Neues, fremdes Leben
Ein Mann, klein, kräftig, in einer braunen Jacke, läuft über ein Stoppelfeld. Es liegt unweit der Ortschaft Röszke, an der ungarisch-serbischen Grenze. In der linken Hand trägt der Mann einen Stoffbeutel mit der Aufschrift „Bio macht schön“. Vor sich im Arm, während er rennt, hält er ein wimmerndes Kind, seinen Sohn Said, sieben Jahre alt. In der Unterhose des Mannes, eingenäht, befinden sich 600 Dollar. Sein Name: Osama Abdul Mohsen, 53 Jahre alt, syrischer Staatsbürger, Sportlehrer, Fußballtrainer, Flüchtling.
Es ist der 8. September 2015 – ein Tag, der dem Leben des Osama Abdul Mohsen eine entscheidende Wende geben wird.
Mohsen und sein kleiner Sohn Said sind zwei von Hunderttausenden, die im Krisenjahr 2015 aufgebrochen sind, die sich auf den Weg machten nach Europa, auf der Suche nach einem sicheren oder menschenwürdigen oder besseren Leben. Beinahe 4000 Menschen ertranken im Mittelmeer oder gelten als vermisst; manche dieser Geschichten enden dramatisch und tragisch. Es gibt andere, die ein gutes Ende finden. Aber keine ähnelt der von Osama Abdul Mohsen: Ihn und seinen Sohn erwartet ein besonderes Schicksal.
Auf dem Feld bei Röszke, oder Reske, wie der serbische Name lautet, befinden sich an jenem Tag schätzungsweise 1000 bis 1500 Menschen, neben den Flüchtlingen sind mehrere Hundertschaften ungarischer Polizisten dort, außerdem Journalisten, Kamerateams. Manchmal kommen Busse, um Flüchtlinge von hier nach Budapest zu karren, doch es sind zu wenige. Die Polizisten wiederum haben offenbar den Befehl bekommen, die Flüchtlinge auf dem Feld und unter Kontrolle zu halten, eine Order, gegen die die Menschen erbittert aufbegehren. Alle laufen, schreien durcheinander.
Der Himmel über dem Feld ist grau. Nachts wird es jetzt schon kalt, sinkt die Temperatur auf zwei, drei Grad über null.
Mohsen und sein Sohn haben die vergangenen Nächte draußen verbracht, die letzten beiden hier auf dem Feld. Said hustet seitdem, seine Stirn fühlt sich heiß an. Sie hatten eine Decke, bis heute, am Morgen wurde sie ihnen gestohlen. Einige Nächte unter freiem Himmel kann Said noch überstehen, ohne ernsthaft krank zu werden, aber nicht viele.
Sie kommen aus der Stadt Deir al-Sor im Osten Syriens, und eigentlich wollen sie nach Deutschland, wo Mohsens 18-jähriger Sohn Mohammad bereits angekommen ist und auf ihn wartet. Vielleicht aber auch nach Dänemark oder Schweden. Bislang ging es einigermaßen, sie wurden nicht beraubt, sie kamen voran, sie haben noch etwas Geld, und vor allem leben sie noch.
Trotzdem ist dieser Dienstag der Tiefpunkt ihrer Reise; die Polizisten halten sie fest, seit zwei Tagen. Mohsen ist verzweifelt wie nie zuvor.
Es wird ihn gleich noch schlimmer treffen. Eine ungarische Journalistin wird ihm ein Bein stellen, während er über das Feld läuft. Die Szene wird zufällig gefilmt werden, im Netz landen und viele Millionen Male aufgerufen werden. Die Frau wird ihren Job verlieren, ihr Leben, wie es zuvor war, wird zerbrechen, Mohsen wird ein neues bekommen.
Eigentlich ist die Kamerafrau Petra László an diesem Tag als Reporterin in Röszke, sie arbeitet für einen rechtslastigen Sender; aber vielleicht fühlt sie sich mehr als Ungarin, die ihr Land verteidigt, die den Polizisten hilft. Oder sie hat einen Blackout. Oder sie ist einfach kein freundlicher Mensch. Der SPIEGEL hat mehrmals versucht, mit Petra László Kontakt aufzunehmen, sie zu einem Interview oder einer Stellungnahme zu bewegen, vergebens. Der Eindruck: eine Frau, die sich ganz in sich zurückgezogen hat.
Als Mohsen an ihr vorüberhastet, nachdem er eine Lücke in den Reihen der Polizisten entdeckt hat, reagiert sie mit einer beiläufigen Bewegung – halb ist es ein Tritt, halb stellt sie ihm ein Bein. Er stolpert, er stürzt. Said schreit. Mohsen rappelt sich auf. Hält irrtümlich einen Polizisten, der danebensteht, für den Täter. Brüllt den Beamten an, selbst dabei den Tränen nahe: „Das ist die Tat eines Hundes, jawohl!“
Die Szene wird von einem RTL-Reporter gefilmt, zufällig. Erst später wird der aber die Bilder sichten und entdecken, was er da eigentlich aufgenommen hat.
Mohsen und Said schlagen sich nach dem Sturz schließlich zu einem Wäldchen durch, finden gegen Abend eine Straße und machen sich auf den Weg nach Budapest, zu Fuß. Sie wissen nicht, dass sie gefilmt worden sind, sie denken nicht im Traum daran, dass die Sequenz vom Sturz sie berühmt machen, dass sie Mohsen aus der Masse der Migranten herausheben wird.
Wenig im Leben des Osama Abdul Mohsen ließ vermuten, dass ihm ein besonderes Schicksal bestimmt war. Mohsen wuchs auf in dem Dorf Mahatta al-Sania nahe der irakisch-syrischen Grenze, als Sohn eines Lastwagenfahrers, als achtes von zehn Kindern. Es ist eine Zeit, da auch in Syrien die Verhältnisse durchlässiger werden. Osamas Vater konnte mit Not seinen Namen schreiben; Mohsen hingegen studierte in Aleppo und entschied sich für einen damals in der arabischen Welt exotischen Beruf: den des Fußballtrainers.
Nach dem Militärdienst heiratete er, vier Kinder kamen. Er wurde Sportlehrer, trainierte Jugendmannschaften, war Trainer in der Profiliga. Den Druck und die Demütigungen, die ein Leben unter einer Diktatur mit sich brachte, die ständige Einmischung des Regimes in sportliche Belange, die Manipulation von Spielen, die Überwachung durch die Geheimpolizei, hielt er aus. Für alles entschädigte ihn das Spiel, die Freiheit.
„Fußball ist wie das Leben“, sagt Mohsen, „zwischen Anpfiff und Abpfiff, wie zwischen Geburt und Tod, enthält es alle Möglichkeiten“, man müsse sie nur nutzen.
Mohsen hatte sich arrangiert mit seinem Leben, er war zufrieden. Doch dann kam der Arabische Frühling. Und der Krieg kam nach Deir al-Sor.
Die Erinnerung an die Monate unter ständigem Beschuss sitzt ihm noch immer in den Knochen. Wenn die Granatfeuer einsetzten, mit dem sich schnell nach oben schraubenden Heulton, drei- oder viermal am Tag, schnappte Mohsen sich seine Tasche mit Wasser, Streichhölzern, Verbandszeug, nahm Said auf den Arm und scheuchte seine Familie vom dritten Stock nach unten in den improvisierten Bunkerraum. Die Wohnung lag in der Firdaus-Straße. Die Altstadt war ein beliebtes Ziel für Granatwerfer. Sie hatten inzwischen einen Belagerungsring um die Stadt gelegt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie erwischen würde.
Anfang 2012 konnte man noch aus Deir al-Sor entkommen. Doch man brauchte Geld zur Flucht; Geld, das Mohsen nicht hatte. Eines Abends kam sein Bruder zu ihm in die Wohnung, öffnete den Wohnzimmerschrank, legte ein Bündel hinein und erklärte: Hier sind 3500 Dollar, es ist alles, was ich habe. Wenn du es brauchst, gehört es dir.
Jetzt konnten sie die Flucht antreten. Drei Jahre dauert ihre Odyssee.
Die erste Station ihrer Flucht ist die türkische Stadt Mersin, am Mittelmeer. Hier wollen sie bleiben. Aber die Jobs, die Mohsen dort bekommt, reichen nicht zum Leben. Sie fassen einen Entschluss: Sie werden weiterziehen. Aber nicht alle auf einmal. Mohsens Frau bleibt mit der Tochter und dem ältesten Sohn in der Türkei. Mohammad, der zweitälteste Sohn, flieht über Italien. Und Mohsen und Said, der Kleinste, wählen die Balkanroute.
Und so gelangen sie an jenem 8. September 2015 auf das Feld bei Röszke.
Der Grenzübergang bei Röszke, 164 Kilometer von Budapest entfernt, ist einer der wenigen zwischen Serbien und Ungarn, die zu jenem Zeitpunkt noch offen sind. Polizisten haben das Feld umringt, aber das Areal ist groß, es hat etwa die Größe von drei Fußballplätzen, es gibt Lücken in ihren Reihen.
Die Polizisten haben Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt; aber noch ist niemand brutal zusammengeschlagen worden. Was vielleicht auch an der Anwesenheit der Journalisten liegt: Etwa 30 Reporter und TV-Teams sind zugegen. Einer der Fernsehleute ist Stephan Richter, er kommt aus Deutschland und arbeitet für RTL.
Stephan Richter, schlaksig, freundlich, hat ein Problem, er hat in dem Gewühl seinen Kameramann verloren. Unweit von Richter steht eine ungarische Kamerafrau, die für N1TV arbeitet, einen Sender in Budapest, sie trägt einen Mundschutz. Es ist Petra László. Blond, schätzungsweise Mitte vierzig. Hellblaues Hemd, Jeans.
Richter zückt sein iPhone, schwenkt es über seinem Kopf – so kommt er wenigstens, auch ohne Kameramann, an Bilder.
Inzwischen bewegt sich Mohsen, um Unauffälligkeit bemüht, am Rand des Feldes. Dahinter liegt ein Wäldchen.
Über Deutschland, das seine neue Heimat werden soll, weiß Mohsen wenig. Nur die folgenden Namen kann er aufsagen wie am Schnürchen: Neuer, Boateng, Lahm, Rafinha, Badstuber, Alonso, Martínez, Vidal, Müller, Coman, Lewandowski, die Spieler von Bayern München. Er kennt auch die Teams von Borussia Dortmund, vom HSV, von Schalke, die halbe Bundesliga. Über Ungarn hingegen weiß er nichts. Aber er spürt Feindseligkeit.
Und jetzt, da er entwischen will, bringt ihn eine ungarische Kamerafrau zu Fall.
Und ein deutscher Fernsehjournalist filmt alles.
Noch am selben Abend twittert Richter, der RTL-Mann, die Szene. Sie wird 945 000-mal angeklickt. Bei Facebook sind es anfangs etwa 95 000 Klicks. Der britische Sender Channel 4 wird aufmerksam, stellt die Bilder ins Netz, jetzt gibt es mehrere Millionen Aufrufe. Insgesamt, schätzt Richter, der die Klickzahlen verfolgt, sei die Aufnahme wahrscheinlich 30 bis 40 Millionen Mal gesehen worden.
Der Film ist auch deshalb so erfolgreich, weil er wie geschaffen ist für YouTube. Die Szene ist kurz und bringt eine dramatische Krise auf ein für alle verständliches Format: Ein Flüchtling rennt, eine böse blonde Frau lässt ihn stürzen, pardauz, aber er kann aufstehen.
Bei aller Einfachheit enthält das Video auch einen moralischen Appell: So will Europa nicht sein, so weit darf es nicht kommen. Vielleicht hat Petra László an jenem Tag mehr für Flüchtlinge bewirkt als viele Mahner und Sonntagsprediger. Für Mohsen jedenfalls wendet sich das Blatt.
Denn inzwischen hat auch ein Mann in Spanien, in einem Vorort von Madrid, die Aufnahme gesehen. Er heißt Miguel Angel Galán und ist Presidente des spanischen Verbands der Fußballtrainer.
Hunderte Kilometer entfernt, in seinem schicken Büro an der Plaza de España in Getafe, lässt Galán der Gedanke nicht los, dass es sich bei dem armen Kerl auf dem Video um einen Kollegen handelt, einen Mann aus dem Fußballfach. Diese Information kursiert da bereits im Netz. Der Spanier reagiert wie ein empörter Trainer, der gegen ein besonders unfaires Foul protestiert.
„Mir war sofort klar, dass wir helfen müssen“, sagt er. „Der Mann war schließlich einer von uns, und so luden wir ihn ein nach Spanien.“
Die Haltung ist nicht ganz frei von Selbstgefälligkeit: Wäre der Flüchtling Mohsen ein Stabhochsprungtrainer, hätte man ihn dann seinem Schicksal überlassen?
In Deutschland angekommen, bekommt Mohsen einen Anruf, den er, wie er sagt, nie vergessen wird. Galán meldet sich, mit einem Dolmetscher: Ob Mohsen nicht nach Spanien kommen möchte, nach Madrid? Zu einer Trainerschule? Mit Arbeitsvertrag und Sprachkurs und Wohnung? Mohsen sagt, ihm sei fast die Sprache weggeblieben.
Mohsen traf in München seinen Sohn Mohammad, der sich bis dort allein durchgeschlagen hatte. Gemeinsam fuhren sie mit dem Zug nach Madrid. Miguel Galán hatte eine Feier zur Ankunft der drei im Bahnhof Puerta de Atocha organisiert. Der Superstar Cristiano Ronaldo würde sich Tage später mit Mohsen fotografieren lassen. Said, Mohsens kleiner Sohn, durfte sogar mit Ronaldo bei einem Spiel im Stadion einlaufen. Ein Happy End, vorläufig.
Einige Wochen später sitzt Osama Abdul Mohsen auf einem knarrenden Stuhl unter einer funzeligen Wohnzimmerlampe, in einer kleinen Wohnung in einem Vorort von Madrid, die Wohnung hat man ihm zugewiesen.
Die Kinder, Said und Mohammad, hat er zu Bett geschickt, morgen ist wieder Schule. Und er, Mohsen, müsste eigentlich noch die Küche in Ordnung bringen, abwaschen, aufräumen, den Müll runterbringen. Aber er ist zu erschöpft. Dieses Saubermachen hat er nie geübt, es gab immer seine Mutter, dann seine Ehefrau, die das erledigten. Arabische Männer stehen nicht oft in der Küche.
Die beiden anderen Kinder, der siebenjährige Said und der ältere Mohammad, sind nun bei Mohsen in Madrid. Er gibt sich Mühe. Er kann ein wenig kochen, Rührei mit Tomaten ist seine Spezialität. Bohnen mit Huhn kriegt er ebenfalls hin. Aber die Küche sieht danach aus wie ein Sturmschaden.
Mohsens Wohnung liegt in der Calle de Madrid, in Getafe, einem Vorort der spanischen Hauptstadt. Die Leute vom landesweiten Verband der Fußballtrainer, „Cenafe Escuelas“, haben ihm die Wohnung beschafft, ausgestattet, Bettzeug, Handtücher, Küchenutensilien, Stühle, einen Fernseher. Sie waren es auch, die ihm eine Arbeitserlaubnis besorgten und eine Anstellung gaben. Offiziell soll er eine Abteilung aufbauen, die Kontakte zu arabischen Fußballverbänden knüpft.
Der Job ist Fassade, noch jedenfalls. Mohsen weiß, er muss erst mal die Sprache lernen, was ihm schwer genug fällt. Aber wenigstens kriegt er ein Gehalt, knapp 2000 Euro, und abzüglich der Ausgaben für Miete und Essen bleiben ihm 200 oder auch mal 300 Euro, die er seiner Frau schicken kann. Ansonsten muss er daran arbeiten, hier anzukommen.
Denn angekommen ist er noch nicht. Auch wenn Getafe, Spanien, jetzt seine Heimat ist. Doch er hätte nicht gedacht, sagt er, wie fremd und andersartig diese Welt hier sei.
Während seine Söhne sich gierig in ihr neues Dasein fallen lassen, spanische Vokabeln aufschnappen, lernen, wie Paella schmeckt und wie das mit dem Flaschenpfand funktioniert, kann ihr Vater noch immer nicht nach dem Preis für ein Pfund Tomaten fragen. Er hat dieser Tage die Verben auf -er und -ar gelernt. Doch wenn drei Spanier laut und schnell durcheinanderreden, dann versteht er nichts. „Als würden Steine auf mich regnen, so klingt es“, sagt er.
Manchmal, am Samstagnachmittag oder am Abend, geht er zu der Getafe-Sportanlage, wo ein Dutzend Mannschaften trainieren, aber dort drückt er sich herum wie ein Fremder. Keiner kennt ihn, grüßt ihn, er wird nicht zu Rate gezogen, er ist nur Zuschauer.
Zum Fußballgucken bevorzugt Mohsen das Café Marroquin in der Calle Doctor Barraquer. Hier sitzen Marokkaner, Ägypter, Tunesier, nur Männer, sie sitzen vor dem Flachbildschirm und schlürfen Pfefferminztee, stark gesüßt, oder rühren mit klimpernden Löffeln in ihren Mokkatassen. Hier wird Arabisch gesprochen, wie ein Baldachin spannt sich die gemeinsame Sprache über den Köpfen der Männer, das Gemurmel schwillt nur an, wenn ein Tor fällt.
Es gäbe zig andere Cafés, die von Mohsens Wohnung bequemer zu erreichen wären. Aber im Marroquin wird er als Freund begrüßt. Er schüttelt Hände, klopft auf Schultern, genießt das weiche „Salam alaikum“ statt des einschüchternd hingezischten „Buenos días!“.
Mohsen weiß, dass es keine Lösung wäre, in einer Parallelkultur unterzuschlüpfen – jedenfalls nicht, wenn er als Fußballtrainer arbeiten will. Er muss in dieser anderen Welt ankommen, in Europa, in Spanien.
Seine Ängste und Bedenken behält er für sich, meistens. Andere Flüchtlinge aus Syrien leben in Zelten oder Notunterkünften, in Beirut ziehen sie bettelnd durch die Straßen. Dagegen ist er ein Luxusflüchtling, der Vorzeigesyrer, so ist er schon genannt worden. Er ist zu einer Symbolfigur geworden: Andere Flüchtlinge rufen ihn an, bitten ihn um Hilfe, halten ihn für einen Mann mit Einfluss.
Kurze Zeit gab es auch andere, böse Gerüchte um ihn, die sich im Netz verbreiteten. Der berühmte Flüchtling sei ein Sympathisant der radikalislamischen Nusra-Front, hieß es da. Er sei beteiligt gewesen an einer Gewaltaktion gegen die Kurden. „Ich habe damit nichts zu tun, ich lehne Gewalt grundsätzlich ab“, sagt Mohsen dazu. Wehren konnte er sich nicht gegen diese Anschuldigungen ohne jegliche Beweise.
Osama Abdul Mohsens derzeitiges Leben ist auch eine Art Testlauf, ein öffentlich zu beobachtendes Experiment für Integration. Wenn es nicht mal ihm gelingt, hier erfolgreich anzukommen, mit all der Unterstützung, dem Wohlwollen seiner Gönner, wie soll man es dann von anderen Flüchtlingen verlangen?
Mohsen bekam eine Wohnung, Möbel, Sprachkurs – ansonsten überließ man ihn sich selbst. Er hat 50 Jahre in Syrien gelebt, sein Leben dort hat ihn nicht auf Europa vorbereitet. Er brauchte jetzt Geduld, Kraft, doch diese Ressourcen hat er in den vergangenen Jahren aufgebraucht. Er wirkt jetzt oft einsam.
Vor ein paar Tagen hat er erfahren, dass sein sehnlichster Wunsch wohl erst mal nicht in Erfüllung gehen wird, dass es Probleme gibt, seine Frau und seine beiden anderen Kinder nachkommen zu lassen. Das spanische Einwanderungsgesetz verlangt ein polizeiliches Führungszeugnis, einen Nachweis der Familienzugehörigkeit und eine Personenidentifikation. Diese Papiere könnte nur die syrische Botschaft in Ankara ausgeben.
Doch dort weigert man sich, nicht sehr überraschend, Mohsens Frau zu empfangen. Ohne die Dokumente aber wollen die Spanier den Familiennachzug nicht erlauben. Die Regierung ist da ganz streng, will keine Ausnahmen zulassen, um die sechsköpfige Familie zusammenzuführen.
Noch kurz vor Weihnachten lud Galán vom spanischen Trainerverband gemeinsam mit seinem Schützling Mohsen zu einer Pressekonferenz. Im Namen von Mohsen hat der Verband einen Brief an den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy geschrieben und ihn aufgefordert, ein beschleunigtes Asylverfahren für die Familie einzuleiten – fraglich, ob es etwas nützt.
Galán besorgte Mohsen Flugtickets; damit er seine Familie in der Türkei nach mehr als vier Monaten wenigstens für ein paar Tage sehen kann.
„Said fragt sehr oft nach seiner Mama“, sagt Mohsen. Der Nachzug seiner Familie war für ihn die Voraussetzung für das, was sie alle hier Integration nennen, endlich ankommen.
Andererseits, sagt er, leben sie noch, seine Frau, seine Kinder, auch er, und dafür sei er dankbar, so viele seien tot. Über Weihnachten ist er zu seiner Familie geflogen, nach Mersin, mit den beiden Söhnen. Aber irgendwann müssen sie wieder zurückkehren, nach Spanien, in ihr neues, fremdes Leben.