„Der Wahnsinn war Teil des Konzepts“
Er hing mit Mick Jagger ab, John Lennon brachte ihm das Bier: Der prominente britische Popjournalist Roy Carr war mit den Weltstars per Du. Im einestages-Interview erzählt er, welcher Popgott nervte – und was mit dem Batzen Geldscheine passierte, den ihm Keith Moon einfach so in die Hand drückte.
SPIEGEL: Mr. Carr, Sie gelten als der große, alte Mann des britischen Popjournalismus, haben Ihr Leben der Popmusik gewidmet. War es das wert?
Carr: Absolut! Ich bin jetzt 70 und habe die letzten 50 Jahre ständig über Musik und Musiker geschrieben und mich nie gelangweilt – naja, bis auf eine Ausnahme.
SPIEGEL: Welche Ausnahme?
Carr: Das war in Las Vegas, als ich auf ein Interview mit Elvis Presley wartete, sechs, sieben Tage lang, immer wurde ich vertröstet, da kam meine Begeisterung dann doch ins Wanken. Aber mit allen anderen Musikern kam ich bestens zurecht.
SPIEGEL: Mit wem zum Beispiel?
Carr: Sie wollen berühmte Namen hören? (lacht)
SPIEGEL: Unbedingt!
Carr: Na ja, mit allen, die damals einen eigenen Stil suchten, es war eben die Zeit. Mit John Lennon und Paul und George war ich sehr vertraut, ich hing mit Mick Jagger und Keith Richards rum. Ich hatte ja auch meine Band, wir traten mal als Vorgruppe der Stones auf. Und mit Keith Moon von The Who war ich befreundet. Die Zeiten waren eben so.
SPIEGEL: Wie denn?
Carr: Stars wurden noch nicht von solch einer Entourage abgeschirmt, nehmen Sie Lennon. Etwa 1972, in New York, die Beatles hatten sich getrennt, er spielte mit Yoko und allen möglichen Leuten. Ich kam nach seinem Konzert im Madison Square Garden in mein Hotel, da finde ich einen Zettel: „Johnny Rhythm hat angerufen, bitte zurückrufen.“
SPIEGEL: Johnny Rhythm?
Carr: Das war Lennon. Er spielte gerne solche geheimnisvollen Spielchen. Er gab mir eine Adresse durch, und eine halbe Stunde später klopfe ich an die Tür seiner Suite im 30. Stock im Americana. Eine tolle Party war im Gange, und Lennon holte mir ein frisches Bier, das war toll …
SPIEGEL: War es kein Problem, dass Sie ständig mit Millionären zu tun hatten?
Carr: Für mich nicht. Man darf nur eine bestimmte Grenze nie überschreiten …
SPIEGEL: Was für eine Grenze?
Carr: Zum Beispiel war ich mit Keith Moon in Paris. Wir gingen ins Crazy Horse. Keith war so lustig, irgendwann gab er mir sein ganzes Geld, einen Batzen Scheine: „He, halt das mal.“ Ich würde sagen, es war so viel, wie ich in einem halben Jahr verdiente. Oder in einem Jahr.
SPIEGEL: Aber Sie durften es nicht behalten.
Carr: Genau, ich gab es ihm am nächsten Morgen zurück. Und er fragte: „Wo kommt das Geld her?“ Solche Situationen gab es oft. Keith war ein toller Typ, immer gut für schräge Momente.
SPIEGEL: Können Sie sich an eine erinnern?
Carr: Ich kann mich an ganz viele erinnern! Keith rief mich an, er hatte gehört, dass ein berühmter Jazz-Schlagzeuger in der Stadt sei – also, in London. Er kannte ihn nicht, Jazz war eine andere Welt. Aber es war Philly Joe Jones, ich glaube, er hieß „Philly“, weil er aus Philadelphia kam. Er gab Unterricht. Und er war wirklich phantastisch. Aber Keith hörte diesem eher präzisen, akademischen Unterricht eine Weile zu, dann setzte er sich ans Schlagzeug und fing an, wie ein Irrer draufzuhauen, rumzutrommeln. Ich meine, er war wirklich gut, aber er spielte total unorthodox, der Wahnsinn war Teil des Konzepts. Und er zerdrosch die Stöcke, und vielleicht auch das eine oder andere Fell. Und Jones hörte ganz ruhig und konzentriert zu, und dann fragte er Keith Moon, wie viel er im Jahr mit dieser Art von, nun ja, Musik verdiene. Und Keith antwortete. Er nannte die Summe, die wirklich hoch war, The Who waren damals sehr angesagt.
SPIEGEL: Und Jones?
Carr: Der nickte und sagte: „Das will ich dir nun wirklich nicht versauen!“ Und Keith lachte, und dann gingen wir.
SPIEGEL: Sie haben viele Interviews damals aufgenommen.
Carr: Ja, auf Kassetten und Tonbändern, die geben allmählich ihren Geist auf, werden altersmürbe, deshalb ja das Buch.
SPIEGEL: Ein Buch mit Anekdoten und vier CDs, auf denen Ihre Interviews von damals zu hören sind …
Carr: Es war wirklich mühsam, die alten Bänder zu schneiden und so zu bearbeiten, dass das Material verständlich ist. Aber ich bin zufrieden. Es ist vielleicht auch ein Stück Zeitgeschichte.