ellbogen am Sakko. Man sah die abgeriebenen Stellen der Jeans. Man konnte das winzige Tattoo am Nacken einer Frau erkennen – diese Detailgenauigkeit in Verbindung mit etwas Spielzeughaftem; wirklich faszinierend. Die billigste Figur, 10 Zentimeter groß, kostete 99 Euro, die größte, 35 Zentimeter, 799 Euro.

Die Idee gefiel mir. Es hatte etwas Verwegenes, Übermütiges, sich einen kleinen Doppelgänger zuzulegen. Eine Grenzübertretung war es auch: sich zu verdoppeln, damit man sich hinstellen und anschauen kann? Beziehungsweise von anderen betrachtet werden kann, war das nicht unsäglich eitel?

Vielleicht war das nur der Untertan in mir, der diese Bedenken hatte? Der fragt: Darf man das, so als ganz normaler Mensch? Abbilder von sich selbst in die Welt setzen zu lassen, das war bis vor einigen hundert Jahren das Privileg von Göttern, von Königen, später von Staatenlenkern. Es löste sich nur langsam auf.

Die Maler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten ihren Anteil daran, sie entdeckten den einfachen Menschen, dessen Gesichter, Geschichten: van Goghs „Kartoffelesser“ etwa. Oder die Huren, Gangster und Sträflinge des George Grosz. Picassos Artisten. Das Porträt war auch ein Mittel zur Erkenntnis, zur Selbsterkenntnis.
Der Befreiung durch die Malerei folgte die Fotografie, die Demokratisierung des Porträts. Inzwischen leben wir in einer Phase der Inflation von Bildern und Ichbotschaften. Jeder breitet sein Ich im Netz aus. Eine Figur von sich selbst ist entwicklungsgeschichtlich wahrscheinlich nur konsequent.

Vielleicht war es wirklich unsäglich eitel, den kleinen König zu spielen – aber man muss auch zu seinen Neigungen stehen. Lieber eitel als unehrlich, dachte ich. Ich überlegte, wie viel ich mir wert war. 200 Euro war die Grenze, ich nahm eine 15-Zentimeter-Figur, das zweitbilligste Modell.

Der Mann mit dem schmalen Schlips schloss das Fotostudio auf. Drinnen war alles gleißend weiß. 65 Kameras waren im Kreis aufgestellt, auf Stativen. In der Mitte ein kleines Podest. Ich solle mich hinstellen, Standbein, Spielbein, locker bleiben, einen Punkt fixieren. Er zog die Tür hinter sich zu, 65 Blitzlichter flammten auf, der Mann öffnete die Tür, winkte mich zu seinem Bildschirm.

Ich sah 65 Fotos von mir, sah mich von links, von oben, unten, rechts, hinten, vorn, in klinischer Präzision. Ob das okay sei, fragte der Mann. Klar, sieht prima aus, sagte ich. Aber eigentlich war ich erschrocken.

Unsere Selbstbildnisse sind ja nie ganz echt, nicht wirklich wahrhaftig – die Fotowand im Treppenhaus, die Urlaubsbilder von den Kindern, die an der Pinnwand kleben, sie alle unterliegen der Zensur durch uns selbst, dem Wunsch nach Innigkeit und vorteilhaftem Nachmittagslicht. Darum sind die frühen Fotografien, etwa von August Sander, so authentisch. Die ersten Fotografierten hatten noch keine Abwehrmimik; inzwischen haben wir gelernt, wie wir auf Fotos aussehen wollen.

Bei diesen 65 Aufnahmen auf dem Rechner hatte ich keine Chance, mich anders oder besser zu präsentieren, als ich wirklich bin. Der Körper kann kein falsches Spiel spielen, irgendetwas daran verrät er uns immer. In meinem Fall: meine verspannten Schultern, vom langen Hocken am Bildschirm. Der vorgeschobene Bauch. Die platte Stelle am Hinterkopf. Das war so eindeutig ich, dass es schon wehtat.

Die Bilddateien wurden auf einen Server gestellt. Ich steckte die Quittung ein und ging nach Hause.

Am nächsten Morgen griff in der Viktoriastraße in Dortmund, wo die Zentrale und Werkstatt der Firma sitzt, ein 3-D-Artist auf diese Dateien zu. Er lud sie runter und legte sie gleichsam übereinander, aus 65 Dateien erstellte er eine Punktwolke, eine Skizze von mir im dreidimensionalen Raum. Ein Programm wählte aus 160 000 Farben jenes Blau, das dem Blau meiner Schuhe am nächsten kommt. Aus der Punktwolke wurde eine dichte Wolke von etwa eineinhalb Gigabyte, schließlich ein Modell. Das Ganze dauerte vier Stunden, dann war ich ausgerechnet.

Der 3-D-Drucker steht in einem gefliesten Kellerraum in Dortmund. Dort wurde ich ausgedruckt, in 900 Schichten, aus Farbe und Polymergips. Man wickelte meinen Doppelgänger in Luftpolsterfolie und schickte die Lieferung nach Hamburg. Am nächsten Tag packte ich ihn aus. Der Kerl sah mir verblüffend ähnlich, natürlich; andererseits fand ich das Männchen anders, als ich erwartet hätte, oder gewünscht. Steifer, verkniffener, als ich gedacht hatte. So laufe ich durch die Welt? Meine Güte. Kann man was dagegen tun? Vielleicht wird es Zeit für mich, mich mit mir abzufinden.